Der Tiroler Volksaufstand im Kontext der Konflikte des beginnenden 19. Jahrhunderts
von Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle
Analoge Konflikte in Tirol und in Altbayern
Mit diesem Beispiel wollte ich zeigen: Eine Pluralität der Geschichtsbilder und der Geschichtsdeutungen mag zwar auf den ersten Blick verwirrend sein. Aber sie ist etwas Sinnhaftes und intellektuell Gebotenes. Wenn wir also von der Komplexität der Verhältnisse wie der Komplexität der Anschauungen ausgehen, dann werden wir zunächst feststellen: Zwischen Bayern auf der einen, Tirol auf der anderen Seite verlief gar keine hermetische kulturelle Grenze mit dem aufgeklärten Etatismus auf der einen Seite und alteuropäischer Spiritualität auf der anderen.
Einer der großen europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts war Kaiser Josef II., der Sohn der Maria Theresia und ihr Nachfolger als Monarch in den österreichischen Erbländern. Die teilweise rabiaten, auch und vor allem gegen kirchliche Traditionen gerichteten Vorgehensweisen des Kaisers wurden in Tirol durchaus mit großer und kritischer Distanz gesehen. Und umgekehrt kann man feststellen: Die in herkömmlicher Landeskultur wurzelnde Volksfrömmigkeit mit ihren unzähligen Bräuchen, Wallfahrten und Feiertagen war auch in den altbayerischen Regionen elementar verwurzelt. Und auch dort brach durchaus der Konflikt zwischen Vormoderne und Moderne auf.
Nur war, neben mancherlei anderen Unterschieden, in den bayerischen Kernregionen die wittelsbachische Dynastie seit mehr als 600 Jahren, seit 1180, vertraut und unbestritten. Und doch: Die Reformmaßnahmen des allmächtigen Ministers Montgelas fanden auch in Altbayern, um es milde auszudrücken, oft wenig Akzeptanz. Das Gleiche gilt für die im Lande bis heute vielfach intensiv diskutierte Aufhebung der Klöster und für die Säkularisation.
Ich darf Ihnen zu all dem ein Beispiel geben, das in meiner eigenen Heimatstadt München spielt. Es ist der im letzten Jahr erschienenen Geschichte der bayerischen Landeshauptstadt aus der Feder des Historikers Peter-Claus Hartmann entnommen. Hartmann ist selbst ein Historiker, der dem katholischen Alteuropa wie dem 1806 auf Druck Napoléons aufgehobenen Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) eng verbunden ist.
Wallfahrten an Werktagen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts verboten worden. Gleichwohl drängten am Pfingstdienstag 1802 Wallfahrer der Marianischen Bürgerkongregation aus Andechs kommend durch das Sendlinger Tor in die Münchner Innenstadt. Als ihnen von Regierungsvertretern der Eintritt verwehrt werden sollte, kam es zu Handgreiflichkeiten. Über die weiteren Ereignisse schreibt Hartmann: »Die kampfeswilligen Wallfahrer beleidigten sogar den Polizeidirektor und stießen ihn beiseite. Hierauf ließ die Regierung die Kürassiere von der Isarkaserne, ferner Infanterie und Kavallerie aufmarschieren und rigoros eingreifen, einige Männer verhaften und die Stadttore schließen. Die Angelegenheit hatte weiter Folgewirkungen, da nun Handwerksburschen revoltierten und die Arbeit niederlegten […]. Massenweise setzten sie sich aus Protest auf die Sendlinger Straße. Hierauf brachte die Regierung sogar Kanonen in Stellung und drohte mit militärischer Gewalt.«
Das andere, das moderne Tirol
Die zweite Überlegung, an der mir liegt, ist folgende: Tirol kann seiner genuinen Entwicklung nach und auf eine sehr spezifische Weise zugleich als ein sehr modernes Land angesehen werden. Die Historiker bezeichnen so etwas gerne als die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Gemeint ist damit zunächst, dass im Vergleich zwischen Regionen und Nationen die verschiedenen großen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen keineswegs im gleichen Rhythmus ablaufen.
Für das Deutschland des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts hatte man vielfach davon gesprochen, es habe sich wirtschaftlich beschleunigt modernisiert, habe aber keineswegs parallel zu einer zeitgemäßen Verfassungsentwicklung mit starkem Parlament gefunden. Manche Historiker vor allem der frühen Siebziger Jahre gingen noch weiter. Sie bescheinigten dem Land, es habe einen – gegen den großen Trend im europäischen Westen gerichteten – Sonderweg verfolgt, mit einer autoritär-monarchischen Staatsordnung und den bekannten weiteren fatalen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Heute wird hier manches viel differenzierter gesehen. Dabei wird etwa auf die besondere und positive Entwicklung des Föderalismus in Deutschland – wie auch in Österreich – verwiesen, beide Nachfolgestaaten des Heiligen Römischen Reiches.
Und im Blick auf Österreich bzw. Österreich-Ungarn wird ohnehin vielfach die Auffassung vertreten: Es sei zwar naturgemäß kein Nationalstaat gewesen und so am Ende den vermeintlich modernen Tendenzen auf unserem Kontinent zur Nationalstaatsbildung erlegen. Die weitere Entwicklung nach 1945 mit der Relativierung des europäischen Nationalstaates des 19. Jahrhunderts und mit dem Übergang zur europäischen Integration habe indessen demonstriert: Diese letzte vormoderne Großmacht Europas, Österreich-Ungarn, sei in mancherlei Hinsicht vielleicht nicht nur die europäischste, sondern auch die mit dem größten Zukunftspotenzial gewesen.
Es sei ihre Tragik gewesen, zu früh an ihr Ende gelangt zu sein, bevor neue Zeittendenzen sie wieder hätten bestärken können. Wer so argumentiert, verweist gerne auf den großen österreichischen Dramatiker Franz Grillparzer und sein Wort, Europa werde durch die Verabsolutierung des nationalen Prinzips in der Bestialität enden.
Was nun Tirol unmittelbar anbelangt, so kann man mit gutem Grund argumentieren, dass das Land seit der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit Strukturen besaß, die den Ständen, insbesondere den Bauern im Land, in einem Maße Freiheit wie Partizipation eröffneten, das in Europa beispielhaft war. Der österreichische Historiker Hermann Wiesflecker nennt in seiner Darstellung Österreichs im Zeitalter Kaiser Maximilians I. – also gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts – zentrale Faktoren, die diese Besonderheit ausmachen.
Zum einen das berühmte „Landlibell“ aus dem Jahre 1511. Es ordnete die Tiroler Wehrverfassung für die nächsten 350 Jahre und bestimmte gewissermaßen die »Milizverfassung« Tirols. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen durch ein Gesetz vom September 1814 ist in Deutschland stets als ein Akt großen staatsbürgerlichen Fortschritts gefeiert worden. Das Land sollte nicht mehr durch gekaufte Söldner wie im 18. Jahrhundert, sondern durch seine Bürger selbst verteidigt werden, die sich mit ihrer Heimat identifizierten. Der Tiroler Kampf um die eigene Identität des Jahres 1809 wurde hingegen bereits weitgehend nach Regeln, Strukturen und Vorstellungen geführt, auf die man in Preußen mit der Einführung der Landwehr unter dem Druck der napoleonischen Herrschaft erst sehr viel später verfiel.
Der zweite Faktor ist der Status des Bauern im Land. Hierzu schreibt Wiesflecker: »Die Tiroler Bauern erfreuten sich einer sehr günstigen rechtlichen Lage.«[2] Sie besaßen ihren Hof mit einem rechtlichen Status, der dem freien Eigentum fast gleich kam. Und sie unterstanden vor Gericht unmittelbar dem Landesfürsten, sodass es einem Grundherren kaum möglich war, eine strikte Herrschaft über seine Bauern auszuüben. An deren Stelle trat die Selbstverwaltung der freien Gemeinden. Peitsche und Prügelstock des Grundherren waren in Tirol unbekannt. Auch hier war Tirol etwa dem ostelbischen Preußen mit seiner Gutsherrschaft, mit Leibeigenschaft und dann im 19. Jahrhundert vielfach dem Status proletarisierter Landarbeiter sozusagen um historische Lichtjahre voraus. Hinzu kommt: Auf dem Tiroler Landtag spielte der Bauernstand eine bemerkenswerte und ausgeprägte Rolle.
So war Tirol, bei allen Vereinheitlichungstendenzen in der habsburgischen Ländermasse, doch ein Sonderfall unter dem »milden Szepter Österreichs« mit besonderem Landrecht und besonderem Status für die Landbevölkerung. Damit war es in der Summe der genannten Faktoren vielleicht eben nicht zurückgeblieben, sondern auf eine sehr spezifische Weise moderner als der spätabsolutistische moderne Verwaltungsstaat. Dieses »Narrativ« würde also im Ergebnis lauten: Das Land verwies bereits auf eine viel spätere freiheitlich-plurale Zukunft in Europa.
Und etwas überspitzt formuliert: Der Gedanke der Subsidiarität, den Bayern wie Österreich heute in der europäischen Integration – mit manchmal größerem und manchmal geringerem Erfolg – den Brüsseler Institutionen und Akteuren nahebringen wollen: Dieser Gedanke war in mancher Hinsicht schon gelebte Praxis im alteuropäischen Tirol.
Umso mehr musste es den Tirolern inakzeptabel erscheinen, dass ihr Land als Teil des Königreiches Bayern seine Eigenheiten verlor. Es büßte sogar seinen Namen ein, hieß nur mehr „Südbayern“. Und die im administrativen Sinn eigentlich fortschrittliche bayerische »Konstitution« vom 1. Mai 1808 schien Tirol förmlich gleichzuschalten. Schließlich hatte es in Bayern bereits seit 1799 die Modernisierungspolitik von Montgelas
Bayern und Tirol im historischen Längsschnitt
Von einem Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus erwarten Sie, so will ich vermuten, zwar auch allgemeine Reflexionen über »Aggregatszustände« zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert, aber ebenso, wie schon angedeutet, Bemerkungen zur engen Nachbarschaft zwischen Bayern und Österreich, Bayern und Tirol in einer wechselvollen, tausendjährigen Geschichte.
Nähe, Verwandtschaft, kulturelle Vertrautheit, schließlich eine sehr nahe geostrategische Positionierung an einer Schlüsselstellung im südlichen Mitteleuropa mit den Alpenübergängen – diese Faktoren haben entscheidend dazu beigetragen, dass Bayern und Österreich mit Tirol als Land und Region von herausragender Bedeutung in traditionell engsten Verbindungen standen und stehen. Genau wie in den Naturwissenschaften bedeutet engste Verbindung auch über die historischen Zeitstrecken Reibungswärme, Gemeinschaftlichkeit und Austausch auf der einen Seite, aber auch den Konflikt auf der anderen. Lassen Sie mich diese Phänomene anhand eines Streifzugs durch die Zeitläufe ausführen.
Mit dem »Privilegium minus« von 1156 scheidet das Herzogtum Österreich endgültig aus dem Staatsverband des Bayerischen Herzogtums aus. Im Spätmittelalter machten dann die Habsburger das Rennen um Tirol und stachen die bayerischen Wittelsbacher aus:
Am 26. Januar 1363 beurkundet Herzogin Margarethe Maultasch den Übergang des Landes an die habsburgisch-österreichische Ländermasse. Die Wittelsbacher wehren sich dagegen. Denn Tirol hat zum einen eine geostrategische Schlüsselstellung nach Süden. Zum anderen ist es nach den Maßstäben der Zeit ein durchaus wohlhabendes Land. Der endgültige wittelsbachische Verzicht auf Tirol erfolgt dann aber 1369 im Frieden von Schärding und wird den Münchnern mit einer Zahlung von 116.000 Gulden durch die Habsburger einigermaßen schmackhaft gemacht.
Knapp eineinhalb Jahrhunderte später kommt es zum Bayerischen Erbfolgekrieg. In ihm mischt Kaiser Maximilian kräftig mit – schon allein, um für die Interessen der eigenen Dynastie etwas herauszuschlagen. Bis dahin ist unter anderem Kufstein noch Teil Bayerns. 1504 wird die Festung von Maximilians Truppen erobert. Das Ende des Bayerischen Erbfolgekrieges kurz darauf bringt für Tirol und mit ihm für die Habsburger den Gewinn der Gerichte Kufstein, Rattenberg und Kitzbühel und damit insgesamt die strategische Schlüsselstellung am Ausgang des Inns aus der unmittelbar alpinen Zone. Man könnte allerdings scherzhaft hinzufügen: Teile der Münchener „Schickeria“ haben mit ihren kulturellen Eigenarten inzwischen zumindest Kitzbühel zurückerobert.
Die Schlüsselstellung Tirols für die habsburgische Großmachtbildung zeigt sich schon bei den weiteren Unternehmungen Kaiser Maximilians: Gemeint sind seine Feldzüge in der Lombardei gegen die Franzosen um Mailand wie, im Bündnis mit den Franzosen, gegen Venedig – ein insgesamt verwirrendes, in den Details gar nicht nachzuvollziehendes Geschehen, das aber einmal mehr die zentrale Position Tirols demonstriert.
Schließlich der Dreißigjährige Krieg 1618 bis 1648. In ihm sind München und Wien eng aufeinander angewiesen: Herzog Maximilian, das Haupt der katholischen Liga, sichert Kaiser Ferdinand II. den Erfolg der Schlacht am Weißen Berg bei Prag, hilft ihm entscheidend in den Kämpfen gegen deutsche Protestanten, Schweden und Franzosen und gewinnt als Gegenleistung die Kurfürstenwürde für die Münchener Linie der Wittelsbacher.
Was nun das Jahr 1809 mit dem Tiroler Volksaufstand betrifft, so hat es in der Tiroler Erinnerung einen ähnlichen Stellenwert wie das Jahr 1705 mit der „Sendlinger Mordweihnacht“ im bayerischen Gedächtnis. In beiden Fällen sehen wir uns mit der historischen Erfahrung konfrontiert, dass der Nachbar als Aggressor, als Unterdrücker und Hegemonialmacht in Erscheinung tritt. Am 12. September 1683 hat der bayerische Kurfürst Max Emanuel den habsburgischen Kaiser Leopold noch wirkungsvoll bei der Abwehr der osmanischen Belagerung Wiens in der Schlacht am Kahlenberg unterstützt. Ohne die Hilfe von außerhalb, insbesondere durch die Polen, die Bayern und die Sachsen, wäre die Kaiserstadt damals mit Sicherheit den Truppen des osmanischen Großwesirs Kara Mustafa zum Opfer gefallen. Und wie sich die österreichische, die deutsche und die europäische Geschichte dann gestaltet hätten, kann niemand von uns sagen.
Zwanzig Jahre später ist das Bild ganz anders: Bei Ausbruch des Spanischen Erbfolgekrieges 1701 tritt Kurfürst Max Emanuel, der seine eigenen Anwartschaften durch die Habsburger hintergangen sieht, auf die französische Seite König Ludwigs XIV.
Die französisch-bayerische Allianz erleidet 1704 die vernichtende Niederlage bei Höchstädt an der Donau gegen die verbündeten Österreicher und Briten unter deren genialen Feldherren Prinz Eugen und dem Herzog von Marlborough. Das bayerische Oberland wird nun nicht nur von den Österreichern besetzt, sondern extrem restriktiv verwaltet. Es sieht sich gedemütigt und ausgebeutet. Eineinhalb Jahre später, am 24. Dezember 1705, kommt es zur „Sendlinger Mordweihnacht“ am südlichen Stadtrand der bayerischen Landeshauptstadt. Den aufständischen Bauern aus dem bayerischen Oberland gelingt es nicht, in die Stadt einzudringen. Sie werden am Heiligen Abend von weit überlegenem österreichischem Militär umzingelt und zu Tausenden schonungslos getötet. In der historischen Seele Bayerns hat diese Mordweihnacht bis in unsere Gegenwart einen zentralen Platz. Es geht um das Trauma des Unterdrückten wie des Unterlegenen – ein historisches Muster, dem wir vielfach begegnen.
[1] Peter Claus Hartmann, Münchens Weg in die Gegenwart. Von Heinrich dem Löwen zur Weltstadt, Regensburg 2008, S. 131.
[2] Hermann Wiesflecker, Österreich im Zeitalter Maximilians I. Die Vereinigung der Länder zum frühmodernen Staat. Der Aufstieg zur Weltmacht, Wien-München 1990, S. 188.