Spätfeudale Zwergenreiche
von Hellmut G. Haasis
Die Zersplitterung Deutschlands galt schon den Zeitgenossen entscheidende Erschwernis für eine Revolutionsbewegung. 300 souveräne und 1500 halbsouveräne Herrschaften ließen ein einheitliches Handeln nicht zu, weder bei den Machthabern noch bei den Untertanen. Über den winzigsten Reichen thronten die Reichsritter, die im deutschen Südwesten besonders häufig vertreten waren. Politisch handelte es sich um Scheinexistenzen, aber auf ihren Untertanen lasteten sie doch schwer. So verrottet die Zustände auch waren, revolutionäre Potenzen konnten dort nicht wachsen, eher wurde die Rückständigkeit der wirtschaftlichen und kulturell-geistigen Verhältnisse immer schwerer überwindbar.
Diese allgemein gehaltenen Bemerkungen sollen durch drei Ortsschilderungen mit Leben gefüllt werden. Über diesen Schilderungen liegt ein Schimmer von Ironie, mit dem spürbaren Aufatmen: Gott sei dank, wir haben's hinter uns. Die Berichte aus Zwergenreichen sind Jahrzehnte später geschrieben, beide Autoren haben sich durch den Aufstieg in einem größeren Staat zu befreien vermocht. Einst fanden sie das Leben in einem halbsklavischen Ländchen gar nicht so lustig.
Seine geistliche wie politische Laufbahn begann Johann Gottfried Pahl (1768—1839) — zur Jakobinerzeit stand er auf der Seite der Liberalen unter den württembergischen Demokraten, aber nicht bei den Revolutionären — 1790 als evangelischer Pfarrer in Neubronn. Er blieb dort bis 1800. Das Dorf liegt 10 km nordwestlich von Aalen, zwischen dem Kocher und der Lein, am Ostrand der Frickenhofer Höhe, heute ein Teil der Gemeinde Abtsgemünd.
Das Dorf, in dem während meines dortigen Lebens einige neue Häuser gebaut und die meisten alten erneuert oder vergrößert wurden, bildet nur eine geräumige Straße, an deren westlichem Ende das herrschaftliche Schloß liegt, von gefälligen Gartenanlagen umgeben. Die gegen Mitternacht [Norden] sich hinziehende Höhe besteht meistens aus fleißig gebautem, die Arbeit durch Getreide und Futterkräuter reichlich lohnendem Ackerfeld; die Wiesen im Tal und an den Bergabhängen gewähren die Mittel zu der tätig betriebenen Viehzucht. An das Ackerfeld schloß sich damals ein nun gleichfalls durch mannigfaltigen Anbau des Bodens besser benützter, als Viehweide gebrauchter Eichwald an, in dem mehrere Grabhügel aus der fernen Römerzeit sich erhoben und an dessen Rande das gräflich Adelmännische Schloß Hohenstadt mit der ihm benachbarten ansehnlichen Kirche ein schönes Gegenüber bildet, während aus der Tiefe des Kochertals der Burgstall hervorragt, auf dem in den Tagen des Mittelalters das ritterliche Geschlecht der Haaken von Wöllstein hauste. (Pahl, S. 63)
Die Herrschaft über dieses Dorf übte die verwitwete Freifrau Generalin Karoline von Wöllwart aus, eine kauzige Gestalt, die nur über diesen Flecken zu kommandieren hatte. Die alte Frau galt mit einem auf 400.000 Gulden geschätzten Kapitalvermögen als reich.
Diese Dame konnte für die Repräsentantin einer Generation des ehemaligen reichsritterschaftlichen Landadels gelten, die zwar damals schon großenteils ausgestorben war, ohne daß aber ihr Geist von ihren Nachkömmlingen gewichen wäre, den diese jedoch in der in lichtern Regionen vorgerückten Zeit nicht mehr in seiner ganzen Fülle hervortreten zu lassen geraten fanden. Sie war zum klaren, oft und mit unsäglicher Zuversicht von ihr ausgesprochenen Begriff gekommen, daß Adel und gemeine Leute zwei spezifisch unterschiedene Rassen des Menschengeschlechts seien und daß dieser Unterschied auch im künftigen Leben fortdauern werde, und infolge dieses Begriffes sprach sie mit jedem, der nicht von Adel war, selbst mit Geistlichen und Beamten in der dritten Person der Einzahl, und ihre Untertanen betrachtete sie als ihre Sklaven, die nicht anders, als mit abgelegten Schuhen ihr Zimmer betreten durften. Da Personen weiblichen Geschlechts, die sich ihr nahten, nicht, wie es gewöhnlich war, ihren Rock küssen konnten, weil sie alle Audienzen im Bette erteilte, so mußte diese Huldigung dem Zipfel ihres Bettleilachs [Leintuch] bewiesen werden. In dem Wahne, daß sie umso höher stehe, je mehr sie ihre Umgebungen demütige, titulierte sie den Gärtner als Gartenknecht, den Schulmeister als Schulknecht, den Jäger als Waldknecht und den Amtmann als Schreiber. Ein benachbarter Edelmann, der ihr um ihres Geldes willen viel gute Worte gab, brachte ihr einst, von einer Reise nach Wien zurückgekommen, einen Gruß von der Kaiserin Maria Theresia, was sie für etwas Bekanntes annahm; und als derselbe spekulative Ritter sie einst versicherte, es leben gegenwärtig in Europa nur drei große Frauen, unvergleichbar in der Weltgeschichte, die besagte Kaiserin Maria Theresia, die Kaiserin Katharina von Rußland und die Freifrau von Wöllwart auf Neubronn nickte sie selbstgefällig lächelnd mit dem Kopfe. Wenn sie, der Schrecken ihrer Untertanen, manchmal in die vorderen Zimmer des Schlosses hervorschlich und in das Dorf hinaus spähte, floh jedermam in die Häuser und zwar die Kinder mit Angstgeschrei, als wäre Ein Gespenst unter ihnen erschienen.
Den größten Teil des Tages hindurch schlief sie; des Nachts aber hütete sie, bei wohlverschlossener Burg. ihre Schätze, umgeben von einigen Weibern aus der Gemeinde, die während Ihrer Wache auf die Rechnung der gnädigen Frau strickten und spannen und denen dieser Dienst mit einer Tasse faden Kaffees, ohne Zucker, vergolten wurde. Ihre Haushaltung war so sparsam eingerichtet, daß sie beinahe gar keinen Geldaufwand erforderte. Der Liedlohn ihres alten weiblichen Gesindel blieb als Ersparnis desselben in der herrschaftlichen Kasse depotiert; die Bedürfnisse der Tafel lieferte der Jäger und die Freigiebigkeit der Bauern, wenn sie das Winterschwein schlachteten; der Kauf von Schreibmaterialien ward dadurch umgangen, daß man die unbeschriebenen Blätter von eingelaufenen Briefen abschnitt und die Wachssiegel derselben wieder zusammenschmolz; es fanden sich nach dem Tode der gnädigen Frau mehrere mit gedörrtem Fleisch und Obst gefüllte Kästen, welche Gegenstände aber von Milben In Staub verwandelt waren. Nie ist eine Handlung der Wohltätigkeit von ihr kundgeworden, nur daß sie — in dem eiteln Bestreben, auch den Geruch der Heiligkeit um zu verbreiten — die Herrnhutischen Missionäre, die von Zeit zu Zeit auf dem Schlosse erschienen, immer mit reichlichen Geschenken entließ.
Indessen muß zur Steuer der Wahrheit gesagt werden, daß sie ihre Stellung als Gutsherrschaft nicht benützte, um auf Kosten ihrer Untertanen zu gewinnen, und daß Sie die Leitstungen, zu denen die letztern verpflichtet waren, auf keine Weise steigerte; dagegen wurde sie ihnen zur täglichen Plage durch ihr unaufhörliches Griesgramen, Zanken und Poltern, durch die Willkür; mit der sie, ein eigentliches Sklaventum unter ihnen realisierend und ihnen kein rechtliches Verhältnis anerkennend, in ihr Privatleben eingriff und über ihre häuslichen Umstände verfügte, und durch die Mißlaune und die Härte, die sie selbst in die gerechtesten Bewilligungen zu legen gewohnt war. (Pahl, S. 65-67)
Was uns an der Freifrau fast wie eine Parodie vorkommen mag, ist ein Menschentyp, der im Schwäbischen nicht aussterben will: ein Hypochonder, dem nichts paßt, ein unerträglicher Geizhals voller Menschenverachtung, freigebig nur gegen die Pietisten. Bildung mußte da zur Gefahr werden.
Auch die Frau von Wöllwart nahm von dem Kirchen- und Schulwesen auf ihrem Gebiete so viel als gar keine Notiz und war vollkommen zufrieden, wenn sich nur alles in dem einförmigen und lahmen Gang fortbewegte, der durch ein vieljähriges Herkommen zu Recht erwachsen war. Ich erinnere mich nur, eine einzige Zurechtweisung von ihr erhalten zu haben, als ich einst bei einer Hochzeit länger als gewöhnlich läuten ließ. »Dadurch», bemerkte sie, «werden die Glockenseile vor der Zeit abgenützt, und ihre Wiederherstellung kostet Geld. « Dagegen würde es aber an Widerstand nicht gefehlt haben, wenn ich mir Neuerungen in den verknöcherten kirchlichen Anstalten und Gebräuchen gestattet hätte oder wenn meine Bemühungen, ein neues Leben in der Schule anzufachen, zu ihrer Kenntnis gekommen wäre, weil sie fest darauf hielt, daß alles beim Alten bleibe, und weil sie sich mit allen großen und kleinen Dienstboten in die Maxime teilte, daß man die Bauern nicht zu gescheit werden lassen dürfe und daß namentlich Schreiben und Rechnen gefährliche Künste für sie seien. (Pahl, S. 69)
Das Zeitalter der Aufklärung, schon lange über dem Zenit, hatte solche abgeschiedenen Orte wie Neubronn nie gestreift. Neubronn zeigte sich als eine Gemeinde, in der Pahl
über den Aberglauben zu klagen hatte, von dem Alt und Jung ergriffen war und der durch die täglichen Berührungen mit den ringsum wohnenden Katholiken fortdauernd genährt wurde. Es gab auf dem Kirchturm, auf dem Begräbnisplatz, im Schlosse und in mehrern Gegenden des Feldes Gespenster, deren Dasein nicht bezweifelt werden konnte, da sich beinahe niemand im Dorfe fand, der nicht für einen Zeugen ihres Spukens hätte gelten können. Die Hexerei ging so sehr in Schwang, daß es nur wenige ganz unverdächtige alte Weiber gab, denen die böse Welt, im Stillen, selbst die gnädige Frau zuzählte. Da die meisten Krankheiten an Menschen und Vieh von diesen Unholden erregt wurden, so war es natürlich, daß man die Hilfe nicht bei den ordentlichen Ärzten, sondern zum Teil in weit entfernten Gnadenorten und Kapuzinerklöstern und den klugen Leuten suchte, welche die Kunst besaßen, das eine Hexenwerk durch das andere zu vertreiben. Viele Familien sahen sich durch althergebrachte Gelübde verpflichtet, ihre Ställe durch ein jährliches Opfer zu sichern, das dem Altare des heiligen Patricius, der als Patron des Viehs in einem wundertätigen Bilde in dem benachbarten Hohenstadt verehrt wurde, niederlegen (Pahl, S. 73)
Einen entscheidenden Einschnitt brachte das Revolutionszeitalter der revolutionären Republik vertrieben den Quälgeist, die Freifrau, aus dem Schloß.
Es ergoß sich deshalb ein allgemeines Gefühl von Wohlbehagen über die Gemeinde, als das erste Drohen der französischen Heere, den Schauplatz des Krieges auf das rechte Rheinufer zu verlegen, der Familie der gnädigen Frau Veranlassung gab, sich nach Ansbach in Sicherheit zu bringen, wo sie, der neuen Verhältnisse ungewohnt, nach kurzem Verweilen starb (1795). Die Nachricht von ihrem Tode ward in Neubronn mit unverheimlichter, lauter Freude empfangen, und als auf dem Schlosse ihr Leichenmahl gefeiert wurde, verbreitete sich eine so große Erheiterung über die Gesellschaft, daß einige junge Barone aus der Nachbarschaft, um einen recht schneidenden Gegensatz der in diesen Mauern so lange geübten Sparsamkeit darzustellen, die vollen Weinflaschen jubelnd zum Fenster hinauswarfen. [Pahl, S. 67]
Später, als Pahl seine Memoiren niederschrieb, konnte er feststellen, daß von Hexen und Gespenstern kaum mehr die Rede war und der Altar des heiligen Patricius zu Hohenstadt so gut wie keine Besucher mehr sah.
Im benachbarten Hohenstadt, drei Kilometer westlich, herrschte der katholische Graf Joseph Anselm Adelmann von Adelmannsfelden, eine gelungene Ergänzung zu seiner schrulligen Nachbarin. Auch er hatte nur über ein einziges Dorf zu befehlen.
Wie hätte dieser kleine Kreis einem Manne genügen können, der vom Morgen bis an den Abend, umgeben von großen Aktenstößen, las und diktierte, gewöhnlich vier Schreiber beschäftigte und bei den immer fortgesetzten neuen Anlagen und Bauten alles an Ort und Stelle selbst anordnete und leitete? Hätte er seine Geschäfte in der gewöhnlichen Weise behandelt, so würde sein Tätigkeitstrieb unbefriedigt geblieben sein, weil er zu bald ans Ziel kam. Um dies zu vermeiden, ließ er nichts durch andere tun, sondern tat alles selbst, sah das Unbedeutende und Geringfügige immer in der Gestalt des Wichtigen und Großen und behandelte seine Arbeiten mit einer mühsamen, oft die fremdartigsten Gegenstände unnatürlicherweise herbeiziehenden Weitläufigkeit. Seine Beamten waren willenlose Vollzieher seiner Befehle; die Untersuchungen wurden alle von ihm selbst geführt; alle Urteile von ihm, in erster und letzter Instanz, ohne Beachtung irgendeines Gesetzes, wie es Laune, Haß und Zuneigung ihm eingab, ausgesprochen und oft eigenhändig vollzogen. Dies rasche und strenge Verfahren empfanden seine Dienstleute nicht weniger als seine Untertanen, wie denn der Verfasser im Besitze eines spanischen Rohrs, aus einer Hinterlassenschaft, ist, das oft und viel auf dem Rücken aller seiner Ministerialien, vom Obervogte bis auf den Küchenjungen herab, geschwungen wurde. Und da dies alles für diese ungestüme Energie nicht zureichte, suchte sie, eifersüchtig und reizbar, Stoffe der Beschäftigung in den Verhältnissen zu den Nachbarn, und es hörten hier die Zwiste und Differenzen Rechtstreitigkeiten] nimmer auf wobei man selbst bei unbedeutenden Streitgegenständen keinen Anstand nahm, die Hilfe der höchsten Reichsgerichte aufzurufen; ja zweimal verfolgte der Graf sein Recht sogar mit bewaffneter Hand, indem er an der Spitze seiner Bauern gegen das Limpurgische Amt Gröningen und gegen den Freiherrn von Gültiingen auf dem Wildenhofe auszog, und in beiden Fehden gab es Tote und Verbündete. […]
Zur Ausübung des letztern [Rechts, des Waffenrechts] war die männliche Jugend militärisch organisiert, die dann, in ihren Zwilchkitteln, auf welche rote Krägen und Umschläge, aus Leinwand und Papier, genäht waren, und mit ihren alten, rostigen Hausgewehren bewaffnet, bei feierlichen Gelegenheiten ausrückten. Dies geschah auch zur Ehre der kaiserlichen Waffen, sooft österreichische Truppen durch das Dorf marschierten, da denn der Anblick der possenhaften Philisterei immer große Erheiterung über die letztern verbreitete. [. . .] Da es an dem gräflichen Hoflager nicht an einem Park fehlen durfte, so wurde eine etwa einen halben Morgen betragende Ecke des Schloßgartens mit Gebüsch bepflanzt, in dem sich ein paar Strohhütten erhoben, und auf den Eingang die Inschrift gesetzt: englischer Garten. [...]
Der Graf war ein strenger, den Glauben der Kirche in seiner obskursten Auffassung treu und fest bewahrender Katholike. Dies hinderte ihn jedoch nicht, im Kreise der Gesellschaft und der Geschäfte Konfessionsunterschiede ganz unbemerkt zu lassen, und wenn er mit kirchlichen Behörden in Konflikte geriet, rücksichtslos nach seiner gewohnten Weise durchzugreifen, wie er denn einst, als er über einer nichtigen Klatscherei mit dem Pfarrer in Hohenstadt zerfiel, denselben auf dem Schlosse in engen Verhaft setzte und ihn nicht eher entließ, als bis ihm durch einen zu wiederholten Malen an Ort und Stelle erschienenen bischöflichen Kommissär der Bann angekündigt wurde. (Pahl, S. 176—179)
Kein Wunder, daß die oft auf verletzende Weise unterdrückten Bauern sich dann 1795 gegen ihren Grafen erhoben. (Pahl, S. 179—185) Etwas anders erlebte Karl Heinrich Lang die Herrschaft von Oettingen-Wallerstein, im Ries bei Nördlingen. Er schilderte die Zustände von innen heraus, er arbeitete in der Regierung mit, wenn auch am unteren Ende der Stufenleiter. Mit 21 Jahren trat er im Jahr 1785 in die Regierungsdienste ein.
Nach kurzer Erwägung beschloß ich, sofort des andern Morgens mich bei dem Präsidenten der Fürstlichen Regierung, Geheimen Rat von Rursch, zu melden, daß er mir die Eröffnung meiner Laufbahn in seiner Kanzlei gestatten möge. Den Hof in Wallerstein hatte mir mein Herr Vormund, der mich überhaupt nicht mehr gern in seiner Nähe sehen wollte, als einen solchen geschildert, wo man keine Besoldungen zahle und überhaupt nichts als junge, der Dinge Stand unkundige oder in die Kreuz und Quer empfohlene Ausländer herbeizöge.
Herrn von Rursch, dem ich schon von meiner Schule her nicht ganz unbemerkt geblieben, schien meine Anmeldung mit vielem Wohlgefallen anzuhören, sagte mir auch den Akzeß [Zulassung zum juristischen Vorbereitungsdienst] bei der Regierung auf der Stelle zu und ließ mir noch selbigen Tages einige Akten zur Proberelation zustellen. […]
Nachdem ich nun frühmorgens nüchtern mich fürchterlich verschworen (Diensteid], alles, was ich von nun an in diesen vier Pfählen hören, sehen und erfahren würde, steif und fest zu verschweigen und bis in meine Grube verschlossen mit hinunterzunehmen, so wurde mir alsbald der Sekretariatsstuhl angewiesen, um gleich in heutiger Sitzung Protokoll und Feder zu führen. Ein heiliger Schauer ergriff mich über die Freimaurergeheimnisse, die sich mir nun auftun sollten.
Die feierliche Deliberation [Beratung] begann über den Vollzug einer allgemeinen Proskription [Erfassung] über sämtliche in den fürstlich oetting-oettingischen und oetting-spielbergischen Landen befindlichen Hunde, worüber alle Ämter ausführlich Tabellen eingesendet hatten, mit den Rubriken: Namen — äußerliche Gestalt — Alter — Gattung — Gebrauch und ohnmaßgebliches untertänigstes Gutachten. Diesen Tabellen folgend, segelten gleichsam die Beschlüsse unter den günstigsten Winden rasch vorüber an Mélac, an Donau, an Bläß, an Gibacht, an Fassan, nebst vielen andern; etwas unruhiger ging es doch noch über die Beißerl hinweg, sowie es aber an einen gewissen Zwackerl im Amt Aufkirchen kam, geriet der ganze Rat in die heftigste Bewegung: der Referent wollte ihn totgeschlagen wissen, der Primus votans [Stimmführer] aber, der einen jüngeren Bruder dieses Zwackerl hatte, konnte die herrliche Art nicht genug preisen. Die Stimmen teilten sich, sie wurden laut, der Präsident nahm eine Prise Tabak; ein Cito [eilt!] kam als Unterbrechung dazwischen; man sprach eine Zeit lang über dieses und zuletzt über ganz andere Sachen; nun griff man wieder zum Endurteil über den Zwackerl — wieder dieselben Kämpfe; es schlug zwölf Uhr, alles griff nach den Hüten, und ich auf mein sorgliches Befragen, wie ich nun zu schließen hätte, erhielt den Bescheid: »Die Hauptsache haben Sie hier umständlich angehört, und so schließen Sie nur das Ganze nach den Akten — verstehen Sie, nach den Akten! — und so werden hernach sämtliche Herren einverstanden sein.«
Ich erteilte hierauf in meiner Expedition [Ausfertigung] sämtlichen Hunden eine Lebenskonzession, jedoch stellte ich es mit Vorsicht und, um nicht neuen Hader zu erwecken, bei Zwackerl auf einen umständlichen, erschöpfenden Spezialbericht aus, zu dem es aber, solange das Deutsche Reich noch bestanden' nicht gekommen ist.
Schade nur, daß sich nicht auch aus den Akten ergab, von was der treue eifrige Herr Regierungsakzessist essen und trinken und wovon er sich kleiden sollte. Die ersten Monate zwar war die Sache gar so schwierig nicht, man aß im Gasthof und zahlte nicht, man nahm aus den Läden die Ware auf Borg. Indessen zeigten sich bald Mittel, den Kredit zu stärken. In demselben Hause mit mir wohnte ein Advokat, der mich in den Kreis seiner Familie zog, und als er bemerkte, daß mir die ersten Handgriffe seines Faches nicht unbekannt seien, mir die Rechtfertigung einer Appelation gleichsam zur Probe überließ. Nach dieser bestandenen Probe überließ er mir die Anfertigung seiner meisten wichtigeren Deduktionen [Schriftsätze], angeblich immer nur zur Probe; da er mir aber auch von seiner Seite Proben seiner guten Zahlung gab, so schwieg ich dazu still, wenn ich diese Probearbeiten, mit seiner Unterschrift gestempelt, wirklich insinuieren [eingereicht] sah. Im ganzen war es wohl ein Mißbrauch, daß ich in meiner Stellung zur Regierung, die zugleich auch Appellationsgericht [Berufungsinstanz] war, Advokatengeschäfte trieb; allein es hieß: il faut que je vive [ich muß leben], und da ich in der Regierung nur Protokolle und Expeditionen, aber zur Zeit noch keine Rechtsurteile zu fällen hatte, so glaubte ich nicht, den Gegenparteien dadurch verfänglich zu werden. In den damaligen Kollegien ging es überhaupt zu wie im Olymp; jeder Heros hatte seinen eigenen Gott zum Patron, manche opferten sogar dem guten und dem bösen Geist zugleich. Es währte nicht lange, so wurde ich von allen Seiten um Rat und Beistand angegangen: von den Bürgern in Nördlingen, wo es gegen ihren Bürgermeister ging, den kein anderer angreifen wollte; von Klöstern und Stiftungen, besonders in reichsgerichtlichen Sachen, davon die Herren Pfleger wenigstens die Formen nicht wußten; ja selbst aus Bayern erhielt ich Aufträge, um gegen die Barbareien, die sich ein Graf besonders gegen eine Försterfamilie erlaubte, reichsgerichtliche Hilfe aufzurufen.
Alle Morgen war mein Zimmer mit jüdischen Klienten angefüllt, die angeblich kamen, um mit einem geschickten Manne zu reden; der Rabbiner, dem die Untergerichtsbarkeit zukam, hatte mich gleichsam zu seinem Patrimonialgerichtssouffleur erkiest und versüßte mir sein Annahen durch Gold und Silber und auch mit der Weissagung: »Jo, aus Ihnen wird der liebe Gott noch einen graußen Mann machen. Warum? Weil Sie den kleinen Leuten so helfen und kein Unrecht vertuschen lassen.« Unter so günstigen Anfängen brachte ich dem Präsidenten meine ausdrückliche Bitte vor, mich nun förmlich unter die Advokaten einzureihen, erhielt aber von ihm zur Antwort: »Für einen Advokaten sind Sie mir zu gut!« — was wohl soviel hat sagen sollen: »Ich wünsche Sie selber zur Hand zu behalten; auf alle Fälle aber werd' ich mich hüten, dahier einen guten Advokaten aufkommen zu lassen, der uns nur des Teufels Arbeit verschaffen würde.« Auf meine Erwiderung, daß ich aber so durchaus nicht bestehen könnte, versprach er mir eine Pension, jedoch um ähnlichen Ansprüchen anderer junger Leute auszuweichen, aus des Fürsten geheimer Kasse, wovon aber das Wort angesichts dessen auf der Stelle wahrgemacht und sogleich für drei Monate hingezählt wurde. (Lang, S. 50—53)
Nach zwei Jahren endlich erhielt Lang ein ordentliches Gehalt von 200 Gulden, halb soviel wie der schon ärmlich bezahlte Pfarrer Pahl in Neubronn.
Literatur:
- Abtsgemünd. Junge Gemeinde — reich an Geschichte. Mit den Teilorten Hohenstadt, Lembach, Neubronn, Pommertsweiler, Untergröningen, Abtsgemünd 1986 (S. 161 : Farbfoto des hübsch von Bäumen umgebenen Schlosses Neubronn heute; S. 153 : Foto des Lusthauses im Schloßgarten von Hohenstadt heute)
- Lang, Karl Heinrich Ritter von: Die Memoiren des Ritters von Lang 1764—1835, hg. von Hans Hausherr, Stuttgart 1957
- Pahl, Johann Gottfried: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben und aus meiner Zeit, hg. von Wilhelm Pahl, Tübingen 1840 (Standort: Donaueschingen, Hoffibliothek, I c)