Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Einleitung

Die Poesie der modernen Religions 1. Teil

Die ganze Literaturgeschichte der Reformation ist hiernach fast nur eine Kriegsgeschichte der streitenden Parteien und ihr eigentlicher Kampfplatz der theologische. Selbst nach dem noch immer wild schönen Dreißigjährigen Kriege, wo das Mittelalter totgeschlagen wurde, zanken sie fort, da die Todmüden nicht mehr fechten können, und zerfleischen einander wenigstens mit Worten; ein wüstes Plänkeln polemischer Nachzügler, immer matter, ferner und unverständlicher vertosend. Das Alte liegt in Trümmern, zwischen denen ein heimatloses Geschlecht, das von der Vergangenheit nichts weiß, aus den Knochen der Erschlagenen bleich und gespenstisch hervorstieret, und auf den Trümmern werden statt der alten Dome hölzerne Notkirchen gebaut und statt der Burgen viereckige Familienkasten zur Unterkunft der neuen Industrie-Ritterschaft.

Doch der Friede war, wie in der Politik der westfälische, auch auf diesem Gebiete nur scheinbar; die einmal national gewordene Zwietracht glomm, nicht bloß zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb derselben, unter dem Schutte fort und setzte, nachdem die welschen Winde darüber hingefahren, nicht mehr Städte und Länder, aber die Geister in Brand. Da man aufhörte zu glauben, fing man an, über den Glauben zu philosophieren. Denn alle Philosophie kann sich von ihrer ursprünglichen geheimnisvollen Heimat nicht lossagen und geht, wo sie redlich die Wahrheit sucht, stets auf die Lösung der höchsten und letzten Fragen: auf die Religion.

Leibniz stand noch auf der welthistorischen Wetterscheide zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen Glauben und Denken. Er hatte von beiden vollauf und daher tiefgreifende leuchtende Ahnungen der göttlichen Wahrheit; aber er war zu zaghaft, konventionell und höflich, um es deshalb mit einer ganzen andersgesinnten Welt aufzunehmen. Der trockene Wolff, der Leibniz niemals verstand, wandte dessen kühne mathematische Kombination kleinlich auf die Logik und Moral an und wollte eine mathematische Religion wie ein Rechenexempel konstruieren. Kant war der eigentliche Philosoph der Reformation, indem er die einmal emanzipierte menschliche Vernunft nun auch ganz folgerecht zum waltenden Prinzip erhob. Aber er war auch der ehrlichste unter ihnen; er fragte nicht, was die Welt sei, sondern nur, wie sie von der menschlichen Vernunft wahrgenommen werde; er tolerierte jenseits ein geheimnisvolles Gebiet, in das die Vernunft nicht einzudringen vermag; die Vernunft soll daher in dieser Abgeschiedenheit und Resignation sich selbst genügen, sich http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0680.pngselber Sittengesetz und Tugend, also im Grunde eine Religion ohne Gott sein. Bei weitem entschlossener, kühner und ungestümer bricht Fichte über diese Kantsche Grenze hinaus, bis zur Vergötterung des reformatorisch emanzipierten Subjekts. Die Welt ist nichts, sie existiert nur in der subjektiven Vorstellung, das absolute Ich ist die Welt. – Inzwischen hatten schon früher einige fremde Eroberer die dämmernde Geisterverwirrung in Deutschland zu bedeutenden Invasionen benutzt, und zwar fast gleichzeitig in ganz entgegengesetzten Richtungen. Der immer redliche Rousseau übertölpelte uns durch stürmische Beredsamkeit mit seinem wilden Naturstaat ohne positiven Glauben, während der stets heimtückische Voltaire auf den von Locke gelegten englischen Fundamenten uns mit einem reinen Vernunftstaat überbaute, wo verfeinerte Kultur, eine wohlgeordnete Polizei und etwas Konfuziussche Sittenlehre alle Religion vertreten und überflüssig machen sollte. Beides ist eitel Materialismus, man mag nun, wie man doch füglich nicht anders kann, die Genealogie von Rousseaus Naturstand zu den menschenfressenden Karaiben und Orang-Utans bis auf den Urschlamm der Schöpfung zurückführen oder Voltaires polizeilichen Vernunftstaat bis zu seiner letzten Vollendung in eine chinesische Glückseligkeit hinauf purifizieren. Der Materialismus aber ist die Prosa des Denkens, mit der sich der überall poetisch gestimmte Deutsche niemals für die Dauer verträgt. Viel nachhaltiger hat daher ein anderer Fremdling, der geistreiche spanische Jude Spinoza in Deutschland gewirkt, da er die Philosophie in eine Region emporhebt, deren Unermeßlichkeit, wie der Anblick des Meeres, zugleich Gefühl und Phantasie mit sich fortreißt. Indem er jedoch mit seinem All im All Gott und die Welt identifiziert, mithin die Persönlichkeit Gottes wie die des Menschen und dessen innere Selbständigkeit und sittliche Freiheit aufhebt, macht auch er alle Religion nicht nur überflüssig, sondern gradezu unmöglich. Aus den Abgründen dieser schrecklichen Unsterblichkeitslehre aber hat die neuere Naturphilosophie ihre »Weltseele« herausgearbeitet, die, in ihren extremsten Konsequenzen von Irrtum zu Irrtum, notwendig zum Pantheismus geführt. – So entwickelte sich also im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland jener merkwürdige unerhörte Geisterkrieg, wo die Schwerter der Gedanken unablässig bald hell leuchtende Strahlen, bald irr verlockende Funken nach allen Seiten umhersprühten, ohne bis jetzt – wie früher der Glaube getan – ein allgemein versöhnendes Licht entzünden und verbreiten zu können. Und diese totale Aufregung des inneren Lebens hat allerdings auch unsere letzte klassische Periode der Poesie hervorgerufen, jedoch, wie jeder rechte Bürgerkrieg, auf ihrer glänzenden Fährte eine geistige Verwilderung und Anarchie hinterlassen, mit der wir noch heute vergeblich ringen.

Diesem einseitigen Despotismus der Vernunft aber entspricht denn natürlich wiederum auch die ganze Physiognomie unserer modernen Poesie. Es folgte nämlich zunächst daraus, daß die Poesie nun immer entschiedener vom Volke zu den sogenannten Gebildeten übergehen mußte. Denn diese Lichtfreunde hatten, wie schon lange vor ihnen in China, ihre besondere Religion für sich und verachteten mit unsäglicher Vornehmigkeit alle Dichtung, die noch auf dem altgläubigen mittelalterlichen Boden ruhte. Das verdutzte Volk aber konnte ihren Abstraktionen keineswegs so hastig und brünstig folgen, es hatte noch bedenkliche Rückfälle von zähen Gewohnheiten und Traditionen; verhöhnt und verlassen, wie es war, stolperte es daher beständig mit Knittelversen in das verrufene Gebiet hinaus und befestigte durch seine Unbeholfenheit die Kluft zwischen einer plebejischen und einer aristokratischen Poesie.

Die letztere hatte sonach mit ihrer Gelehrtenschere den nationalen Faden der dichtenden Jahrhunderte abgeschnitten, die Poesie sollte gleichsam ganz von vorn wieder angefangen werden. Das wäre allenfalls in Rousseaus Wildnis durch Artikulation der ursprünglichen rohen Naturkraft denkbar gewesen; in dem Voltaireschen Vernunftstaat, wie er es wirklich geworden, inmitten einer gleißenden Zivilisation und einer fremden Poesie, die grade damals bei den Nachbarn schon in höchster Blüte stand, war es unmöglich. Das bankerotte Deutschland, da es sich selbst enterbt und seine Vergangenheit sich hatte hinwegdisputieren lassen, mußte notwendig in der Fremde ein bettelhaftes Anlehen eröffnen. Es mußte zunächst erst alles durchprobiert, die ganze Skala europäischer Sangeskunst durchgemacht werden, um, wo möglich, den rechten Ton zu finden; gleich wie man den armen gefangenen Gimpel, wenn er sein freies Waldlied vergessen, nach der Drehorgel manierlich pfeifen lehrt. Daher die berühmte deutsche Ausländerei, die im achtzehnten Jahrhundert ratlos bald nach England, bald nach Spanien und Frankreich und am liebsten nach dem französischen Altertum griff, das ihr lächerlicherweise als echt klassisch aufgeschwatzt und vorgeschossen wurde. Dies wird gewöhnlich Universalität genannt, mit dem stolzen Selbstgefühl, daß wir sonach im Zentrum der Weltpoesie sitzen und berufen sind, die verschiedenen einseitigen Manifestationen derselben zu versöhnen und zu vermitteln. Allein dann müßten wir doch notwendig selbst einen Zentralkern bilden, in welchem die auseinanderlaufenden Radien sich zu gemeinsamer Verklärung vereinigten. Wir müßten vor allem erst selbst eine Nation, d.h. eine feste brüderliche Phalanx von Glauben, Sitte und Denkart sein, wie es Calderons Spanien mit seiner Religion und Ritterlichkeit und Shakespeares England in seiner unerschütterlichen Vaterlandsliebe war. Dazu aber ist, wie wir alle wissen, bei uns zur Zeit noch wenig Aussicht vorhanden. Wir möchten daher jene Allerweltspoesie vielmehr das Theatralische nennen, womit Menzel unsere moderne Poesie treffend bezeichnet; den schon bekannten »Fraß« des Jahrhunderts, der nicht der unbewußten Nötigung des Genies, sondern einer selbstbewußten Willkür folgt; die liebenswürdige Fähigkeit, sich in alle möglichen und, wenn sich's eben trifft, auch unmöglichen Rollen hineinzustudieren, um sie dem erstaunten Publikum täuschend vorzuspielen. Der Schauspieler aber ist jederzeit nur ein passiver Dichter, er schafft nicht, sondern wird selbst allabendlich umgeschaffen, was bekanntlich eben nicht zur Festigung des Charakters dient, man müßte denn diesen etwa in eine allgemeine Charakterlosigkeit setzen wollen. – Alles dieses zusammengenommen mußte endlich auch in mehr formeller Beziehung eine wesentliche Umwandlung der poetischen Literatur zur Folge haben. Jene subjektive Wahl der heterogensten und fremdartigsten Stoffe machte, eben weil sie willkürlich war, zu ihrer Erklärung und Rechtfertigung eine beständige Exposition, eine gleichsam durch das Ganze zwischen den Zeilen fortlaufende Vorrede unvermeidlich, um den geneigten Leser nur erst auf den weitabgelegenen Gesichtspunkt und in die rechte Stimmung zu bringen; denn es galt nun weniger der Wahrheit, als der theatralischen Wahrscheinlichkeit. Bei der vorherrschenden Verstandesrichtung überhaupt appellierten die Dichter nicht mehr an den Glauben des Lesers; sie wollten überzeugen, während doch die frei schaffende Phantasie plötzlich ganze Jahrhunderte aufrollt und in blitzartiger Beleuchtung das Wunderbarste klar, faßlich und glaublich macht. Es kam mithin jetzt nicht mehr auf eine unbefangene, unmittelbare, lebendig epische Darstellung der Handlung, sondern vielmehr darauf an, das Darzustellende nach seinen Anfängen, Motiven und moralischen Wirkungen pragmatisch zu zergliedern, dem Helden einen Polizeipaß mit genauer Personbeschreibung nach Haarwuchs, Kleiderschnitt und sonstigen besonderen Kennzeichen mit auf die Reise zu geben, mit einem Wort: über ihn zu reflektieren. Die Reflexion aber ist ihrer Natur nach überaus weitschweifig, sie verlangt die breiteste Grundlage, sie braucht viel Worte und eine möglichst freie und bequeme oder vielmehr laxe Form. Daher in dieser Zeit die ungemeine Fruchtbarkeit und auffallend vorwaltende Herrschaft des Romans, dieser eigentlichen Poesie des Verstandes.

Doch wir wollen, um der Zeit nicht vorzugreifen, nun die Anfänge und den allmählichen Fortgang der deutschen Poesie des achtzehnten Jahrhunderts in den einzelnen Hauptrichtungen und ihren Relationen untereinander möglichst klar zu machen versuchen.


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