Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik

Nach der ausführlichen Darlegung der Gründe, wornach Rezensent sein Urteil über die Bürgerschen Gedichte bestimmte, erwartete er, durch etwas Gedachteres als durch Autorität, durch Exklamationen, Wortklaubereien, vorsätzliche Mißdeutung, pathetische Apostrophen und lustige Tiraden widerlegt zu werden; auch schien ihm Herrn Bürgers Sache in der Tat nicht so schlimm, um nicht eine beßre Verteidigung zu verdienen. Sehr gerne läßt er sich gefallen, seine Kunsttheorie, wo es auch geschehe, an der Bürgerschen zu versuchen, wie er denn auch sein über H.B. gefälltes Urteil nicht gerne für etwas anders möchte ausgegeben haben als für die Überzeugung eines einzelnen Lesers, welche er ohne Bedenken nach einer gründlichern Belehrung verlassen wird. Dann aber müßten billig, wie bei jedem Ehrenkampfe sich gebührt, die Waffen gleich sein, und wenn der eine Teil Beweisgründe gebraucht, so müßte der andre nicht mit Fechterkünsten streiten. Es gilt hier kein historisches Faktum, das nur durch Würdigung der Autoritäten berichtigt und durch Entkräftung der Glaubwürdigkeit (eine Methode, von welcher H.B. gegen seinen Rezensenten Gebrauch macht) verdächtig gemacht wird. Die Rede ist von Grundsätzen des Geschmacks und deren Anwendung auf Hn. Bürgers Produkte. – Jene wie diese sind dem Publikum vor Augen gelegt, welches (nicht etwa nach dem berühmten oder unberühmten Namen des Kunstrichters, wie H.B. will, sondern nach eignem Gefühl und nach eigner Vernunft) jene Behauptungen prüfen und den Bericht, den H.B. davon abzustatten für gut gefunden hat, mit den eignen Worten und dem ganzen Ideengange des Rezensenten zusammenhalten kann. Dieses Publikum, welches sich seines Wielands, Goethe, Geßners, Lessings erinnert, dürfte schwerlich zu überreden sein, daß die Reife und Ausbildung, welche Rezensent von einem vortrefflichen Dichter fodert, die Schranken der Menschheit übersteige. Leser, welche sich der gefühlvollen Lieder eines Denis, Goeckingk, Hölty, Kleist, Klopstock, von Salis erinnern, welche einsehen, daß Empfindungen dadurch allein, daß sie sich zum allgemeinen Charakter der Menschheit erheben, einer allgemeinen Mitteilung fähig – und dadurch allein, daß sie jeden fremdartigen Zusatz ablegen, mit den Gesetzen der Sittlichkeit sich in Übereinstimmung setzen und gleichsam aus dem Schoße veredelter Menschheit hervorströmen, zu schönen Naturtönen werden (denn rührende Naturtöne entrinnen auch dem gequälten Verbrecher, ohne hoffentlich auf Schönheit Anspruch zu machen), solche Leser dürften nun schwerlich dahin zu bringen sein, idealisierte Empfindungen, wie Rezensent sie der Kürze halber nennt, für nichtige Phantome oder gar mit erkünstelten naturwidrigen Abstrakten für einerlei zu halten. Diese Leser wissen es sehr gut, daß die Wahrheit, Natürlichkeit, Menschlichkeit der Gefühle durch die Operation des idealisierenden Künstlers so wenig leidet, daß vielmehr durch jene drei Prädikate nichts anders als ihr Anspruch auf jedermanns Mitgefühl, d.i. ihre Allgemeinheit bezeichnet wird. Menschlich heißt uns die Schilderung eines Affekts, nicht weil sie darstellt, was ein einzelner Mensch wirklich so empfunden, sondern was alle Menschen ohne Unterschied mitempfinden müssen. Und kann dies wohl anders geschehen, als daß gerade soviel Lokales und Individuales davon weggenommen wird, als jener allgemeinen Mitteilbarkeit Abbruch tun würde? Wenn sich Klopstock in die Seele seiner Cidli, Wieland in die Seele seiner Psyche oder Amanda, Goethe in den Charakter seines Werthers, Rousseau in den Charakter seiner Julie, Richardson in den seiner Klarisse versetzt, und jeder dann die Liebe so empfindet, so uns schildert, wie sie in solchen Seelen erscheinen müßte, haben sie nicht unter der Bedingung einer idealischen Seelenstimmung empfunden, oder kürzer: ihre eigne Empfindung idealisiert? H.B. könnte vielleicht einwenden, daß der Fall sich verändre, wenn der Dichter in seiner eignen Person empfindet und dichtet – dann aber müßte er ganz und gar nicht wissen, daß an der selbsteignen Person des Dichters nur insofern etwas liegen kann, als sie die Gattung vorstellig macht, und daß es schlecht um seine Dichtungen stehen würde, wenn er das Geschäft der Idealisierung nicht zuvor an sich selbst vorgenommen hätte. Stellt er uns Affekte, wie er unter gewissen Umständen sie empfunden, bloß treu und natürlich dar, so kann er zwar einen historischen Zweck erreichen und das Publikum von etwas unterrichten (worin freilich dem Publikum so besonders viel nicht gelegen ist), das in ihm selbst vorgegangen. Will er aber einen Kunstzweck erreichen, d.i. will er allgemein rühren, will er gar die Seelen, die er rührt, durch diese Rührung veredeln, so entschließe er sich, von seiner noch so sehr geliebten Individualität in einigen Stücken Abschied zu nehmen, das Schöne, das Edle, das Vortreffliche, was wirklich in ihm wohnt, weislich zu Rat zu halten und womöglich in einem Strahl zu konzentrieren, so bemühe er sich, alles, was ausschließend nur an seinem einzelnen, umschränkten, befangenen Selbst haftet, und alles, was der Empfindung, die er darstellt, ungleichartig ist, davon zu scheiden und ja vor allem andern jeden groben Zusatz von Sinnlichkeit, Unsittlichkeit u. dgl. abzustoßen, womit man es im handelnden Leben nicht immer so genau zu nehmen pflegt. Ehe ein gebildeter Leser an Liedern Gefallen fände, worin noch der ganze trübe Strudel einer ungebändigten Leidenschaft braust und wallt und mit dem Affekt des begeisterten Dichters auch alle seine eigentümlichen Geistesflecken sich abspiegeln, würde er lieber die Autorität eines Horaz verwerfen, wenn es dem unsterblichen Dichter wirklich hätte einfallen können, durch seinen wahren und goldnen Spruch: Weine erst selbst, wenn du weinen machen willst: jede wilde Geburt eines erhitzten Gehirnes in Schutz zu nehmen. So unentbehrlich ist eine gewisse Ruhe und Freiheit des Geistes zur schönen Darstellung selbst der feurigsten Leidenschaft, daß – sogar Antikritiken, wie man sieht, ihrer nicht entraten können, ohne den besten Teil ihres Zwecks zu verfehlen! – Und von allem dem will H.B. nichts wissen? Alle diese Elemente der darstellenden Kunst klingen ihm wie neue Offenbarungen aus den Wolken? Nun wahrhaftig, ein Glück für ihn und seine Leser, daß sein poetischer Genius bisher für seine Führerin dachte und sich ohne Ästhetik noch ganz leidlich zu helfen wußte!

Der nachdenkende Leser entscheide, ob der Verfasser der Rezension sich deswegen eines groben Widerspruchs schuldig machte, weil er Individualität an einem Werke der Kunst nicht vermissen will und dennoch eine ungeschlachte, ungebildete, mit allen ihren Schlacken gegebene Individualität nicht schön finden kann. Oder sollte vielleicht, nach H. Bs Meinung, gerade in dieser letztern die Originalität und Eigentümlichkeit enthalten sein, die man mit Recht jedem Kunstwerk zu einem hohen Vorzug anrechnet? Der Leser entscheide wieder, ob Herrn Bürger deswegen die Kunst zu idealisieren überhaupt abgesprochen wird, wenn Rezensent ausdrücklich nur diese Idealisierkunst bei ihm vermißt, wovon er redet, die nämlich, welche jede idealische Schöpfung des Dichters im einzelnen auf ein innres Ideal von höchster Vollkommenheit beziehet?

Herrn Bürgers Sache wäre es gewesen, die Anwendung der vom Rez. aufgestellten Grundsätze auf seine Gedichte, nicht aber diese Grundsätze selbst zu bestreiten, die er im Ernst nicht wohl leugnen, nicht mißverstehen kann, ohne seine Begriffe von der Kunst verdächtig zu machen. Wenn er sich gegen diese Foderungen so lebhaft wehrt, bestärkt oder erweckt er den Verdacht, daß er seine Gedichte wirklich nicht dagegen zu retten hoffe. Dasjenige seiner Geistesprodukte hätte er nennen sollen, welchem Rez. durch seinen allgemeinen Ausspruch Unrecht getan hat. Wenn H.B. es für eine so unmögliche Sache hält, daß einer seiner poetischen Mitbrüder sich so sehr habe vergessen können, ein Ideal der Kunst aufzustellen, welches den selbsteignen Produkten desselben das Urteil spricht, so beweist H.B. dadurch bloß, wie sehr sein Kunstideal unter dem Einfluß seiner Eigenliebe stehe, wenn er es nicht gar selbst aus seinen eigenen Geistesgeburten abgezogen hat. Was der Moralphilosoph ohne Bedenken von jedem menschlichen Subjekt und zum Teil schon der Erzieher von seinem Zöglinge fodert, darf doch wohl die Kunst von ihren vorzüglichsten Söhnen verlangen – und wenn in der Foderung des Moralisten keine Ungereimtheit liegt, wenn dort die Erhabenheit des Ideals die Bestrebungen, es zu erreichen, nicht niederschlagen darf, warum sollte mit der Kunst eine Ausnahme gemacht werden, die ihre Foderungen von jenen nur ableitet, deren Ideal unter jenem des Moralisten großenteils schon enthalten ist? – Immer könnte also auch ein Dichter jenes Urteil über Hn. B. niedergeschrieben haben, der aber freilich die Klugheit nicht besaß, seine eigenen Geisteskinder vor der Strenge dieser seiner Theorie zuvörderst in Sicherheit zu bringen. Einen solchen könnte nun wohl schwerlich die Furcht vor Repressalien abgehalten haben, offen und frei seine Meinung vom H.B. zu sagen, und, eifersüchtiger auf die Hoheit seiner Kunst als auf den Ruhm der Produkte, wodurch er sich in seinem Leben schon an ihr mag versündigt haben, erteilt er ihm hiemit uneingeschränkte Vollmacht, bei künftiger Entdeckung seines Namens, gegen seine Geistesgeburten soviel Vernünftiges vorzubringen, als er fähig ist. Um so mehr aber glaubt er sich auch befugt, das, was ihm Sache der Kunst schien, gegen das Bürgersche Beispiel zu verfechten – gegen alle Elegien an Molly und alle Blümchen Wunderhold und alle hohen Lieder, in denen man vom Rabenstein und von der Folterkammer in das Flaumenbette der Wollust entrückt wird, zu verfechten – mit Bescheidenheit, wie er getan zu haben hofft, aber freilich nicht mit Schüchternheit. Schüchtern trete der Künstler vor die Kritik und das Publikum, aber nicht die Kritik vor den Künstler, wenn es nicht einer ist, der ihr Gesetzbuch erweitert.

Geschah es etwa, um den Streit auf fremden Boden zu spielen, daß H.B. die ganze Schar deutscher Liederdichter aufbietet, auf dem ganzen Musenberge »Feuer!« ruft, und den Geist eines Wielands und seinesgleichen zu erscheinen und zu löschen beschwört? Er nehme sich ja in acht, den Schatten Samuels zu wecken, sonst möchte ihm wie weiland Sauln geantwortet werden. Rezensent erinnert sich, Hn. B. über alle erhoben zu haben, die mit ihm um den lyrischen Lorbeer ringen. Aber es ringen darum nicht alle, welche irgendeinmal die Fülle ihrer Begeisterung in einem Lied oder in einer Ode aushauchten, mit Hn. B. um den lyrischen Kranz, und die ihn längst schon ersiegt haben, ringen auch nicht mehr. Wie sehr auch endlich Herrn Bs poetischer Genius über seine Mitkämpfer hervorragt, so könnte ihm doch mancher unter ihnen, der ihm an Dichtergaben weicht, in nicht unwesentlichen Stücken der poetischen Darstellung zum Muster dienen.

Wenn das großgünstige Publikum Herrn Bs seinen Genius für ein noch höheres Wesen halten konnte als er selbst, welches viel ist; wenn es weit mehrere seiner Produkte, als ihm lieb war, mit überaus großem Wohlgefallen aufnahm und mit einem Glauben, der ihn selbst schamrot machte, den Feiertanz um seine Pagoden anstellte, so wäre das Unglück in der Tat so groß nicht, als H.B. es macht, mit dem Urteile dieses Publikums über ihn sich einigermaßen im Widerspruch zu befinden. Auch ist es nicht nötig, daß gerade die ganze schreibende und lesende Welt sich geirrt haben muß, wenn H.B. nicht als reifer und vollendeter Dichter befunden wird. Gerne verwechselt die Selbstzufriedenheit des Künstlers den lauten brausenden Zuruf, der ihn gleich bei seiner ersten Erscheinung umtönt, mit dem Urteil der Welt, und so entscheidet sich oft der Ruhm eines Schriftstellers, ehe noch die gewichtigsten Stimmen mitgesprochen haben. Herrn Bs poetischer Genius hat diese Stimmen keineswegs zu fürchten, und es wird bloß auf etwas mehr Studium schöner Muster und etwas mehr Strenge gegen sich selbst ankommen, daß auch sie mit vollem Herzen das Prädikat unterschreiben, das ihm, ohne sie, erteilt worden ist. So wenig Rez. sich bei Abfassung seiner Kritik einer andern Leitung als seines eignen Gefühls bewußt war, so angenehm überraschte ihn, was er nachher in Erfahrung brachte, daß er in seinem Urteile über Hn. B. die Meinung einiger der kompetentesten Geschmacksrichter von diesem Schriftsteller ausgesprochen habe.

Um übrigens einem beträchtlichen Teile des Publikums nicht etwas Überflüssiges zu sagen und bei einem andern durch seinen unschuldigen Namen nicht den Beifall zu verwirken, den vielleicht seine Gründe fanden, sei es dem Rezensenten erlaubt, einem Inkognito getreu zu bleiben, welches, seiner Überzeugung nach, bei literarischen Kämpfen solange gut und löblich bleibt, als es überhaupt noch Schriftsteller gibt, die dem Publikum auf ihre eigne und ihres ganzen Standes Unkosten nicht sehr erbauliche Komödien zum besten geben. Wo mit Vernunftgründen und aus lauterm Interesse an da Wahrheit gestritten wird, streitet man niemals im Dunkeln; das Dunkel tritt nur ein, wenn die Personen die Sache verdrängen.

Der Rezensent. Friedrich Schiller


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