Von Heines Napoleon zu Hegels Napoleon

von Norbert Waszek

Einleitung

»Heine und Napoleon« ist seit langem ein wichtiger und intensiv bearbeitetes Thema der Heineforschung. In der Tat hat sich Heine, in den Worten Gerhard Höhns, »mit keiner anderen politischen Gestalt der Zeitgeschichte so intensiv beschäftigt, wie mit Napoleon. Unter den älteren Studien wäre zunächst an Paul Holzhausens Buch von Anfang des 20. Jahrhunderts zu erinnern, welches eine detaillierte entwicklungsgeschichtliche Analyse der verschiedenen Stadien von Heines Auseinandersetzung mit Napoleon bietet. Die neuere Literatur wird in Höhns Handbuch erschlossen. Ist es angesichts der reichen Forschung auch nicht leicht, zu Heine und Napoleon etwas Originelles zu sagen, so dürfte Heines Auseinandersetzung mit Napoleon für das Rahmenthema dieser Tagung dennoch unverzichtbar sein. Eine von Diltheys entwicklungsgeschichtlichen Ansatz inspirierte, vollständige Abfolge von Heines Napoleon-Bildern und Deutungen kann im Rahmen eines kurzen Beitrags nicht geleistet werden, denn dazu müsste ein ganzes Buch geschrieben werden. Es gilt also, eine Auswahl zu treffen, die einleitend präzisiert und begründet werden soll.

Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen soll Heines Werk »Ideen. Das Buch Le Grand« stehen. Erstens kann diese Entscheidung über den besonderen Status dieses Textes begründet werden. Jeffrey Sammins hat Heines »Ideen« nachdrücklich als »das geglückteste Prosastück seiner Jugendzeit, wenn nicht gar seines ganzen Lebens« bezeichnet, womit Ernst Elster anknüpfte, der bereits von einem »Gipfel unter Heines Prosawerken« sprach. Auch Heine selbst äußerte sich in mehreren Briefen sehr befriedigt, ja manchmal geradezu begeistert über das Gelingen dieses Teils seiner »Reisebilder«.[1]

Ein zweiter Grund für die Konzentration auf die »Ideen« liegt darin, dass Heine selbst bezeugt hat, wie zentral die Beschäftigung mit Napoleon für diesen Text ist. In einem Brief an Friedrich Merckel (vom 10.01.1827) schrieb er in diesem Sinne:

Das Buch wird viel Lärm machen, nicht durch dien Privatskandal, sondern durch die Großen Weltinteressen, die es ausspricht. Napoleon und die französische Revolution stehen darin in Lebensgröße.[2]

In diesem Zusammenhang sollte auch darauf hingewiesen werden, das Heine Vorabdrucke des Abschnittes über Napoleon fast gleichzeitig mit »Reisebilder II« in zwei Zeitschriften erscheinen ließ – dem »Mitternachtsblatt für gebildete Stände« in Braunschweig und den »Neuen allgemeinen politischen Annalen« in München -, wohl ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig ihm seine Ansichten über Napoleon damals waren.

Mit der dritten Begründungsweise der Textauswahl wird schon die spezifische Behandlungsweise berührt, die das Thema in den folgenden Ausführungen erfahren soll. Es soll in ihnen nämlich auch untersucht werden, inwieweit Heine bei seiner Darstellung Napoleons auf Motive aus Hegels »Geschichtsphilosophie« zurückgreift. Auch unter dieser Perspektive ist »Das Buch Le Grand« ein privilegierender Text, zunächst schon wegen der zeitlichen Nähe, in welchem es zu Heines Berliner Aufenthalt und zu seinem persönlichen, aber auch indirekten Umgang mit dem Philosophen steht.

Dieser Punkt bietet auch Anlass, die Chronologie ins Gedächtnis zu rufen, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Als Napoleon in Düsseldorf einzog (03.11.1811), war Heine fast vierzehn; in der Waterloozeit (18.06.1815) war er siebzehn. Und als Napoleon auf St. Helena starb (05.05.1821), war Heine 24 Jahre alt und vor einigen Wochen (genauer am 20.03.1821) in Berlin eingetroffen, um dort sein Studium fortzusetzen, nachdem er im Zuge einer Duellaffäre die Universität Göttingen hatte verlassen müssen. Heines gut zweijähriger Aufenthalt in Berlin (Abreise am 19.05.1823) wurde durch seine Polenreise im Sommer 1822 unterbrochen. Hegel befand sich ab Oktober 1818 in Berlin, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn angekommen. Im Wintersemester 1822/23 als Heine noch in Berlin war, hielt Hegel erstmals seinen später in zweijährigen Turnus wiederholten Vorlesungszyklus über die Philosophie der Weltgeschichte.


[1] Vergleiche seine Briefe an Joseph Lehmann (16.12.1826), an Friedrich Merckel (06.10., 16.12.1826; 10.01.1827) und an Moses Moser (14.10.1826; 09.06.1827)

[2] Ein französischer Kollege hat dieses Zitat zum Titel eines gelungenen Aufsatzes gewählt; René Anglade: Napoleon und die französische Revolution stehen darin in Lebensgröße. »L’Allemagne de la Restauration dans le Miroir de la Révolution«. In Ders. (Hg.): Reisebilder de Heinrich Heine: lectures d’une ceuvre. Paris 1998, S. 51-83


Letzte Änderung der Seite: 06. 05. 2022 - 23:05