Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die neue Romantik

Schluss Teil 2

Diese Abwendung vom Positiven konnte aber natürlicherweise nicht auf das religiöse Gebiet allein beschränkt bleiben, sondern trübte, gleich einer Krankheit, die gesamte Weltanschauung. Nachdem man jetzt aus der oben erwähnten romantischen Dreieinigkeit von Staat, Kirche und Volk das eine versöhnende Mittelglied religiöser Liebe wieder herausgenommen, stehen Staat und Volk unvermittelt, schroff und feindlich, als bloßes Recht und Gegenrecht, einander gegenüber, und anstatt der wechselseitigen freien Unterordnung unter ein Höheres über beiden, wie die Kirche sie lehrt, bleibt das Mißtrauen, der Haß, der Trotz, mit einem Wort: die endlose Revolution. – Ebenso folgerecht richtete sich jene verwandelte Ansicht ferner auch gegen die Nationalität. Denn alle Nationalität ist durchaus positiv, das allgemein Menschliche, durch das angeborene geistige Maß eines besondern Volkes, durch seine Geschichte, Klima und alles, was der Mensch nicht willkürlich zu machen vermag, bedingt, begrenzt, modifiziert und zur individuellen Physiognomie ausgeprägt. Gegen diese göttliche Offenbarung im Leben, wie gegen die geoffenbarte Religion, gegen diese höhere Waltung und Erziehung der Völker-Individuen, sträubt sich das für mündig erklärte Subjekt als gegen eine unleidliche, unwürdige Schranke. Und so ist es unter anderem auch in die Mode gekommen, anstatt der nationalen eine Weltliteratur herzustellen, die in ihrer notwendigen Rückwirkung alle echte Vaterlandsliebe zur bloßen altväterischen Grille macht. So wird namentlich die Poesie eine ganz allgemeine Phraseologie, und die Gestaltung im Drama, dem nationalsten aller Dichtungsarten, zum konventionellen Begriffsskelett. Und wie die Romantiker beinah ohne Ausnahme Schellingianer, so sind die jetzigen Poeten fast alle Hegelianer, nicht zum Vorteil der Kunst, die bei Hegel, als ein bloß interimistisches Zeichen und Surrogat der noch nicht vollständig logisch vermittelten Idee, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Unsere neueste Poesie ist also im Grunde nur die Reaktion gegen die Romantik und hat alle von dieser quieszierten und vorlängst abgeschiedenen Geister als ihre Kampfgenossen wieder aufgerufen, die aber als bloße Revenants keineswegs ihre ursprüngliche Lebenskraft mehr bewähren. Da laufen alle Elemente und Richtungen gleichzeitig zusammen und prallen oft hart aneinander: der Humänitätskultus, die Sentimentalität, Pietismus, Kantsche, Schellingsche und Hegelsche Philosophie und politisches Bardengebrüll. Sie haben die Romantik überwunden, aber noch nichts Neues an deren Stelle gesetzt, indem sie das Alte, weil es sich modern kostümiert, für etwas Neues halten. Es ist eine bloße Übergangsperiode, alles noch im Kreißen und Gären begriffen, und wir müßten eigentlich hier schließen; denn es ist ganz unmöglich, ein Chaos zu umschreiben, die Geschichte einer Literatur auch nur anzudeuten, die sich noch keine bestimmte Physiognomie herausgebildet hat und in jedem Meßkatalog eine andere Miene macht. Doch läßt sich, wenn man genau hinsieht, noch immer der alte protestantische Familienzug deutlich erkennen, und man kann diese Literatur im ganzen als Negation, mithin als eine restaurierte Poesie des Verstandes bezeichnen.

Die Verstandespoesie wird aber jederzeit vorzüglich durch den Roman repräsentiert. Daher jetzt die noch immer steigende Sündflut von Romanen, und fast keiner darunter, wo nicht ein Stück modernster Philosophie abgehandelt und damit experimentiert würde. Es sind wesentlich Tendenzromane: für Sozialismus, für die frivole Salonweisheit, für Republik, Monarchie usw., die sich zum Teil untereinander auf das wütendste anfeinden, verleumden und bekriegen, aber sofort wie ein Mann zusammenstehen, wo es irgend etwa gilt, gegen das positive Christentum oder die Kirche Front zu machen. Hierbei spielt denn begreiflicherweise die alte Humanitätslehre wieder eine bedeutende Rolle: die Menschheit als ein Naturprodukt, ihre Veredelung als bloße Selbstdressur der ihr inwohnenden Kräfte. Da aber nun diese Kräfte in ihrem Grundtypus allerdings überall dieselben sind, so führt diese Ansicht notwendig zu einer wunderlichen Universalität und Weltbürgerei, die alles Eigentümliche planiert und verwischt. Es gibt fast keinen Winkel der Erde, wo sich unser Roman nicht schon angesiedelt und gemütlich fraternisiert hätte; Spitzköpfe und Rundköpfe, Rothäute und andere Bärenhäuter werden frischweg unter ein und denselben Allerweltshut gebracht, als ob die Natur überall nach einer philosophischen Schablone bilde und es nicht, wie in jedem Dorfe Hinz und Kunz, so auch in der Geschichte der Menschheit besondere Völkerindividuen gebe.

Diese vorherrschende Verstandesrichtung zeigt sich auch in der psychologisch-pragmatischen Liebhaberei unserer Romane. Welche langweilig breite Expositionen! Der innere Mensch wird, anstatt aller göttlichen Fügung und Leitung, aus lauter Lappalien und zufälligen Umständen, die sich bei seiner Geburt, Erziehung usw. maßgebend ereignet haben sollen, mathematisch konstruiert und erklärt: aus dem Fall des Kindes eine schiefe Nase, aus der schiefen Nase ein schiefer Charakter. Dieser pragmatische Aberglaube ist ohne Zweifel der nüchternste Fatalismus und führt von selbst auf das Dogma von der sklavischen Nachahmung der Natur. Solch Daguerreotyp-Porträt gibt freilich jedes Härchen und jede Warze wieder, aber das materielle Licht erkennt eben nur den Leichnam; der geistige Lichtblick des Künstlers kann erst das Wunderbare im Menschen, die Seele, befreien und sichtbar machen. Und eben weil die Phantasie ganz in den Hintergrund gedrängt und der Sinn von allem Mystischen und Wunderbaren abgewendet ist, so glitt die Poesie in natürlich wachsender Schwerkraft immer mehr vom Sein zum Schein, von der Religion zur Moral, von der Moral zum bloßen Anstand und von dem stets biegsamen und zweideutigen Anstande zum ästhetisierten Materialismus, der in endlich errungener Freiheit mit den Lüsten spielt wie das Tier.

Die Salonweisheit nebst obligatem Anstande haben besonders die Frauen zu ihrem Thema sich erwählt. Auch der Anstand aber, dieser echte Schein des Seins, hat seinen Pietismus und seine Freidenkerinnen. Der Pietismus erscheint hier als allerliebste Kirchgängerin mit einfach gescheiteltem Haar und einem zierlichen Herrnhuterhäubchen darüber, die vor lauter Besorgnis, sich gottselig zu kostümieren und zu bewegen, über jedes Steinchen stolpert und spröde die Männer verachtet, weil sie nicht ebenfalls Hauben tragen. Die Freidenkerinnen im Gegenteil lieben die Männer gar sehr, mit denen sie, so übel es ihnen auch bekommen mag, gern eine Zigarre rauchen. Sie halten abergläubig durchaus alles für erlaubt, ja für tugendhaft im sublimeren Sinne, was in der schlechten Gesellschaft der sogenannten guten Gesellschaft geadelt und salonfähig ist, und schminken das Laster so dick mit modernster Geistreichigkeit, daß sie die darunter hervorgrinsende Totenmaske selber nicht merken. Beides ist im Grunde, nur nach verschiedenen Seiten hin, dieselbe kokettische Vornehmtuerei. Der Hauptakt aber in diesen Frauenromanen ist fast ohne Ausnahme: Entsagung. Wir bezeichneten oben die Entsagung als den spezifisch christlichen Heldenmut. Es kommt jedoch hierbei einzig und allein darauf an, was aufgegeben und wofür es aufgegeben werden soll. Es ist durchaus ein ganz ander Ding, ob Calderons standhafter Prinz einem königlichen Heldenleben um Gott und der Ehre willen, oder ob eine alte Jungfer aus sentimentaler Schonung eigensinniger Papas und schlimmer Tanten oder aus emanzipierter Überbildung, welcher kein Mann gut genug ist, dem Ehebett entsagt; jener wird durch seine Selbstaufopferung erst recht ein königlicher Held, diese ist und bleibt eine klägliche alte Jungfer.

Als Chorführer aber hat sich in neuester Zeit vorzüglich der historische Roman hervorgetan. Der historische und der philosophische Roman umschreiben so ziemlich die ganze Peripherie der Verstandespoesie, indem dieser Ideale macht, jener sich breit auf die Wirklichkeit stellt. Das ist nur eine Teilung dessellben Geschäfts, weshalb sie denn auch häufig ineinanderspielen; und es ist für diese Verstandesrichtung im Grunde gleichgültig, daß im philosophischen Roman aristokratisch ein Individuum, im historischen demokratisch das Volk den Helden vorstellt; denn beiderlei Helden lassen sich ebensogut willkürlich idealisieren als modernisieren. Und beides hat unser historischer Roman sattsam besorgt.

Es mag immerhin sein, daß der historische Roman erst durch den Freiheitskrieg, wo die Weltgeschichte wieder einmal erschütternd über den deutschen Boden schritt, bei uns in die Mode gekommen. Allein die romantischen Bivouacs, die schottischen Sansculotten, die Rotmäntler und Baschkiren waren denn doch nicht das Welthistorische dieses Kampfes, sondern die unsichtbare Oriflamme der Begeisterung war es, welche die bewaffnete Völkerwanderung aufgerufen und geführt. Aber diese ist vergessen, und die schmutzigen Baschkiren sind geblieben. So ist ja auch bei Walter Scott, dem eigentlichen Vater unserer historischen Romane, keineswegs die Szenerie und sorgfältige Kostümierung das Bedeutende, diese ist vielmehr oft sehr langweilig; es ist die männliche Trauer, das Tragische des Untergangs einer edlen Nationalität. Was aber haben uns unsere van der Velde, Tromlitz, Blumenhagen u.m.a. dagegen geboten? Nichts als plauderselige Dekoration, Schwertergeklirr, Humpenklang und geharnischte Ritter mit Manschetten unter dem Eisenhandschuh und Gardereiter-Prahlereien im Munde. – Unsere bedeutendsten Romanhistoriker sind unstreitig Tieck in seinem »Aufruhr in den Cevennen« und zum Teil in den späteren Novellen; und Steffens in seinen drei notwegischen Romanen. Und doch sind jene Novellen so wie diese Romane eigentlich nur Tieck und Steffens selbst. Alle Kunst, wenn sie der Philosophie dienstbar ist, wird notwendig allegorisch; und so sind auch die Steffenschen Romane, bei allem oft glücklichen Streben nach Objektivität mehr oder minder bloße Allegorien philosophischer Sätze oder doch Dolmetscher der Lebensansichten des geistreichen Verfassers. Und als Tieck in den Novellen von seiner romantischen Weltschau zur Gegenwart hinabstieg, brachte er auch hier seine ironische Skepsis mit, die allen realen Boden wieder wegeskamotiert und uns nirgend wahrhaft heimisch werden läßt. Das eigentliche Ziel aber des modernen historischen Romans ist, wie schon oben angedeutet worden, in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« am glücklichsten erreicht. Hier hat Goethe den verhüllten Geist einer denkwürdigen Entwicklungsperiode rein und scharf erkannt und ihn, indem er ihn frei walten läßt, mit allen seinen großen Bestrebungen und kleinlichen Torheiten durch eine meisterhafte Darstellung für die Nachwelt festzubannen gewußt. Als ein solcher Sittenspiegel würde in manchen Beziehungen auch Nicolais »Sebaldus Nothanker« gelten können, wenn der ganz prosaische Verfasser nicht beständig den Spiegel nach vorgefaßten Meinungen willkürlich verschöbe und verrückte, um die Dinge, nicht wie sie sind, sondern wie er sie durchaus sehen will, zu schauen; und wenn dieser höchst langweilige Roman vermöge seiner schwerfälligen Trockenheit überhaupt zur Poesie zählte.

Alle diese Romane aber haben das miteinander gemein, daß sie in dem Verlauf der Tatsachen nichts Wunderbares, mithin auch keine göttliche Offenbarung und Leitung anerkennen. Sie dulden keine Götter außer den natürlichen Dingen, die Gottheit waltet allein in dem Naturgeist oder ist vielmehr der Naturgeist selbst, aus dem die Völkerindividuen wie anderes Kraut hervorwachsen. Der historische Roman hat, wie schon sein Name andeutet, allerdings nahe Verwandtschaft mit der Geschichte; und die Geschichte ist ohne Zweifel von hoher, ja bei weitem größerer poetischer Schönheit, als sie irgend ein Dichter je erfinden könnte. Allein sie ist es nur in ihren großen Hauptzügen und in dem wunderbaren Zusammenhange des Ganzen. Der historische Roman aber kann aus dem Ganzen immer nur Einzelnes herausheben, er ist der Kleinkrämer der Geschichte. Um nun diesen Miniaturring in die große fortlaufende Kette einzufügen und einigermaßen verständlich zu machen, wird gewöhnlich ein ganzer Apparat sekundärer Details und Beirats verbraucht. Daher bleiben so viele dieser Romane in der bloßen Exposition, in der umständlichen Beschreibung von Trachten, Turnieren und Redensarten jämmerlich stecken. Andere kühnere Autoren dagegen suchen sich in dieser Not auf dem kürzesten Wege zu helfen, indem sie die Jetztzeit antedatieren und der Vergangenheit frischweg das Kuckucksei ihrer modernen Weisheit unterlegen; gleich wie ja in einem ähnlichen Falle z.B. der Maler Lessing in seine neuesten Historienbilder alle gehässige Konfessionspolemik der Gegenwart hineingemalt hat. Hierdurch wird aber die Geschichtsverderberei, die schon bei Historikern von Metier nichts weniger als selten ist, als ein förmliches System traditionell gewordner Lügen auch in weiteren unwissenschaftlichen Kreisen populär und stabil gemacht; und wir besitzen einen bedeutenden Vorrat von dergleichen Romangeschichten, die rein tendenziös, also weder Gedichte noch Geschichte sind. Und so ist denn die Geschichte dieses Romans eigentlich nur die Geschichte der wechselnden Krankheitssymptome unserer Zeit, und fast alle übersahen vor lauter religiösen, philosophischen und politischen Hintergedanken, daß auch der Roman doch vor allem andern ein Gedicht sein muß.

Ähnliche, nur durch die Verschiedenheit der Gattung modifizierte, Erscheinungen charakterisieren auch unser neuestes Theater. Wir haben oben die historische Strömung des deutschen Dramas nachzuweisen versucht: wie dasselbe in der Gestalt der Mysterien in der Kirche seinen Ursprung genommen, dann, bei wachsender Verweltlichung durch Emanzipation der Zwischenspiele des Mysteriums unter dem Volke allmählich zum Fastnachtsspiele ausgeartet; nach dem Dreißigjährigen Kriege aber, da das Volk verwildert war, in Nachahmung der Franzosen und Italiener als Staatsaktion, als Schäferei und Oper an die Fürstenhöfe gekommen; und endlich, seiner wesentlich demokratischen Natur folgend, zu den reichen und gebildeteren Städten überging, unter denen zunächst Hamburg den Vorrang behauptete. Und hier beginnt, mit Lessing, eigentlich erst unser neues selbständiges Schauspiel.

Allein Lessing war zu kritisch und zu wenig produktiver Dichter, um die neue Bühne, die ihn überdies nur transitorisch als Vorschule seines Scharfsinns interessierte, bleibend zu begründen. In seiner genialen Ungeduld hat er mehr nur die Grundzüge des neuen Schauspiels, wie es ihm vorschwebte, angedeutet, er zeigte eigentlich nur, wie man es nicht machen sollte, ohne das Bessere lebendig verkörpern zu können; und so ließ er die Sache, ehe sie fertig war, wieder fallen, um zu Wichtigerem fortzueilen. Es ist ihm hier wie später in den religiösen Dingen ergangen. Indem er kühn die Schranken der alten Schule niederwarf und die Natürlichkeit dagegen setzte, hatte er am Ende wider Willen nur dazu beigetragen, die allgemeine Anarchie noch zu vermehren. Daher sehen wir, nachdem die romantische Episode abgespielt, in unserem jetzigen Drama fast alle Phasen jener alten dramatischen Strömung, als wäre seitdem eben nichts geschehen, sich von neuem wiederholen, und zwar nicht etwa sukzessiv, sondern gleichzeitig und oft bei ein und demselben Dichter. So gewahren wir häufig wieder mittelalterlich-mystische Elemente und Züge, die aber, da der alte Glaube fehlt, in neuen Aberglauben umgeschlagen. Das alte Fastnachtsspiel, nachdem es seinen Hanswurst begraben, ist unmittelbar von dem Grabe des Dahingeschiedenen weinerlich und in eleganter Hoftrauer als feines Lustspiel mitten unter die Gebildeten getreten. Aber die alte unflätige Natur ist ihm geblieben, und die zahme kokettierende Lüderlichkeit mit der Prätention des Anstandes ist unendlich widerlicher und unsittlicher als die hanswurstische Flegelei. Dieses feine Lustspiel hat, wie alle Parvenus, eine sehr vornehme Miene angenommen. Es verachtet die lustigen Schwänke des Volks, desgleichen die natürliche Intrige und Sprache der einfachen plebejischen Liebe und handelt am allerwenigsten etwa wie Aristophanes oder noch Tieck in seinen Spottkomödien von den großen Welttorheiten und Irrtümern, sondern vertieft sich voll geckenhafter Eitelkeit lediglich in die konventionelle Kleinkrämerei der gebildeten Sozietät; weshalb es denn, bei seiner pedantischen Ungeschicklichkeit, beständig aus Frankreich, wo diese Salon-Kleinstädterei zu Hause, Witz und vornehmen Jargon sich borgen muß. – Auch die grausame Staatsaktion endlich ist von neuem aufgelebt. Die alte Furie rast, nach Blut lechzend, wieder durch unsere Trauerspiele und Melodramen, wo Ehebruch, Blutschande, Notzucht, Mord und Totschlag, Operngebrüll und Paukenknall und eingeschobene Balletts gar anmutig miteinander abwechseln.

Besonders aber machen zwei Erbstücke aus der vorromantischen Zeit: das Schicksal und die Sentimentalität, unseren dramatischen Schriftstellern noch immer viel zu schaffen.

In der alten Tragödie stand die Willkür der Menschen der Willkür der Götter, eine Naturkraft der andern, schroff gegenüber, beide fast gleichberechtigt. Es konnte mithin hier nicht füglich von Aufopferung oder Ergebung, vielmehr nur von einem Kampfe auf Tod und Leben die Rede sein; und dieser Kampf war das heidnische Schicksal. Durch das Christentum aber ist an die Stelle dieses unversöhnlichen Widerstreits eine höhere, erbarmend waltende, göttliche Leitung getreten, deren Wege freilich oft unerforschlich, deren Gedanken, weil sie auf das Ganze des Weltalls gerichtet, nicht unsere Erdwinkelgedanken sind. Um nun diese empfindlich demütigende Weltansicht möglichst zu beseitigen, haben unsere Dramatiker vorzüglich dreierlei Auswege erfunden. Die einen setzen stolz den subjektiven Eigensinn gegen die objektive Wirklichkeit gegebener oder selbstgemachter Lebensverhältnisse, die sie vornehm Schicksal nennen. Allein dieser Eigensinn glaubt im Grunde weder an sich noch an seine Schicksalsfiktion, er hat kein ewiges Recht, sein Schicksal keine göttliche Übermacht, er rennt sich im fünften Akt dummerweise den Kopf ein, und das Schicksal lacht sich schadenfroh ins Fäustchen. Das ist der Liberalismus unserer antikisierenden Trauerspiele. – Andere, zahmer und serviler gesinnt, geben lieber gleich vorweg sich selber auf, indem sie die göttliche Leitung als eine pedantisch unabänderliche Prädestination hinstellen und daher einem völlig undramatischen Fatalismus verfallen. Da hört aber alle sittliche Freiheit und mithin auch aller tragische Kampf gleich im ersten Akte auf; der Held wird ein bloßer Automat, und das Ganze schnurrt wie ein einmal aufgezogenes Uhrwerk, mechanisch willenlos ab. – Die dritten endlich erachten die göttliche Vorsehung, da sie sich unsern hochmütigen Plänen und Gelüsten so gar nicht affabel erweisen will, schlechthin für ein Regime von geheimen Naturkräften, necken den Kobolden, Ahnenfrauen, verhängnisvollen Dolchen etc., die hinter dem Vorhange spuken, um die armen Menschen zu erschrecken und zu ängstigen. Und diese Geisterseher, wie jene Fatalisten, bilden den eigentlichen Stamm unserer Schicksalstragödie, wie sie von Werner aufgebracht, dann von Grillparzer in seinen Anfängen, insbesondere aber von Müllner und dessen Nachahmern des breiteren ausgesponnen worden. Die Sachen sind aber durch das Christentum in dem allgemeinen Bewußtsein durchaus anders gestellt und diese Tragödien mithin nur noch ein leeres Spiel mit hohlen Begriffen. Die neuere christliche Tragödie dagegen hat in der Tat nur eine Bahn: den Kampf mit den dämonischen Kräften, nicht draußen, sondern in der Menschenbrust selbst, die beständig gegen die göttliche Führung rebellieren, und die Versöhnung dieses Kampfes durch die Liebe.

Wir haben vorhin unter den aus der Zopfzeit überkommenen Erbstücken auch die Sentimentalität genannt und dieselbe schon früher als die geschäftige Schönfärberei des an sich Farblosen und Alltäglichen kennengelernt. Seitdem ist aber diese Erbsünde gleichfalls an ihr natürliches Maß herangewachsen und stärker und impertinenter geworden. Sie begnügt sich nicht mehr mit dem harmlosen Vergnügen, die schmutzige Wäsche des häuslichen Philisteriums rein zu waschen, gefallene Mädchen unter die Haube zu bringen usw.; sie verbreitet nun ihre zärtliche Sorgfalt auf den Schmutz der ganzen Menschheit. Die armen, von Religion und Moral bisher so arg bedrängten Sterblichen sollen sich endlich nicht länger genieren und von der trübseligen Delinquentenreligion des bleichen bluttriefenden Juden Christus, der der Welt alle Freuden geraubt, tyrannisieren lassen; zu ihrer größeren Bequemlichkeit und Erleichterung soll fortan die Materie Gott nur der Sinnengenuß heilig und das ganze Leben ein allgemeiner Karneval auf Erden sein. – Viele der neueren Schauspiele, und bei weitem die meisten unserer sozialen Romane, sind offenbare Studien zu diesem Simonismus der Sinnlichkeit. Vorzüglich aber ist dieses menschenfreundliche Evangelium in alle Welt ausgefahren durch unsere modernste Lyrik, die in der Tat bereits ihre Saturnalien feiert und das goldene Kalb des Materialismus jauchzend umtanzt. Einige Melancholiker unter ihnen spielen zwar nebenbei auch noch die Zerrissenen und haben Byrons finstere Maske angetan. Allein Byron war wirklich zerrissen, was immerhin einen tragischen Effekt macht; diese Poeten dagegen zerreißen kindisch sich selbst oder lassen sich vielmehr von ihren imaginären Bestien zerreißen, um wie römische Gladiatoren in der Arena zum Ergötzen des erstaunten Publikums in malerischen Stellungen zu verbluten. Der maitre de plaisir aber auf diesem Karneval ist Heinrich Heine; und es dürfte die Schar seiner Nachtänzer billig entrüsten, daß er, wie es heißt, in seinem Testament sich herabgelassen hat, wieder Gott einzusetzen und die Unsterblichkeit der Seele zu dekretieren.

Ungeachtet dieser ephemeren Erscheinungen indes, ja zum Teil aus natürlicher Opposition dagegen, haben die Stimmungen der Welt sich mannigfach wieder anders verteilt und gestaltet. Schon Novalis, wie wir oben gesehen, sagte prophetisch: daß die Zeit der Auferstehung gekommen und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden. Aus der Vernichtung alles Positiven hebe die Religion ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor; in Deutschland könne man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen.

Und in der Tat, wer erkennt in Deutschland die religiösen Zustände, wie sie zur Zeit der Romantik gewesen, heute noch wieder? An dem Kölner Ereignis sich selbst besinnend, in der herben Schule des Hohns und der Verfolgung seitdem erwachsen und gestählt, erstand überraschend eine unsichtbare Macht, etwas, das niemand erfunden, geführt oder geordnet, das die Romantiker träumten und selber nicht hatten – eine katholische Gesinnung. Und ihr gegenüber hat sich in dämonischem Instinkt aller Ingrimm des alten Rationalismus, der seinerseits konsequent nun beim nackten Heidentum angelangt, trotzig gelagert; Leipziger Plauderkonzile gegen eine Million Trierscher Wallfahrer; emanzipiertes Fleisch gegen das Brot des Lebens, eine Dichtkunst endlich, die keine Poesie mehr ist: eine in Haß und Hoffart betrunkene Rhetorik, die fanatisch die Freiheit des Blocksbergs proklamiert.

Welchem dieser beiden Heereslager, wenn auch vielleicht nach heißen Kämpfen, zuletzt der Sieg bleiben wird, ist uns, mit Novalis, nicht zweifelhaft. Bei dem unverwüstlichen Ernste der Nation wird in Deutschland über kurz oder lang eine der Romantik in ihren ursprünglichen Hauptrichtungen mehr oder minder verwandte Reaktion sich geltend machen, nachdem jene Revolution, immer breiter die Massen durchdringend, einstweilen die Romantiker übergerannt und uns zum Ersatz nichts anderes als die vorlängst abgespielte Aufklärerei, nur mit veränderten Redensarten, wiedergebracht hat. Denn vergeblich will der Rationalismus, wie er sich jetzt als Kirche zu konstituieren strebt, nun auch seine aparte Poesie haben; beides unmöglich, weil er, seiner Natur nach, ebenso antikirchlich als unpoetisch ist. Tröstlich aber und als Pfand der Zukunft bedeutungsvoll ist es, zwischen jenen ungeheuern Staubwolken, aus denen uns nur stechende Augen und von Leidenschaften widerlich verzerrte Gesichter entgegenstieren, schon jetzt immer mehreren Dichtern zu begegnen, die das Herz haben, mitten in dieser Verwirrung einen andern Banner zu entfalten. Wir nennen hier nur Emanuel Geibels »Gedichte«, Adalbert Stifters »Studien«, und Annette von Droste-Hülshoff, die in ihrem »geistlichen Jahr« wahrhaft übermächtig mit den Zweifeln und Versuchungen der modernen Bildung ringt, bis Lust und Schmerz sich in göttlicher Liebe verklären.

Alle guten Geister loben Gott den Herrn. Mit diesem einfachkräftigen Exorzismus haben unsere frommen Vorfahren von jeher allen bösen Spuk gebannt und sind unangefochten hindurchgegangen. So wollen wir denn, auch in der Poesie, desgleichen tun gegen den lärmenden Hexensabbat unserer neuesten unschönen Literatur, wo die Konfusion endlich so groß geworden, daß die Christen heidnisch und die Juden (wie Berthold Auerbach in seinen Dorfgeschichten) christlich dichten. Hat doch die verblichene Romantik die blanke Waffe meisterhafter Formen uns so gut wie jenen hinterlassen, ja, was die Romantik Großes und Edles angeregt und jene nun als mittelalterliche Tradition zurückweisen, ist ein bedeutendes Vermächtnis, das der neuerstarkten katholischen Gesinnung allein zugute kommt, um daraus jener lügenhaften Phantasterei eine wahrhafte Poesie wieder entgegenzusetzen. Nicht durch juvenile Wiedererweckung der Romantik, wie die süßlichen »Amaranthen« und »Sieglinden« vergeblich versucht, noch durch absichtsvolle Kontrovers- und Tendenznovellen, womit die Gegner ihrerseits alle heitere Poesie hinwegdisputieren, sondern einzig durch die stille, schlichte, allmächtige Gewalt der Wahrheit und unbedeckten Schönheit, durch jene religiös begeisterte Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge, wo aller Zwiespalt verschwindet und Moral, Schönheit, Tugend und Poesie eins werden. Gesundheit und Freudigkeit gegen blasierte Zerrissenheit, fromme Naturwahrheit gegen gespreizte Lüge, eine Poesie der Liebe gegen die Poesie des Hasses. Es sei keine Propaganda des Katholizismus; aber eine allem Unkirchlichen durchaus fremde Gesinnung, die alles Leben nur an dem mißt, das allein des Lebens wert ist, und die wir heutzutage getrost eine katholische nennen dürfen; das Ganze umgebend, wie die unsichtbare Luft, die jeder atmet, ohne es zu merken. Denn das ist ja eben das poetische Geheimnis des religiösen Gefühls, daß es wie ein Frühlingshauch Feld und Wald und die Menschenbrust erwärmend durchleuchtet, um sie alle von der harten Erde blühend und tönend nach oben zu wenden. Es sei mit einem Wort: eine der Schule entwachsene Romantik, welche das verbrauchte mittelalterliche Rüstzeug abgelegt, die katholisierende Spielerei und mystische Überschwenglichkeit vergessen und aus den Trümmern jener Schule nur die religiöse Weltansicht, die geistige Auffassung der Liebe und das innige Verständnis der Natur sich herübergerettet hat. – »Es ist nicht not«, sagte schon Brentano einst, »in der Kunst das Vortreffliche anzuschaffen, es ist not, das Schlechte, Falsche, Verkehrte abzuschaffen, denn alles Vortreffliche erblüht aus dem Rechten und Wahren.« Was hat der ewige Himmel mit jenen vorüberziehenden schmutzigen Staubwirbeln zu schaffen? Wandeln doch die alten Sterne noch heut, wie sonst, die alten Bahnen und weisen noch immer unverrückt nach dem Wunderlande, das jeder echte Dichter immer wieder neu entdeckt. Wo daher ein tüchtiger Schiffer, der vertraue ihnen und fahr in Gottes Namen!


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03