Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poesie der modernen Religionsphilosophie Teil 2

Wir sahen oben, in welche Barbarei bis zum völligen Stumpfsinn vor Gottsched das, was man damals in Deutschland Poesie nannte, versunken war und wie athletisch Gottsched in dieser totalen Unwirtschaft aufzuräumen begann. Gottsched hatte gewiß seine Notwendigkeit und sein Verdienst, das wir ihm keineswegs verschränken mögen, indem er der wahnwitzigen Verstiegenheit der zweiten schlesischen Schule, gleich wie man Betrunkene durch ein kaltes Sturzbad nüchtern macht, korrekte Vorbilder entgegenwarf und die schwerfällige deutsche Zunge, wenngleich noch gebrochen und wunderlich genug, doch einigermaßen vernünftig wieder sprechen lehrte. Allein er war ein hochfahrender Grobian und warf mit dem Plunder zugleich alle alten Familienschätze, die er blödsinnig nicht erkannte, zum Fenster hinaus und machte in seinem Rigorismus völlig reine Tafel, wußte aber dann dafür nichts Besseres vorzusetzen als ungenießbare Pariser Schaugerichte. Er meinte es, wenigstens anfangs und bevor ihm der Zorn und Ärger über seine rebellischen Schulmeister zu Kopfe gestiegen, ohne Zweifel grundehrlich, denn dieser langjährige Diktator der deutschen Dichtkunst und Beredsamkeit merkte es ja keineswegs, daß er selbst von der Poesie nicht die geringste Ahnung hatte. Da war nichts als strenge Zucht, keine Liebe, kein religiöser Glaube, kein Gefühl und so bettelwenig Phantasie, daß er nicht einmal die Oper begriff, weil doch kein vernünftiger Mensch in der Leidenschaft singen könne.

In das leere Gefäß der Poesie, das er allerdings gänzlich gereinigt und ausgewaschen hatte, mußte also nun erst wieder ein Inhalt geschafft werden. Den ersten schüchternen Versuch hierzu machte der wackere Hamburger Ratsherr Brockes mit seinem »irdischen Vergnügen in Gott«. Es ist freilich ein trauriger Anblick, wenn das Dasein Gottes überhaupt erst bewiesen und sichergestellt werden soll, und zwar vermittelst der äußeren Sinne durch Betrachtung von Schneeflocken, Nelken, Thymian und anderem Kraut; ein ungeheurer Umweg nach dem Himmelreich, auf welchem übrigens noch heut viele Pädagogen in ihren kindischen Kinderschriften gedankenlos fortschlendern, wo die liebe Jugend ihren Herrgott wie ein Zuckerbrötchen schmecken und riechen soll. Wir können gewiß durch die Idee Gottes, wenn sie in uns bereits lebendig geworden, die äußere Natur symbolisch beseelen, nicht aber umgekehrt diese Idee von der Natur empfangen. Brockes improvisiert eine Art unschuldiger natürlicher Religion, er ist verliebt in die Natur, und seine oft überraschend schönen und treuen Naturschilderungen nehmen sich in dem neunbändigen Buche wie liebliche, sauber gemalte Randminiaturen aus; aber der Text dazu ist so weitschweifig und trocken, daß wir in der Verzweiflung der Langeweile lieber alle Erbauung aufgeben. – Kühner und kräftiger waltet der Schweizer Albrecht von Haller in dieser Region, indem er sie über die Brockesschen Kraut-und Blumengärten zu den ewigen Zinnen seiner väterländischen Berge emporhebt und aus dieser Adlerperspektive wohl auch, z.B. in dem poetischen Philosophem über den »Ursprung des Übels«, den Blick in die dunklen jenseitigen Gebiete schweifen läßt. Wahrlich, könnte das Erschaffene Göttliches offenbaren, so wäre es die tiefe unermeßliche Einsamkeit dieser großen Natur, wie sie Haller in seinem schönsten, gewaltigen Gedicht: »Die Alpen« ergreifend schildert. Aber das feierliche Schweigen der Natur deutet das Rätsel des Lebens nur geheimnisvoll an, ohne es jemals lösen zu können.

Beide, Haller wie Brockes, haben es daher als Dichter in der Religion nur bis zur bloßen Moral gebracht, die an sich bekanntlich niemals an überflüssiger Poesie leidet. Es konnte demnach nicht fehlen, daß sich derselben nun die prosaischen Halbpoeten, denen stets das Moralisieren leichter wird als das Dichten, immer mehr als ihres ausschließlichen Metiers bemächtigen. Unter diesen ist der schon erwähnte Gellert der berühmteste und wirksamste geworden, weil der Mittelmäßigkeit, die bei weitem die Majorität der Lesewelt bildet, das Mittelmäßige stets am verständlichsten und willkommensten ist, solange sie etwa nicht, wie wohl zuweilen durch außerordentliche Geister geschieht, wider Willen in ein ihr wildfremdes Gebiet mit fortgerissen wird, wo sie dann gewöhnlich vor unnatürlicher Anspannung für einen Augenblick in einem übertriebenen und höchst lächerlichen Enthusiasmus ganz außer sich gerät. Gellert war weit entfernt von einem solchen Attentat gegen die Mittelmäßigkeit; es ist aber dennoch nicht ohne psychologisches Interesse für das Verständnis der Zeit, seinen literarischen Lebenslauf hier noch etwas näher zu verfolgen; denn auch er hatte seine bescheidenen Irrfahrten. Erst schifft er sich in einem ihm gar wunderlich zu Gesicht stehenden Anfall jugendlichen Leichtsinns mit schäferlichen Lustspielen ein, die sämtlich noch die Gottschedsche Allongeperücke tragen. Aber die allgemeine Strömung erfaßt ihn, und er segelt in seinem Romane von der schwedischen Gräfin, nicht ohne bedenkliche Anfechtungen und Sympathien, an der Kalypso-Insel der neuen Aufklärung haardicht vorüber. Dann im Dankgefühl für die glückliche Rettung stimmt er geistliche Lieder an, so voll Tugenden ohne positives Christentum, daß sie ihm jeder gebildete Chinese ohne Gewissensskrupel nachsingen könnte; bis er endlich mit seinen Fabeln und Erzählungen auf der ganz neutralen Moral sitzenbleibt. Gellert hat es ohne allen Zweifel überall gut gemeint, doch seine Persönlichkeit gehört der wohlverdienten kindlichen Pietät der Zeitgenossen, keinesweges der Poesie und der Kritik an. Seine Moral hat durchaus etwas Altjüngferliches; es wird aber doch niemand behaupten wollen, daß eine alte Jungfer, und wenn sie noch so fromm und tugendhaft wäre, deshalb jung und schön würde.

Dieser frömmelnde Schulmeisterton war indes bei aller Gutmütigkeit zu trivial und langweilig, um der, nachgrade der Schule entwachsenen, komplizierteren Bildung dauernd zu genügen. Man suchte sich daher allmählich und möglichst  geräuschlos davon loszumachen; so wie denn überhaupt von jetzt ab die deutsche Literatur immer entschiedener den Charakter der Revolution und, wie in allen Revolutionen, einen steten Wechsel von Gegensätzen, von Influenzen und Reaktionen darstellt. Denn die verschiedenen menschlichen Kräfte, Gelüste und Widersprüche, einmal freigegeben, müssen sich erst kämpfend aneinander messen und formulieren, um sich selbst zu begreifen und, will's Gott, endlich ein Gleichgewicht und eine Versöhnung wiederherstellen zu können. So ging man denn auch hier auf demselben außerkirchlichen Boden gemütlich einen Schritt weiter. Das Prinzip blieb und wurde nur anders aufgefaßt, indem man jener still vegetativen natürlichen Religion eine mehr plastische Naturreligion unterschob, deren Bibel nicht mehr Konfuzius, sondern Horaz, und von ihm das: carpe diem der eigentliche Kanon war. Der altväterschen, etwas schwierigen Kunst, selig zu sterben, wurde die bequemere und daher bei weitem plausiblere Kunst, glückselig zu leben, substituiert; eine vergnügliche Genußreligion, wo die Weisheit nur an sich denken sollte, auf daß es ihr wohlgehe auf Erden. Diese Weisheit zog sich daher auf ihr Tuskulum eines philosophischen Quietismus zurück, von dem sie alle großen Leidenschaften, die die Welt bewegen, sorgfältig abwehrte. Darum nahm sie auch noch ein gut Stück Moral mit hinüber, nicht um der Moral willen, sondern weil alle Unmäßigkeit geistig und leiblich den Magen verdirbt, mithin den ruhigen Genuß stört. Wollten aber diese Philosophen mit der Welt, galant wie sie damals war, in unangefochtener Zufriedenheit leben, so mußten sie natürlicherweise vor allem den antiquitätischen Bart und Magierrock ablegen und möglichst elegant im Frack auftreten, der nur in Paris proberecht zugeschnitten wurde. Handelte es sich ja doch überhaupt hierbei weniger um die ewig gleiche Sittlichkeit, als um die ewig veränderliche Sitte, nicht um den Anstand der Tugend, sondern um die Tugend des Anstandes. Man nannte es daher die Poesie der Grazien.

In der vordersten Reihe erscheint hier Friedrich von Hagedorn (1708–54), nicht nur als der erste, sondern auch als der ausgezeichnetste. Hagedorn hatte den großen Vorteil, daß er sich sein Tuskulum nicht, wie die meisten anderen, erst abstrakt zu erbauen und einzurichten brauchte, es war sein angebornes Erbteil. Von Natur genügsam und fröhlich gestimmt, äußerlich in einer glücklichen, unabhängigen Lage, repräsentierte er selbst leibhaftig jene angenehme Philosophie und dichtete daher sorglos, wie er lebte und fühlte. Selbst wo er sich mit Chapelle, Pellison, Pavillon und anderen lockeren Gesellen leichtfertig auf den schlüpfrigglatten Pariser Salonboden begibt, bewegt er sich mit gewandter Sicherheit und liebenswürdiger Naivetät; überall eine für jene Zeit überraschende natürliche Leichtigkeit der Sprache und eine gesellige Heiterkeit, zu der sich seine Nachfolger Uz, Zachariae, Pfeffel etc. nur allzuoft sichtbar erst anstrengen und zwingen müssen. Diese größere Geistesfreiheit bewahrte ihn auch vor jener gelehrten Pedanterie einer stereotypen Freude, wie sie uns nach ihm in den Wein- und Gesellschaftsliedern der vorhin Genannten gleichfalls häufig anwidert. Ja, Hagedorn war sogar der erste, der, die beschränkte Umschau erweiternd, durch seine »Betrachtungen über die Malerei« auch die bildenden Künste in den Kreis dieser imaginären Einsiedlerschaft zog.

Dieser behäbige Glaube fand begreiflicherweise sehr bald seine Gemeinde, deren Vorstand über ein halbes Jahrhundert lang Gleim gewesen, und von dessen Heimat sie die Halberstädter oder auch die Hallesche geheißen ist. Gleim (1719–1803) war kein Dichter, er legte sich bloß den Hagedornschen Nachlaß in seiner etwas faseligen Art bequemer und praktischer zurecht. Der Kern seiner Lebensweisheit ist ein durch philosophische Würde und Anmut aufgesteifter Epikureismus, oder in Versen:

»Unschuldige Jugend, dir sei es bewußt, nur Feinde der Tugend sind Feinde der Lust,Ja Jugend und Freude sind ewig verwandt, es knüpfte sie beide ein himmlisches Band;ein reines Gewissen, ein ehrliches Herz, macht munter zu Küssen und Tänzen und Scherz.«

Er griff daher nach allen Seiten unermüdlich nach allem, was in diese lustige Moral einzuschlagen und sie irgend zu stützen schien. Er machte anakreontische, horazische, petrarkische und Minnelieder; d.h. er nannte es so, denn in der Tat hat es nicht die geringste Ähnlichkeit und keinen anderen Rapport damit als ein totales Mißverständnis jener großen Dichter. Ja, er versuchte sogar, da seine »Schäferwelt« in Hamburg als ketzerisch verbrannt worden war, jene neuen Offenbarungen in seinem »Halladat« vermittelnd in das Christentum einzuschmuggeln. Und doch weiß man, daß dieser Halladat nur aus einer gelegentlichen Bekanntschaft mit dem Koran hervorgegangen ist. Wie bloß konventionell überhaupt diese ganze Poesie war, zeigt sich, grade des inneren Kontrastes wegen, am schlagendsten in seinen »Kriegsliedern eines preußischen Grenadiers«. Hier war endlich einmal ein großer und populärer Stoff, von der allgemeinen Begeisterung der Zeit getragen. Dennoch hielt es Gleim für unerläßlich, auch diesem Grenadier einen tüchtigen Zopf von mythologischer Gelehrsamkeit und vornehmer Schönrednerei anzuhängen, der ihn dem Volke, zu dem er doch singen sollte, völlig fremd und unkenntlich macht. Gleims Bedeutung liegt daher keineswegs in seiner dichterischen Produktion, sondern in der Propaganda, die er machte, in seiner gutmütig leichtgläubigen, unendlich rezeptiven Persönlichkeit und dem zudringlichen Enthusiasmus, womit er allen Poeten, guten und schlechten, brüderlich um den Hals fällt. Es gibt auch in den literarischen Steppen von Zeit zu Zeit gewisse Karawansereien, deren Besitzer aber mehr mit der Wirtschaft als mit der Poesie zu schaffen und bei der Aufnahme des Genius, anstatt des besseren Teils der Magdalena, den der hülfreichen und rastlos geschäftigen Martha erwählt haben. Eine solche Karawanserei war Gleims »Hüttchen« in Halberstadt, das in stetem Wechsel Wandermüde und Jugendfrische, Ehrenmänner und poetisierende Vagabonden auf ihrer Wallfahrt nach dem Parnaß beherbergte. Zehrung und Entgelt waren: Lob und Gegenlob, beides mit doppelter Kreide. Auch der ältere Jacobi verkehrte dort eine Zeitlang und setzte später, nur in größerem Stil, in Pempelfort die Wirtschaft fort, wo jedoch zum Teil schon vornehmere Geister einsprachen.

Um Gleim gruppierten sich mehrere jugendliche Dichter, die ihn fast alle weit übertrafen, von denen wir aber, da sie keine neue Bahn gebrochen, hier nur die hervorragendsten kurz erwähnen wollen. Unter ihnen stehen unbedenklich Kleist und Uz obenan. Christian Ewald von Kleist (1715–1759) wurde durch Gleim zum dichterischen Selbstbewußtsein geweckt und blieb dafür dankbar bis zu seinem Tode sein treuester Freund. Er hängt jedoch mit diesem Kreise eigentlich nur lose durch seine quietistische Gemütsrichtung zusammen, sein Epikureismus, wenn man es noch so nennen will, war von der edelsten Art: der Hang zum ländlichen dolce far niente. Wie tief er aber das Stilleben der Natur und ihre Schönheit empfand, hat er in seinem berühmtesten Gedichte »der Frühling« kundgetan, dem Fragmente einer größeren, unvollendet gebliebenen Dichtung über das Landleben. Doch konnte ihn diese weichliche Ruhe nicht dauernd befriedigen, ein fast melancholischer Klang elegischer Klage weht durch alle seine Dichtungen, er sehnte sich aus den engen stillen Tälern in die bewegte Welt der Taten hinaus. Und seine Sehnsucht sollte erfüllt werden: der Sturm des Siebenjährigen Krieges riß ihn mit fort, und er focht und fiel heldenhaft in der Schlacht von Kunersdorf. – Auch Uz war eine ernstgestimmte Natur. Er tändelte nur eine Zeitlang, und zwar sinnreicher und gehaltener als die andern, mit den Halberstädtern und ging dann, seinem eigentlichen Berufe folgend, zu der seraphischen Ode Klopstocks über. – Dagegen vertiefte sich Zachariae gänzlich in die Parfümwolke von Amoretten und trug die leichtfertige Spielerei sogar in das Epos, das sich nun, nach Popes Vorgang, englisieren und zum sogenannten komischen Heldengedicht bequemen mußte. Seine Heldengedichte: »das Schnupftuch«, »Phaeton und Murner« etc., sind aber gar nicht komisch, sondern höchst langweilig und längst vergessen. Nur sein »Renommist«, wo ihn die Darstellung des wirklich Erlebten zur Naturwahrheit zwang, ist als eine ergötzliche Schilderung der damaligen Studentenwirtschaft bis auf uns gekommen. – Auch Johann Georg Jacobi war in Arkadien und schrieb entzückte Liebesbriefe an Gleim, der seinem »Jacobitchen« dafür zehntausend versiegelte Küsse zurückschickte. Er studiert mit den andern die Unsterblichkeit in der Verwandlung der Blumen, hält den Untergang der Erde für unmöglich, weil der Geliebten Fuß ihren Boden betrat, lacht pflichtmäßig über das Pfaffenwesen und macht, da er selbst Kanonikus in Halberstadt wird, während der nächtlichen Noviziatswache in der Kapitelstube ein Liebeslied an Bellinde. Goethe nannte ihn ganz treffend ein kindisches Ding. Aber Jacobi war zugleich eine flexiblere Natur als seine anderen Sangesgenossen und hat daher später, wo ihm der Aufschwung der neueren und mächtigeren Dichter imponierte, sich an diesen, in seiner »Iris«, auch noch zu mehreren trefflichen und völlig unarkadischen Liedern emporgehoben. – Nur der evangelische Pfarrer Götz konnte sich aus den Rosengirlanden niemals herauswickeln und blieb auf seiner »Mädcheninsel« sitzen, mit welcher er, wahrscheinlich des französierenden Geschnörkels wegen, sogar den Beifall oder vielmehr die mitleidige Nachsicht Friedrichs des Großen erwarb. Wie sehr indes dieser alberne Grazienkultus überhaupt nur äußerlich und eine bloße üble Angewöhnung war, zeigt u.a. auch die Ängstlichkeit, womit Götz seine Poesien selbst vor der eigenen Familie geheimhielt und sich einer Weisheit schämte, welche ein anderer Halberstädter: Michaelis, am bündigsten mit den Worten umschreibt: »Mein Standpunkt ist dieses Rund; was außer ihm liegt, gehört nicht meinen Sorgen; der Erdball aber ganz, und meinem Geiste ward Licht, mein ganzes Wohl, das dieser Ball verflicht, auf diesem Balle ganz mir aufzuklären.«

Man hat diese Poeten in neuerer Zeit häufig mit den Minnesängern verglichen. Der Vergleich paßt nur insofern, als sie allerdings ihre Poesie mit dem Ende des Minnegesanges angefangen haben, mit der laxen Moral, mit der allegorischen Konfusion und Verkünstelung der letzten Minnesänger. Aber der Minnegesang ging vom volksmäßigen Marienkultus aus, dessen Schönheit auch die irdischen Frauen mit himmlischem Glanz verklärte; er hatte einen durchaus nationalen Hintergrund. Jene Grazienjäger dagegen standen gleich ursprünglich mitten in einer vergilbten heidnischen Mythologie, die nur die Gelehrten interessieren konnte. Die Minnesänger feierten wirkliche, lebendige, wenngleich phantastisch idealisierte Frauengestalten, sie dichteten in Wald und Feld, zu Roß, auf ritterlichen Heldenfahrten, sie sangen wie sie lebten, und sie lebten poetisch; während die Anakreontiker sich in ihren dumpfigen Studierstuben mit bloßen Chimären, mit Nymphen und Sylphiden herumherzten und gleichsam den Lebenswein aus leeren Flaschen tranken.

Eine solche Poesie konnte natürlich nur mit dem etwas sentimental gefärbten Verstande gemacht und demnach auch nur vom Verstande erzogen und gerichtet werden. Ähnliche Verhältnisse pflegen aber überall dieselben Erscheinungen hervorzurufen. Kein Wunder daher, daß, wie ehemals Gottsched, auch jetzt ein nüchterner und poetisch völlig impotenter Mann sich als Schultyrann dieses fröhlichen Gebiets bemächtigte. Ramler machte es zu seiner nicht beneidenswerten Lebensaufgabe, die Gedichte aller seiner Zeitgenossen durchzukorrigieren, er war der poetische Exerziermeister seiner Zeit, das kritische Gewissen der Dichter, die sämtlich, selbst Gleim und den jungen Lessing nicht ausgenommen, mit liebenswürdiger Unbefangenheit und Resignation ihre Manuskripte seiner diktatorischen Schere unterwarfen. Beide Teile taten recht daran; die Dichter, denn ihre Darstellungsweise war ebenso salopp als ihre Moral; und Ramler hatte gleichfalls recht, das ganze leere Formelwesen lediglich formell anzufassen und, ohne nach Individualitäten zu fragen, an denen doch nichts zu verlieren war, alles nach einer Schablone, die man damals Geschmack nannte, zurechtzustutzen. Er selbst hat es niemals über eine ziemlich pedantische Nachahmung und Übersetzung von Horaz gebracht, und seine besten Leistungen, die Oden an Friedrich den Großen, haben bei weitem mehr patriotischen als poetischen Wert; aber seine strenge und saubere Technik hat mit mehreren Modifikationen bis zu unserer Zeit nachgewirkt.

Der eigentliche Großmeister aber jenes galanten Cotillonordens war Wieland. Erst durch Wieland wurde diese gemütliche Faselei in ein förmliches System und somit zum allgemeinen Selbstbewußtsein gebracht; es war in seiner Spitze und Vollendung der philosophisch formulierte Egoismus des sinnlichen Genusses. Um nun diesen Egoismus einerseits rechtfertigend zu begründen und andrerseits vor aller Störung möglichst zu verwahren, stellt Wieland die Poesie, die doch ihrer Natur nach eben das Höhere andeuten und erstreben will, gradezu auf den Kopf, indem seine ganze Dichtung klarmachen soll, daß es für den Menschen überhaupt nichts erreichbar Höheres, Großes und Edles gebe, welches er daher überall, wo es seiner Theorie hindernd in den Weg tritt, als bloße Illusion der Schwärmerei dem Witz und Spott der französischen Salonweisheit preisgibt. Dasselbe hat später auch Kotzebue getan; aber Wieland tat es ehrlich aus einem großen moralischen Irrtum, um die Menschheit zu beglücken, und Kotzebue aus Gemeinheit und leichtsinniger Bosheit, um die Menschen zu ärgern. Nur das Motiv also ist verschieden, der Effekt bleibt immerhin derselbe, und bei dem bedeutenden Einfluß, den Wieland auf die geistige Stimmung fast eines halben Jahrhunderts ausgeübt, lohnt es wohl der Mühe, sein Verfahren im einzelnen etwas näher zu beleuchten.

Zunächst fing auch er, wie die Halberstädter den Minnegesang, das Antike von hinten an, er merkte sich vom klassischen  Altertum nur die sittliche Fäulnis seines Verfalls, von der plastischen Schönheit das Nackte, von der durchsichtig heiteren Lebensansicht die Liederlichkeit, von den Philosophen den Epikur und nimmt sich in seinem französischen Frack nirgend verwunderlicher, ja possierlicher aus als unter den alten Griechen. So liebäugelt z.B. sein »Diogenes« aus seiner Tonne mit schönen Mädchen und spielt gegen einzutauschende Küsse den galanten Ratgeber. Gegen die hohe Bedeutung einer ganz anderen Welt richtet sich sein »Don Sylvio von Rosalva, oder der Sieg der Natur über die Schwärmerei, eine Geschichte, worin alles Wunderbare natürlich zugeht«. Aber dieser Don Sylvio kämpft zu zaghaft und versteckt, um aus solchem Hinterhalt etwas Erkleckliches ausrichten zu können. Er stichelt auf den Geschmack an französischen Feenmärchen, die niemand kennt, und meint damit eigentlich den alten Wunderglauben des Mittelalters, ebenso stichelt er auf den neuen Klopstockschen Aufschwung, was aber niemand merkt; so daß das Ganze sich als ein völlig vergebliches Scheingefecht verläuft. Mit größerem Recht bietet er gegen Richardsons allerdings ziemlich ungesunde Tugendhelden, die damals namentlich alle Weiberherzen eroberten, die Ritter des sogenannten gesunden Menschenverstandes auf; allein diese sind, trotz aller affektierten Natur und Wirklichkeit, ebensosehr nur gemachte Bücherhelden und jedenfalls noch unpoetischer als die Richardsonschen. Endlich dreister in immer weiteren Kreisen um sich greifend, stellt er überhaupt das Göttliche und Tierische im Menschen einander gegenüber und läßt, bei aller salbungsvollen Schönrednerei, das letztere, als verstünde sich das ebenso von selbst, regelmäßig siegen; z.B. in seinem »Agathon«, wo er geständlich sich selbst schildert, und dessen jugendlicher Platonismus, Unschuld und Glauben zuletzt an den Buhlerkünsten der Danae und der (eigentlich modern englischen und französischen) Philosophie des Sophisten Hippias kläglich scheitern muß. Dasselbe Thema variiert er in seiner »Musarion«, welche zwei starrköpfige Philosophen, einen Stoiker und einen Pythagoräer, durch ihre Nymphen und ihren Wein von ihrer exzentrischen Moral kuriert. Wie sein Diogenes junge Mädchen, so belehrt hier eine Hetäre ihren sentimentalen Geliebten Phanias über die verlorene Mühe des moralischen Rigorismus und bekehrt ihn zu ihrer angeblich stichhaltigeren leichtsinnigen Moral durch leichte Scherze, womit sie das Überspannte auf eine sanfte und unmerkliche Art vom Wahren abzuschneiden weiß, durch sokratische Ironien und ihre »Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur, die mit all ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen«. Diese Lehre wird vom Autor ausdrücklich die Philosophie der Grazien genannt. Was wir aber unter einer solchen Grazie eigentlich zu verstehen haben, deutet er uns selbst gelegentlich an: eine Sünderin, die alles, was schön und liebreizend und bezaubernd ist, in ihrem Geist und in ihrem Umgange vereinigt; tadelnswürdig, insofern sie eine Sünderin ist, gleichwohl aber ausgeschmückt mit Witz, Geschmack, feiner Empfindung, Lebensart, Kenntnissen, Talenten, kurz mit tausend Verdiensten, »die selbst auf ihre Sünden ein sanft gebrochenes Zauberlicht werfen«.

Von solchem ewigen Abwägen und Schaukeln zwischen Idee und Tierheit, wo Gutes und Böses beständig einander wechselseitig neutralisieren, kann notwendig zuletzt nur der Nihilismus eines völlig nüchternen juste milieu zurückbleiben. Auch Wieland hat es daher, trotz seines Grundsatzes: »mit dem Kopfe Freidenker, im Herzen tugendhaft«, weder zur Tugend, noch zu Voltairescher Freigeisterei, sondern nur zu einem protestantischen Rationalismus, als Schriftsteller weder zur Philosophie noch Geschichte, weder zum Drama noch Epos, sondern lediglich zu einem Mittelding von allem diesen, zum sogenannten philosophischen Halbromane gebracht. Am augenfälligsten zeigt sich diese »Weisheit der Mitte« in seiner Auffassung der Liebe, die, z.B. in »Idris«, weder platonisch noch sinnlich sein soll. Das wäre also ungefähr das bekannte Messer ohne Griff, an dem die Klinge fehlt. Aber an dem Autor selbst sollte sich unglücklicherweise sehr bald bewähren, was er, wie in prophetischem Vorgefühl, in seinem »Theages« der Aspasia in den Mund gelegt: »Diese beiden Amors (der geistige Amor und der sinnliche Cupido) sind sich nahe verwandt, und es ist oft geschehen, daß sie ihre Kleidung gewechselt haben und daß der leibhafte Cupido erschienen ist, das Wort zu halten, welches der platonische Sylph gegeben. Cupido ist ein wahrer Proteus, der sich so gut in einen Platoniker als in eine Franziskanerkutte maskieren kann, und wenn er die Dame Phantasie auf seiner Seite hat, so weiß ich nichts, was die beiden Schelme nicht ausrichten könnten.« Und in der Tat, diesem Schelm Cupido gelang das Unerhörte, der ehrbaren Familienvater Wieland in seiner Nadine und den scherzhaften Erzählungen plötzlich weit über die Grenzen seiner eigenen liberalen Grazien hinaus in das bodenlose Gesümpf der obszönsten Lüsternheit zu verlocken.

Das endliche Resultat aber aller dieser moralischen und unmoralischen Räsonnements und Darstellungen ist eine Art von Naturreligion, die er in seinem »goldenen Spiegel« unter der Leitung des weisen Psammis der Glückseligkeit eines kleinen Staates zum Grunde legt. Psammis lehrt nämlich in der Hauptsache: »die Natur habe alle unsere Sinne, jedes Fäserchen unseres Wesens, unser Gehirn und unser Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht; vernehmlicher konnte sie nicht sagen, wozu sie uns geschaffen habe. Wäre es möglich gewesen, uns des Vergnügens fähig zu machen ohne den Schmerz, so würde es geschehen sein. Solange man aber den Gesetzen der Natur folge, werde der Schmerz das Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden. – Man genieße jeden Augenblick, aber ohne Mäßigung werden auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, der den Keim eines künftigen Vergnügens zernage. – Mäßigung sei Weisheit, und nur dem Weisen sei es vergönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenke, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versage sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, um sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommneren Genusse aufzusparen. – Nie suche man einen höheren Grad von Kenntnis; man wisse genug, wenn man gelernt habe, glücklich zu sein. – Keine Lust, kein angenehmes Gefühl sei versagt, das die Natur uns zugedacht habe. – Die Mäßigung werde nur empfohlen, weil sie unentbehrlich sei, vor Schmerzen zu bewahren und immer zu Freuden aufgelegt zu er halten. – Der Gehorsam gegen die Gesetze der Natur befehle, die Sinne zu ergötzen. – Der betrügliche Unterschied zwischen Nützlich und Angenehm sei daher aufgehoben; denn nützlich sei nur, was uns vor Unlust bewahre oder eine Quelle des Vergnügens sei.« – Hiernach sollen auch in diesem Musterstaate die Kinder vom dritten bis zum achten Jahre größtenteils sich selbst, das ist der Erziehung der Natur, überlassen werden und nach später empfangenem Unterricht gelehrt genug sein, wenn sie imstande sind, ihre Verfassung für die beste zu halten und um Künste und Wissenschaften niemand zu beneiden. Im dreißigsten Jahre aber ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen usw. Zuletzt muß denn der weise Psammis selber eingestehen: »unser Volk ist ein Völkchen von ausgemachten Wollüstlingen; aber desto besser für uns!« Und dieses ganze Eldorado ist nicht etwa, wie es allerdings den Anschein hat, ironisch, sondern vollkommen ernst gemeint. Man sieht also auch hier, daß, da der Mensch doch irgend etwas glauben will, mit dem religiösen Unglauben der politische Aberglaube stets Hand in Hand geht.

Das Beste, was Wieland vermochte, hat er in zwei Werken von sehr verschiedener Richtung gegeben: im Oberon, und in den Abderiten. Allein im Oberon ist er offenbar nicht sattelfest genug zum Ritt ins alte romantische Land; dieses Hüons-Horn hat einen falschen Ton aufgeklärter Ironie, die nebst der Zauberei auch die Romantik vernichtet; und der Angelpunkt, um den sich eigentlich das Ganze dreht, ist auch hier wieder jenes »liebenswürdige Ding« von Herzen, an dem die verliebten Helden Schiffbruch leiden. Die Abderiten dagegen sind, ohne dergleichen phantastische Anfechtungen, bloß mit dem »gesunden Menschenverstande« gearbeitet, und es ist ihm daher hier ein sehr ergötzliches Bild des Kampfes zwischen Spießbürgertum und Weltbürgertum gelungen, in welchem der Philosoph Demokrit sich lachend die Märtyrerpalme erwirbt.

Man hat Wieland oft nachgerühmt, daß er zuerst den Mut hatte, die Poesie aus den Fesseln der Religion und Moral zu befreien. Das tat er wirklich, und er hatte ganz recht, denn eine gefesselte Poesie nützt weder der Religion noch der Moral. Nur geht er dabei von der seltsamen Voraussetzung aus, daß die Menschheit lediglich durch Erfahrung zu belehren und zu veredeln sei und daß man ihr folglich auch in der Poesie nicht Ideale, sondern die Menschen genau so vorführen müsse, wie sie wirklich sind. Hier ist aber ein doppelter Irrtum. Denn einmal wird, wie das Sprichwort und die Geschichte lehrt, durch Erfahrung niemand klug, geschweige denn tugendhaft, wozu vielmehr ganz andere Hebel und Flügel gehören. Auch heißt wohl jenes Prinzip im Grunde eben nichts anderes, als durch eigenen Schaden klug werden. Nun wäre es aber doch ein gar zu wunderliches und gewagtes Verfahren, jemanden erst aufs Glatteis zu schicken, um zu probieren, ob er fallen wird, oder um ihn, wenn er gar einbricht, hinterdrein menschenfreundlich retten zu können; ganz abgesehen davon, daß es ein Widerspruch in sich ist, die kranke Wirklichkeit durch die Wirklichkeit, die ja eben gebessert werden soll, kurieren zu wollen. – Sodann soll die Poesie allerdings keine Magd, weder der Religion noch der Moral, sein, sondern durch ihre eigentümliche Zauberformel die Schönheit, wie und wo immer sie verborgen leuchtet, aus den Banden der tölpelhaften Riesen und Drachen und pfiffigen Philister erlösen. Aber die gemeine Wirklichkeit und ihre Laster, sie mögen sich noch so kokettisch-grazienhaft ausschmücken oder verschleiern, sind nirgend schön. Dagegen geht durch alle Zeiten und Völker das unvertilgbare Gefühl einer höheren, überirdischen, geheimnisvollen Schönheit, die der Religion, der Sittlichkeit und der Poesie gemeinsam ist und ohne welche die letztere in hochmütiger Absonderung niemals wahrhaft bestehen kann.

Daß aber Wieland dennoch so großen Sukzeß hatte, verwundert uns nicht im mindesten. Seine Irrtümer und Mängel waren eben das Steckenpferd der Zeit, und seine nüchterne Religionsphilosophie war gar zu niedlich, bequem und für jeden Komfort besorgt, um nicht alle materialistische Mittelmäßigkeit und allen invaliden Glauben, der doch am Ende auch seine anständige Kirche haben will, in gerechtes Erstaunen und Entzücken zu versetzen. Auch das befremdet uns keineswegs, daß er auf dem Pegasus ein ausgemachter Libertin und zu Hause ein ausgemachter Philister war, denn die Libertinage ist doch eigentlich auch nur eine anders gefärbte Philisterei, und er war kein selbständiger Charakter, vielmehr nur der Repräsentant und Sprecher der Charakterlosigkeit seiner Zeit, die er nicht bestimmte, sondern von ihr gestimmt wurde. Weich, biegsam, gutmütig und bis zum Exzeß für alles empfänglich, was nicht eigene Kraft erfordert, schwankte er daher beständig zwischen den Extremen der schwankenden Zeit, seinem Wahlspruch zufolge: daß wir nur »durch öftere Veränderungen in unserer Art zu denken« gut und weise werden. Erst dichtet er mit dem frommen Bodmer an einem Tisch Psalmen und Patriarchaden und eifert gegen Gleim und Uz als »schwärmende Anbeter des Bacchus und der Venus, die man für eine Bande epikurischer Heiden halten sollte«. Aber schon damals blickt er zugleich bedenklich seitwärts aus seiner »sublimen Glückseligkeit« und bekennt, »daß die Damen der Hauptressort seines Geistes gewesen und daß er ohne sie selbst seine christlichen Empfindungen nicht geschrieben hätte«. Dann, im Hause des Grafen Stadion mitten in das gelobte Land der modernsten Aufklärung versetzt, legt auch, wie der scharfblickende Lessing vorausgesagt, die junge Wielandsche Muse, die so lange die Betschwester gespielt und sich eine verständige erfahrene Miene anzunehmen bemüht hatte, plötzlich ihr altväterisches Käppchen ab und verwandelt sich in eine muntere Modeschönheit. In Weimar endlich war der inzwischen altgewordenen Muse die neue Zeit über den Kopf gewachsen, in der sie sich nie wieder ganz zurechtzufinden wußte.

Wir sind hiernach weit entfernt, über Wielands Persönlichkeit rechten oder richten zu wollen; die Sünde seiner Poesie war sicherlich nicht Lüge, sondern menschliche Schwäche. Aber ebenso gewiß hat seine leichtfertige französierende Lebensansicht für lange Zeit die deutsche Poesie frivol und die Kotzebues etc. möglich gemacht. Auch leugnen wir keineswegs, daß er die äußeren Formen, namentlich der Prosa, in einen leichteren und anmutigeren Fluß gebracht. Allein diese ganz ins Allgemeine gehaltene, schlüpfrigglatte Salonsprache ist uns stets wie eine Übersetzung aus dem Französischen vorgekommen. Dennoch wird sie noch bis heute oft als Mustersprache angepriesen. Als ob es überhaupt einen Normalstil gäbe für Poeten, deren jeder seinen eignen mitbringt, wie jeder ausgeprägte Charakter sein Gesicht.

Von Wielands Nachfolgern ist Moritz August von Thümmel (1738–1817) unstreitig der geistreichste, nicht wegen seiner ganz unbedeutenden Jugendschriften: »Wilhelmine« und die »Inokulation der Liebe«, die sich fast nur wie Wielandsche Stilübungen ausnehmen, sondern durch sein berühmtestes Werk: »Reise in die mittäglichen Provinzen Frankreichs«. Hier wird das Heilverfahren, womit Wieland die imaginäre Griechenwelt reformieren wollte, praktischer auf einen bücherversessenen deutschen Gelehrten angewandt und dieser durch Wein, schöne Mädchen und französische Lebensweisheit glücklich von seiner hypochondrischen Unschuld kuriert. Zwar hat der Genesene zuletzt, man sieht nicht recht warum, wieder einen höchst bedenklichen Rückfall, und der Autor desavouiert förmlich das ganze Heilverfahren; allein dieser moralische Zensurklecks am Schlusse vermag keinesweges das brillante Kolorit des lüsternen Hintergrundes wieder auszulöschen. – Wohin aber die Wielandsche Richtung geringere Geister führen mußte, zeigt sich vorzüglich bei den beiden Österreichern Alxinger und Blumauer. Alxinger hat in seinem »Doolin von Mainz« und »Bliomberis« den Oberon verballhornt und Blumauer, z.B. in seiner Travestierung der Aeneide, die Grazienscherze Wielands zu gemeinen und übelriechenden Späßen verbraucht. Ja, ein liederlicher Dichterling durfte es, freilich zu Wielands unbegreiflicher Überraschung und Entrüstung, wagen, ihm seine unzüchtigen Gedichte in Grécourts Manier mit einem salve frater zu dedizieren.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03