Das System der Rechtslehre

von Johann Gottfried Fichte.

Dritter Teil

Zweiter Abschnitt

[Das rechtliche Verhältnis der Staaten]

Wie ist dermalen das rechtliche Verhältnis der Staaten zu einander?

1) Jeder Staat hat das Recht der Selbsterhaltung, als Staat. Ja, je edler und gebildeter der Staat ist, desto teurer ist ihm diese Erhaltung: denn er hat einen bestimmten endlichen Plan seiner Fortbildung, den nur er kennt, und der ungestört fortgehen muss, außerdem ist das Frühere verloren. Unterjochte werden in ein ganz neues Feld, und einen ganz neuen Plan hineingeworfen.

2) Diese Erhaltung ist ihm nun auf keine Weise garantiert, außer durch seine eigne Übermacht. Er muss darum, um seines teuersten Zweckes willen, dieselbe stets zu erreichen suchen, auf den Vorrat, immer streben, um sich herum zu erobern, und sich zu vergrößern: keine Gelegenheit, wo er es mit Sicherheit tun kann, ungenutzt vorüberstreichen lassen. - Was haben denn die Regenten von Eroberungen? können sie nun etwa besser essen, trinken und sich kleiden? hat man gesagt, mit nicht sehr gründlichem Spotte. Die Sache steht so: einen Angriff auf seine Selbstständigkeit muss jeder erwarten, sobald derselbe möglich sein wird; und wenn er heute nicht erfolgt, so geschieht das darum, weil sich der andere nicht stark genug fühlt. Es wird sodann besser sein, wenn er über die und die Kraft verfügt, als wenn sein Gegner es tut: er muss darum keine Zeit ungenutzt lassen, um sie sich anzueignen. Gesetzt, er unterläge einst, so würde er sich immer den Vorwurf machen müssen, es würde dies nicht erfolgt sein, wenn er die und die Gelegenheit, seine Kraft zu vermehren, sich nicht hätte entgehen lassen. (Es geht auch vielen Staaten so: die Erfahrung zeigt es). Gegen diesen Vorwurf muss er bei Zeiten sich schützen.

Also aus dem als gewiss vorauszusetzenden Angriff erfolgt es.

Hat er denn bei dieser Voraussetzung Recht? Wie könnte er dann nicht, wenn er nur bedenkt, dass jeder ihm gegenüberstehende Staat grade so denken und rechnen muss, wie er selbst, und dass er allerdings suchen muss, seine Kräfte sich einzuverleiben, wenn es geht, sei es auch nur, um mit demselben sich zu rüsten gegen den Angriff eines dritten.

Es folgt darum, dass alle durch das Recht und die Pflicht der Selbsterhaltung genötigt sind, einander immerfort argwöhnisch zu beobachten, stets gerüstet zu sein, keine Gelegenheit sich entgehen zu lassen, wo sie sich verstärken können. Denn jeder versäumte Gewinn kann einst der Grund ihres Unterganges sein.

Alle betrachten darum alle immerfort als rechtlos. Es bindet sie kein Recht, sondern nur die Schwäche. Sie allein bringt Frieden. Woher? Um des allgemeinen Misstrauens willen. Woher dieses? Weil keiner dem andern die Gewähr zu leisten vermag.

(Meine Rechtstheorie ist klar: wer nicht garantiert, hat in der Tat kein Recht. Nur die Garantie bringt den Rechtszustand zuwege. Wo diese nicht ist, da ist ein unaufhörlicher Krieg Aller gegen Alle, und das von Rechtswegen, in diesem Zustande der Dinge nämlich, weil sie kein sichres Recht haben).

Ob die Gewalthaber in allen Staaten diese Lage der Dinge so klar eingesehen haben, das wollen wir dahin gestellt sein lassen. Aber wer konsequent durchdenkt, sieht sie so. Gesagt ist es freilich nicht worden, denn wenn Keiner es erwägt, und Alle glauben, auch wir erwägen es nicht, so ist das unser Vorteil. Nur der Philosoph darf es sagen: der Staatsmann aber muss es ihm von Amtswegen immer abstreiten.

Daher die Phänomene, besonders der modernen Europäischen Geschichte: Gleichgewicht der Macht, um eben dadurch die Garantie zu ersetzen, damit kein Vorteil beim Angriffe sei. Das ist nun gut den andern zu sagen: siehe, ich kann Nichts gegen dich ausrichten: wenn er es glaubt, wird er sicher, und wir ersehen uns unseren Vorteil. Warum haben sie sich denn doch angegriffen? In Hoffnung des Seins. Sie mussten darum für ihre eigne Person an das Gleichgewicht nicht sehr fest glauben.

Daher die ungründlichen Kriege. Ich nehme indessen nur einige von des andern Provinzen. Diese sind von nun an mein, und nicht des anderen. Nun ruhen wir wieder aus, und erholen uns von dem Schaden, den dieser Gewinn uns freilich gebracht hat, bis wir die rechte Gelegenheit finden, wieder anzufangen. So entstand ein Waffenstillstand aus Ermattung, mit der fortgesetzten kriegerischen Gesinnung. Denn, schließest du wirklich Frieden, im Vertrauen auf die Garantie deines Gegners, warum behältst du denn die eroberten Provinzen? Nur die Staaten, deren Beherrscher in jedem Zeitraume dieses am Lebendigsten eingesehen haben, und keine Gelegenheit, sich zu vergrößern, versäumten, haben sich gehoben. Die aber, welche Gelegenheiten versäumt haben, sind gesunken. Man kann sich anheischig machen, Jedem es bestimmt nachzuweisen, wo er gefehlt habe, d.i. nicht zugegriffen, wo er ohne Gefahr hätte zugreifen können; denn einen andern Fehler gibt es nicht auf diesem Gebiete.

Woher dieses Alles? Weil keine Garantie, d.i. kein mit Zwangsgewalt versehener rechtlicher Wille da ist. Dieser soll nun im Völkerbunde errichtet werden; das lässt sich freilich sagen. Aber wie soll man dazu kommen? Dies ist eine unauflösliche Aufgabe an die göttliche Weltregierung. - Bis dahin aber ist die Regel: jeder Staat hüte sich, und wehre sich bis auf den letzten Blutstropfen, denn er weiß nicht, was an seine Erhaltung geknüpft sein kann: der Staat, sage ich: der Bürger aber gehorche den Verfügungen seines Staates; denn diese sind für ihn eben die Stimme der Weltregierung. Haben die Herrscher gefehlt, so mögen diese es verantworten.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03