Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poseie der Reformation Teil 1

Alle Poesie ist nur der Ausdruck, gleichsam der seelische Leib der inneren Geschichte der Nation; die innere Geschichte der Nation aber ist ihre Religion; es kann daher die Literatur eines Volkes nur gewürdigt und verstanden werden im Zusammenhange mit dem jedesmaligen religiösen Standpunkt derselben. So erscheint auch die deutsche Poesie der neueren Zeit von der sogenannten Reformation und deren verschiedenen Entwickelungen und Verwickelungen wesentlich bedingt. Die Reformation aber hat einen durch alle ihre Verwandlungen hindurchgehenden Faden: sie hat die revolutionäre Emanzipation der Subjektivität zu ihrem Prinzip erhoben, indem sie die Forschung über die kirchliche Autorität, das Individuum über das Dogma gesetzt, und seitdem sind alle literarischen Bewegungen des nördlichen Deutschlands mehr oder minder kühne Demonstrationen nach dieser Richtung hin gewesen.

Es geht durch unsere ganze Literaturgeschichte ein alter, Recht und Unrecht seltsam verwirrender Streit, der noch bis heut nicht beigelegt ist. Wenn man die einen anhört, sollte man in der Tat meinen, die deutsche Poesie sei erst von der Reformation erfunden worden, während die anderen ihr allein den gänzlichen Verfall aller Kunst zuschreiben. Die Wahrheit liegt jedoch hier, wie fast überall in solchen Fällen, zwischen den beiden Extremen. Der Protestantismus der menschlichen Natur ist bei weitem älter als die Reformation; er hatte, wie wir oben gesehen, schon längst die beiden Pfeiler der alten Poesie, die Kirche und das auf ihr aufgebaute Rittertum, heimlich zerfressen und gelockert. Die Reformation hat diesen Protestantismus nur vollendet und zum allgemeinen Volksbewußtsein gebracht und ihm dadurch allerdings eine unberechenbare Kraft verliehen. Und eben darin liegt die Größe und welthistorische Bedeutung dieser geistigen Revolution, daß sie in der allgemeinen Verwirrung die ungewissen Zustände klarmachte und jeden nach seiner Farbe keck auf seine rechte Stelle wies; denn jede heimlich zehrende Krankheit kann nur, nachdem sie offen erkannt worden, durch eine entscheidende Krise geheilt werden.

Die Krise aber ist noch nicht die Heilung selbst, sie ist nur die Möglichkeit der Heilung und steigert vielmehr für den Augenblick das Übel auf Tod oder Leben; der Ausgang steht allein in Gottes Hand. Und so sehen wir denn auch die Reformation auf die Poesie, von der hier natürlicherweise allein die Rede sein kann, zunächst einen fast tödlichen Einfluß ausüben und zwar durch zwei ihrer Hauptmomente: durch den Umschwung des religiösen Glaubens und durch die scharfe Scheidung der berauschten und mit sich selbst höchstzufriedenen Gegenwart von der großen Vergangenheit des Volks.

Der Glaube nämlich, da ihm der rechte Inhalt genommen war, wurde nun allmählich auf die knappe Diät der bloßen Moral gesetzt, bei der eine gesunde Poesie nicht wohl bestehen kann. – Indem aber ferner die Reformation mit der neuen Weltansicht die ganze Weltgeschichte gleichsam von neuem anfangen wollte, zerriß sie zugleich auch willkürlich und gewaltsam den goldenen Faden der Tradition, die im Verlauf der Jahrhunderte die wechselnden Geschlechter verbunden. Es war natürlich, daß dieselbe, da sie hiernach ganz folgerecht das Mittelalter ignorieren oder als katholische dicke Finsternis überspringen mußte, in ihrer plötzlichen Isolierung und Verarmung nun, wie in der Religion auf ein vermeintliches Urchristentum, auch in der Poesie auf einen völlig neutralen Boden, auf das griechische und römische Altertum zurückgriff, und anstatt der Kirchenheiligen die alten Heroen und Götter, an die Stelle der Legende die heidnische Mythologie setzte. Hierzu bedurfte sie jedoch vor allem andern der Philologie, die sich auch schon von anderer Seite wegen der nunmehrigen Übersetzungen und Auslegungen der Bibel unentbehrlich gemacht hatte und daher jetzt zu einer monströsen Wichtigkeit gelangte. Dies bedingte aber, wie sich von selbst versteht, Vorstudien, die das Volk nicht machen konnte und wollte, und so entstand die Gelehrtenpoesie, welche zunächst fast nur lateinisch redete. Nun wissen wir zwar sehr wohl, daß auch schon die mittelalterliche Poesie das klassische Altertum kannte und mannigfach benutzte, aber bloß, um es zu christianisieren. Ebenso wissen wir, daß der vornehme Minnegesang dem Volke großenteils fremd geblieben; aber er hing, wenn auch nicht im Tone, doch in seinem innersten Kern und Wesen noch überall mit dem Glauben, den Vorstellungen und Traditionen des Volkes lebendig zusammen, und diese adeligen Dichter waren am wenigsten in der Lage, sich als Gelehrte zu überheben, da ihre Hauptführer, wie z.B. Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Lichtenstein, bekanntlich nicht einmal lesen und schreiben konnten. Jetzt dagegen wurde auf einmal eine noch bis heut nicht überbrückte Kluft zwischen Volk und Dichtern gerissen und mitten in Deutschland ein heidnischer Parnaß künstlich aufgetürmt, von dem die gelehrten Poeten mit derselben Verachtung auf das Volk herabblickten als das Volk zu ihnen hinauf, wo es nicht vielmehr völlig gleichgültig daran vorüberging. Wenn aber dennoch in späterer Zeit die deutsche Poesie allerdings einen sehr merkwürdigen und glänzenden Aufschwung nahm, so geschah dies nicht durch die neue Glaubenslehre, sondern in Folge einer Philosophie, die mit Katholisch und Evangelisch und mit dem Christentum überhaupt nichts mehr zu schaffen hat; und ist diese Philosophie wirklich nur durch die Reformation veranlaßt und möglich geworden, wie ihre Verteidiger von ihr rühmen, so ist dies wenigstens ein Verdienst, um das wir sie nicht beneiden möchten.

Jenes Isolieren und Verpflanzen der Poesie aus dem alten nationalen Boden in ein ganz fremdes Klima mußte nun zunächst das Epos, das nur von der Vergangenheit lebt, am empfindlichsten treffen. Daher verklangen nun die alten Volksgesänge, und die einzelnen Erinnerungen, die sich noch in die Volksbücher und fliegenden Blätter herübergerettet hatten, wurden von den Gebildeten als mittelalterliches Unkraut verspottet und voll Entrüstung ausgejätet, damit es ihre Versailler Schnörkelgärten nicht überwuchere. Die Nibelungen und Parzival waren gänzlich vergessen und mußten später erst gleichsam wieder neu entdeckt werden. Der Schweizer Bodmer war es, der sie, gleich versteinertem Riesengebein, aus dem allgemeinen Schutt hervorholte, ohne jedoch sich selbst noch darin zurechtfinden oder bei den Zeitgenossen irgendeine Teilnahme dafür erwecken zu können. Erst der neueren Romantik war das bedeutende Verdienst vorbehalten, diese alte Heldenwelt wie der ebenbürtig und national zu machen.

Aber auch das Kunstepos ruhte jetzt und hätte recht klug daran getan, diese ganze Zeit zu verschlafen. Aber das tat es nicht; es schwieg nur so lange, bis die Gelehrten ihr Surrogat-Schaugerüste mühselig zusammengezimmert hatten. Der Reichsfreiherr Christoph Otto von Schönaich faßte sich endlich ein Herz und trat kühn mit seinem Cheruskerhelden Hermann hervor, der sich mit Allongeperücke und obligatem Galanteriedegen gar wunderlich ausnimmt. Der Stoff ist gewiß groß und der Patriotismus nicht gering; der Dichter aber verhält sich dabei eben wie ein damaliger Gardelieutenant zu einem Helden. Auch dieser Hermann war billigerweise längst begraben und vergessen, als er, zu gerechtem Erstaunen der verwandelten Welt, wie ein spukhafter Revenant, im Jahre 1805 noch einmal auf der Leipziger Messe erschien. – Der Nimrod eines gewissen Heldendichters Naumann ist nur noch als literarisches Kuriosum bemerkenswert. Leider müssen wir aber hier auch den alten wackeren Bodmer nennen, der, mit ebensoviel poetischem Sinn als Dichterungeschick, in seiner Noachide bis in die vorsündflutliche Zeit zurückgriff, für deren Nebelferne sich niemand lebhaft interessieren mochte; die schwerfällige Arche blieb schmählich auf dem Sande sitzen.

Da ging unerwartet mitten in dieser falbgrauen Nacht ein Dichtergestirn auf, das wir füglich als den Morgenstern der neueren Poesie begrüßen können. Klopstock versetzte 1748 durch die drei ersten Gesänge seiner Messiade die Mitwelt in eine seitdem nie wieder vorgekommene Bewegung und Bewunderung. Klopstock war überhaupt ein durchaus aufregender Geist und hatte das Ritterliche der alten Heldendichter. Wie diese verbrachte er seine Jugendzeit in freier Luft mit kräftigenden Körperübungen, er war ein gewandter Reiter und Schwimmer und der berühmteste Meister im Schlittschuhlaufen; und wenn Wolfram von Eschenbach und die andern persönlich in Palästina mitfochten, so hat Klopstock ebenso tapfer auf der mehr innerlich gewordenen Walstatt für das Kreuz gestritten. Man muß sich nur die damaligen Zustände vergegenwärtigen, um seine hohe Bedeutung und seinen Mut gehörig zu würdigen. Auf der einen Seite standen die Orthodoxen, für jeden Andersdenkenden heimlich den Scheiterhaufen rüstend; und ihnen gegenüber die ebenso intoleranten Freigeister, die sich um Voltaires windige Fahne scharten. Kein Wunder daher, daß Klopstock bei seiner ersten wie aus den Wolken gefallenen Erscheinung von Gottsched und seinem hölzernen Gefolge auf das gemeinste verhöhnt und verlästert wurde, während ihn namentlich die ernstere und begabtere Jugend stürmisch als ihren Schutzheiligen ausrief, so daß er selbst zwischen den beständigen Weihrauchwolken sich mit einer gewissen priesterlichen Feierlichkeit bewegte.

Einen Teil dieses großen Interesses hatte indes seine Messiade auch dem Umstande zu verdanken, daß sie in ihren Vorzügen wie in ihren Mängeln unverkennbar ein echtes Produkt der Reformation ist, welche damals in der deutschen Literatur fast ausschließlich den Ton angab. Die Reformation hatte, wie schon oft bemerkt worden, die geoffenbarte Wahrheit mehr oder minder von deren individueller Auffassung und der Empfindung jedes einzelnen abhängig gemacht. Und dieses tiefe religiöse Gefühl, womit die Messiade den Buchstabenglauben der Orthodoxen gewaltig aus seiner Erstarrung geweckt und von neuem belebt hat, ist eben die unvergängliche Schönheit dieses Gedichts. Aber eben darum ist auch, dem Sinn und Wesen des Epos gänzlich zuwider, hier alles Objektive in dem subjektiven Gefühl des Dichters aufgegangen. Nicht die gewaltige überirdische Welt redet hier durch den Dichter, sondern der Dichter spricht in den Worten Gottes, in den Gesängen der Engel wie in den Flüchen der verdammten Dämonen. Ja, einer seiner Teufel ist gradezu sentimental und hat sich durch seine Liebenswürdigkeit besonders die Teilnahme der gerührten Frauen gewonnen, die für seine Begnadigung zärtlich besorgt waren. Überall hat hiernach das Lyrische, Elegische und Rührende die plastische Erzählung überwältigt, und es ist in diesem Betracht bezeichnend, daß Klopstock bekanntlich als Schüler der Schulpforte durch einen Traum zu der Messiade inspiriert wurde und daß eben die ersten Gesänge derselben, die er noch als Jüngling gedichtet, auch die gelungensten sind.

Außer jener Souveränetätserklärung des subjektiven Dafürhaltens und Gefühls in religiösen Dingen hat indes die Reformation mit ihrer geistigen Bilderstürmerei auch den Himmel so ziemlich verödet und die frommen Traditionen und Heiligen der vergangenen Jahrhunderte in der finsteren Rumpelkammer des Mittelalters beigesetzt. Und auch diese Richtung der neuen Glaubenslehre macht sich in der Messiade empfindlich fühlbar. Wie viele erhabene Gestalten und Momente hätte die altkirchliche Tradition, selbst für seine Neigung zum Pathetischen und Rührenden, hier dem Dichter dargeboten! Klopstock verschmähte sie, weil er sie nicht kannte oder aus protestantischer Scheu vor katholischem Aberglauben, da freilich Sinn und Bedürfnis dafür längst verloren waren. Daher in seinem Gedicht die auffallende Armut an Handlung und lebendiger Anschauung; Gott und Menschen und Engel und Teufel machen eben nichts als lange rhetorische Debatten über das, was und warum sie es tun wollen. Da ist keine kühne Symbolik der göttlichen Geheimnisse, wie etwa bei Dante, sondern nur mehr oder minder willkürlich ideale, farb- und gestaltlos verschwimmende christliche Mythologie, welche nicht selten an die feierlich vorüberziehenden Schatten erinnert, womit Ossian die alte Helden- und Sagenwelt vernebelt.

Der besondere Nachdruck endlich, den die Reformation auf das Studium des Altertums gelegt, hat auch der Messiade wunderlicherweise eine gelehrte antike Färbung gegeben. Wir verkennen nicht einen Augenblick das unberechenbare Verdienst, das sich Klopstock durch seine ernste und geistvolle Behandlung der alten Metrik um die Reinigung und Veredelung der damals teils verwilderten, teils künstlich verdrehten Sprache erworben hat. Aber wir müssen durchaus in Abrede stellen, daß grade hier das Griechentum die natürliche oder auch nur entfernt angemessene Form der Darstellung war. Der Reim, den Klopstock überall verbannen wollte, ist keine leere Spielerei oder willkürliche Erfindung, er ist die geheimnisvolle Melodie zum Text, die Musik der Gedanken. Es ist überhaupt eine bloße Einbildung der Gelehrten, daß dieser Streckvers von Hexameter, der ja selbst bei den alten Römern nie volkstümlich wurde, jemals wirklich deutsch geworden. Es bleibt immerhin ein erzwungener fremder Klang darin, ein leiser Anhauch gelehrter Stubenluft, der grade in dem Innerlichsten am empfindlichsten stört und verletzt. Oder wer möchte wohl im herzlichen Gebet zu Gott, oder auch nur mit seiner Geliebten, in Hexametern sprechen?

Allen diesen reformatorischen Eigentümlichkeiten der Messiade aber ist es vorzüglich zuzuschreiben, daß dieses großartig gedachte, hochgestimmte und durchaus christliche Gedicht niemals wirklich und lebendig ins Volk gegangen; und dieser halb mißlungene Versuch eines mächtigen Dichtergeistes zeigt eben nur, daß die Richtung, welche die Reformation in die Poesie gebracht, jedenfalls am allerwenigsten für das Epos geeignet war.

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Diese Richtung drängte vielmehr notwendig vom Epos zum modernen Roman; und zwar durch die Wichtigkeit, die sie der Subjektivität eingeräumt, sowie durch die Herrschaft, die sie demzufolge dem Verstande zuteilen mußte. Beides aber widersprach der Natur des Epos. Das Epos ist der Mensch in der Welt, der Roman die Welt im Menschen. Dort verschwindet das Subjektive in dem großen Strom des Weltganges, der, weil er im Zweck und Ursprung unerforschlich, nur durch die Phantasie gleichsam divinatorisch aufzufassen ist. Im Roman dagegen ist nicht das Faktische, nicht die plastische Gewalt der Handlungen, sondern deren Motiv der eigentliche Gegenstand der Darstellung. Die pragmatische Motivierung aber, diese Naturgeschichte des inneren Menschen, ist wesentlich Sache des Verstandes, und der Verstand, da es ihm weniger um die Schönheit als um Deutlichkeit und Klarheit zu tun ist, wählt sich überall die freieste Form des Ausdrucks: die Prosa. Der Roman ist daher die Poesie des Verstandes in ungebundener Rede.

Hiernach können jedoch die sogenannten Ritter-und Volksromane, obgleich sie die alten Heldengedichte auch bereits in Prosa aufgelöst hatten, noch keineswegs zu den eigentlichen Romanen gezählt werden. Sie adoptierten die Prosa nicht aus innerem Bedürfnis, sondern aus leidiger Not, weil die Lesewelt für den Vers schon zu flügellahm geworden war. In ihnen ist noch gewaltiger Stoff, und nichts als Stoff. Die Phantasie, wenngleich schon bedeutend abgeschwächt, hat noch immer die Alleinherrschaft, ihre Helden stürmen noch immer von Tat zu Tat, von Abenteuer zu Abenteuer, während der spätere Romanheld sich passiv in sich selbst zurückzieht, retardierend, reflektierend, exponierend und räsonierend, eine Art von Maulheld, der nicht die Ereignisse macht, sondern von den Ereignissen gemacht wird. Es handelt sich hier nicht mehr um ein großes objektives Weltbild, sondern um ein subjektives Seelengemälde.

Von diesem seinem Ziele ist indes der Roman der Periode, in welche wir hier eingetreten sind, noch weit entfernt. Der regierende Verstand stand soeben noch in der derbsten Blüte seiner Lümmeljahre, er hatte die Poesie, wie andere unnütze Dinge, prüfend in ihre Elemente zerlegt, und nun wollten die auseinandergefallenen Glieder nicht wieder zusammenpassen. Da schloß er aus Abscheu vor der gemeinen Volksphantasie, die, ihn beständig in seinem mühsamsten Kalkül störend, dazwischenfuhr, ein Schutz- und Trutzbündnis mit der ebenbürtigen Gelehrsamkeit. Und so erzeugten die beiden, wie bei der ersten Erdformation der Urwelt, jene mißgeschaffenen Ungeheuer von Romanen, wahre Mammuts und Mastodone, deren ungestalte Riesenleiber Gras und Blumen des Parnasses zertrampelten und sich Holz und Rinde ungeschlacht zum Fraße brachen.

Dies begab sich aber, bei der deutschen Gelehrtengründlichkeit, nicht ohne vorherigen Anlauf weitläufiger Vorstudien. Der unfruchtbare Verstand, da er sich der erfinderischen Phantasie vornehm entschlagen hatte, mußte nun erst beim Auslande in die Schule gehen und sich anfangs mit bloßen Übersetzungen begnügen. Unter diesem aus der Fremde herbeigeholten Sukkurs zeichnet sich besonders der berühmte Amadis von Gallien aus, ein Held zweifelhafter, wahrscheinlich ursprünglich portugiesischer Herkunft, der aber zunächst über Frankreich zu uns gekommen. Er tiostiert noch frisch und keck genug durch ganz Europa, gleichsam zum letzten Scheidegruß des alten Rittertums, hat sich indes auf seiner Fahrt doch schon manches Neue abgesehen. Unter seiner Pickelhaube macht sich bereits ein leiser Ansatz zum künftigen Haarbeutel bemerkbar; ja, seine funkelnde Pickelhaube selbst gemahnt uns nicht selten an Don Quichottes Barbierbecken, das bekanntlich Mambrins Helm vorstellen soll.

Endlich aber faßten sich denn doch die Gelehrten ein Herz und brachen massenhaft und unter nicht geringem Lärm mit  ihren Liebes- und Heldengeschichten aus den Studierstuben in die erstaunte Welt hervor. Alle diese Helden- oder Wundergeschichten, wie sie gleichfalls genannt werden, lassen sich trotz der Feindschaft und Gehässigkeit, womit sie zum Teil selbst untereinander hadern und streiten, dennoch an einigen allen gemeinschaftlichen Familienzügen leicht als eine Sippschaft erkennen. Was uns zunächst fast schreckhaft an ihnen auffällt, ist ihre monströse Unförmlichkeit, eine elementarische Konfusion aller möglichen und unmöglichen Dichtungsarten, die hier chaotisch nebeneinander liegen und kaum noch den Versuch machen, sich zu einem organischen Ganzen zu gestalten. Da sind mitten in die episch sein sollende prosaische Erzählung lange Reimereien, einzelne Lieder, zierliche Schäferspiele, ja ganze Dramen eingeschoben, und zwischendurch, um die Verwirrung vollkommen zu machen, laufen noch sogenannte »Nebengeschichten«, die mit der Hauptsache gar nichts zu schaffen haben und einen am Ende völlig unentwirrbaren Knäuel von Verwicklungen bilden. Kein Wunder daher, daß fast jeder dieser Romane mehrere Foliobände füllt, wie denn z.B. die »Aramena« des Herzogs Ulrich von Braunschweig nicht weniger als 6822 Seiten enthält.

Noch widerlicher aber berührt uns die allgemeine Herabstimmung des Lebens, die sich hier kundgibt. Die frische, kühne, wildfreie Waldeinsamkeit erscheint jetzt als ein französischer Lustgarten mit verschnittenen Bäumen, bunten Scherbenbeeten und geradlinigen Alleen; die ungezogenen Gebirgsquellen sind eingefangen, um unten als Fontänen artige Kunststücke zu machen, die Berg- und Waldgeister haben sich in bleiche stumme Statuen heidnischer Götter und Allegorien, die ganze Natur in einen großen Konversationssaal verwandelt. Aus den Rittern aber sind schnöde Kavaliere und Kammerherren, aus den alten Heldentaten und Abenteuern adelige Spazierfahrten und Hoffeste geworden. So wird von Jos. Ulr. König in seinem »August im Lager« eine ordinäre Heerschau allen Ernstes als hochwichtiger Heroismus gefeiert, wo unter anderen Allegorien auch die Eintracht erscheint, »das silberhelle Haar hinterwärts von einem Band umwunden und unausreißlich fest in einen Zopf gebunden«.

Hiernach ist denn auch die Liebe, da sie, wie beim Verfall des Minnegesanges, rein konventionell geworden, hier nur noch als eine einmal hergebrachte Arabeske und Einrahmung des eigentlichen Textes verwendet; und was für eine Liebe! In der »Asiatischen Banise« von Zigler z.B. haranguiert eine liebende Prinzessin, mit einem Dolche in der Hand, den sie verschmähenden königlichen Liebhaber folgendermaßen: »So schaue demnach, unbarmherziger Tyranne, wie dieses verspritzte Blut auf ewig um Rache wider dich schreien und dein unempfindliches Herze Tag und Nacht vor den Göttern verklagen soll. Rühme dich nicht, diamantene Seele! daß dich deine Prinzessin bis in den Tod geliebet und um dieser Liebe willen ihre Brust durchbohret habe, denn dieser Stich wird mir durchs Herze, dir aber durch die Seele dringen, mir kurze Schmerzen und dir ewige Qual verschaffen: weil dich mein blutiger Geist auch bis ans Ende der Welt verfolgen, stündlich vor deinen Augen schweben und dir deine Grausamkeit vorrücken soll!« In solcher konvulsivischen Erhitzung suchte jetzt die Liebe, weil nicht mehr empfunden und durchaus unwahr, sich überall selbst zu überbieten; einem Furchtsamen vergleichbar, der seinen defekten Mut durch furchtbares Bramarbasieren zu verdecken und zu ersetzen meint. – Außer dieser gemeinsamen Physiognomie aber hat diese Literatur noch einen ganz allgemeinen Grundtypus: Das ist ihre unerhörte Langweiligkeit.

Wie verbreitet übrigens dieselbe gewesen, mag man schon daraus abnehmen, daß der Magister Schwab in Leipzig noch zu Gottscheds Zeiten allein aus dem 17. Jahrhundert über anderthalbtausend solcher deutscher Romane besaß. Es ist bei so immenser Fabrikation daher natürlich, daß sie, trotz aller Familienähnlichkeit, sich mehr oder minder in die Arbeit teilen mußten; und so wollen wir denn versuchen, sie nach ihrer speziellen Hantierung wenigstens in einige Hauptgruppen zu sondern.

Die bei weitem zahlreichste Klasse ist die der eigentlich Gelehrten, denen es lediglich um eine breite Schaustellung ihrer Gelehrsamkeit zu tun ist, wo alle erdenklichen Artikel des Wissens, nur leider eben die Poesie nicht, unter der Firma irgendeines gleichgültigen Liebespaares mit großer Prätention und Selbstschätzung an die lernbegierige Lesewelt ausgeboten werden. Man könnte ihre Romane poetische, gewissermaßen toll gewordene Realenzyklopädien nennen. Zierlicher nennt sie Birken in seiner Vorrede zur Aramena: »Gärten, in denen auf den Geschichtsstämmen die Früchte der Staats- und Tugendlehre mitten unter Blumenbeeten angenehmer Gedichte herfürwachsen und zeitigen«; und Lohenstein sagt: »die Weisheit und ernste Wissenschaft müssen der Grund, jenes (das Dichten) der Ausputz sein, wenn ein gelehrter Mann einer korinthischen Säule gleichen soll.« – Solcher korinthischen Säulen aber gab es hier vorzüglich drei: Zesen, Zigler und Lohenstein selbst.

Philipp von Zesen benutzt in seiner »Assenat« beiläufig die magere Geschichte des Patriarchen Joseph, um uns in kurzhüpfenden Sätzen und langatmigen Anmerkungen über das Staatsregiment und den Hofprunk Ägyptens aufzuklären. Er verwahrt sich daher auch ausdrücklich gegen jeden Verdacht etwaiger Erfindung und nennt selbstzufrieden seinen Roman eine Staats– und Liebesgeschichte. Dabei hat er eine solche Freude darüber, etwas Originaldeutsches zu schreiben, »worin auch eine liebliche Ernsthaftigkeit gemischet wäre«, daß er in der Hitze seines puristischen Patriotismus flink alle Fremdwörter verdeutscht und dadurch eine wunderliche Abenteuerlichkeit der Sprache zutage fördert, die in der Tat höchst ergötzlich und jetzt wohl nur noch das einzige Genießbare an dem dickleibigen Buche ist. – Heinrich Anselm von Zigler und Kliphausen (1663–1697) dagegen hat sich insbesondere auf das Ethnographische gelegt. In seiner berühmten »asiatischen Banise, oder blutiges, doch mutiges Pegu, in historischer und mit dem Mantel einer Helden- und Liebesgeschichte bedeckten Wahrheit beruhend« schildert er uns die Sitten und Gebräuche eines barbarischen Volks und beginnt den Roman fürchterlich genug mit: »Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des Himmels, zerschmettere die Pracht deiner mit Gold bedeckten Türme, und die Rache der Götter verzehre alle Besitzer der Stadt, welche den Untergang des königlichen Hauses befördert oder solchen nicht nach äußerstem Vermögen auch mit Daransetzung ihres Blutes gebührend verhindert haben. Wollten die Götter, es könnten meine Augen zu donnerschwangeren Wolken und diese meine Tränen zu grausamen Sündfluten werden: ich wollte mit tausend Keilen als ein Feuerwerk rechtmäßigen Zornes nach dem Herzen des vermaledeiten Bluthundes werfen und dessen gewiß nicht verfehlen; ja es sollte alsobald dieser Tyrann samt seinem götter-und menschenverhaßten Anhange überschwemmt und hingerissen werden, daß nichts als ein verächtliches Andenken überbliebe!« – Doch Daniel Caspar von Lohenstein überbot sie alle, indem er in seinem »großmütigen Feldherrn Arminius nebst seiner durchlauchtigen Thusnelda« (1689) endlich alles, was damals die Gelehrten wußten oder zu wissen sich einbildeten, Geographie, Völker- und Länderkunde, Astrologie und Geschichte unausreißlich fest in einen ungeheueren Zopf zusammengebunden, der für jeden Kopf paßte und daher auch in der Tat eine geraume Zeit lang in die Mode kam.

Eine zweite, der vorigen nah verwandte Gruppe bilden die Rätselromane, riesenhafte Geschichtsscharaden, deren politische Nüsse, je härter sie zu knacken, nur um so willkommener und angesehener waren. Sie sind ganz besonders bezeichnend für ihre Zeit. Das invalide Rittertum hatte sich bei den Höfen in Pension gegeben, welche nun ihrerseits das Rittertum vorstellen sollten, und die Höfe, da ihnen der auf das Christentum gebaute Staatsorganismus abhanden gekommen, hatten dafür ihre Sache auf eine Kabinettsweisheit gestellt, die nicht durch die Treue, sondern durch die Überlistung und Schwäche der andern stark werden wollte; ein überkünstliches Gewebe von Halblügen, Schlauheiten und Täuschungen, das sie prächtig: ratio status nannten. Und eben dies ist der Gegenstand dieser Rätselromane. Sie handeln mit unendlicher Wichtigtuerei von den geheimen Hofintrigen, und wie der ratio status reden sie von dem und jenem und meinen etwas ganz anderes. So erzählt uns Dietrich von dem Werder in seiner »Diana« (1644) eine Menge Liebeshistorien von Dinanderfo, Lodafo, Lastevin usw., und versteht darunter die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und seiner Helden; weshalb denn damals rühmend gesagt wurde, daß man diesen Roman »zum ersten Male der Fabel wegen, das erste- bis drittemal der Reden und Sachen und das viertemal der politischen Weisheit und verdeckten Geschichte wegen lesen müsse«. – Der Meister dieses Versteckspiels aber war der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig. Sämtliche Prinzessinen seines Romans »Der durchlauchtigen Syrerin Aramena Liebesgeschichte« sind Allegorien von Ländern, Künsten und Ereignissen seiner Zeit; und in seiner »Octavia« bildet die Erzählung der römischen Geschichte von Claudius bis Vespasian nur den Rahmen für achtundvierzig Episoden, worin ebenso viele Begebenheiten und Zustände der damaligen Höfe rätselhaft angedeutet werden. Diese verhüllten Hofrätsel sind nicht mehr zu lösen, denn jene Zustände sind, wie das Buch, längst vergessen. Dauernder aber ist das Andenken des Verfassers selbst, der ein tätiges und segenreiches Regentenleben mit seiner Rückkehr zur Kirche würdig beschloß.

Das alte Heldengedicht, oder wenn man es so nennen will: der Ritterroman, beruhte, wie wir oben gesehen, wesentlich auf der Kirche, ihrer Verherrlichung und Verteidigung. Nachdem aber die Reformation die alte Kirche erschüttert und in eine bloße praktische Erbauungsanstalt eingerichtet hatte, sind auch in der Poesie sofort an die Stelle der Mystiker die Moralisten eingerückt. Unter ihnen hat besonders der braunschweigische Superintendent Andreas Heinrich Buchholz sich hervorgetan. Seine beiden Romane: »Herkules und Herkuladisla« sowie: »des christlich deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Walisca Wundergeschichte« (1659), in welchem letzteren die Bekehrung zum Christentum geschildert wird, haben dreierlei höchst löbliche Zwecke. Der wohlgesinnte Superintendent will nämlich zeigen, »daß die Deutschen nicht lauter wilde Säue und Bären sind«; er will ferner die beliebten Ungeheuerlichkeiten des Amadis, »die Amadisschützen«, aus dem Felde schlagen; und endlich dartun, wie die Gottesfurcht der eigentliche Mittelpunkt aller Tapferkeit und Liebe sei. Allein es ist ihm schlecht geglückt. Seine deutschen Großfürsten sind immer noch ganz waidliche Bären geblieben; auf seinem Feldzuge gegen Amadis ficht er gegen die altritterlichen Wunder mit ebenso ungeheuerlichen Wunderlichkeiten: Entführungen, Weltschlachten, Errettungen usw.; und die Gottesfurcht seiner Helden hat, trotz der zahllos eingemischten geistlichen Lieder und Gebete, etwas so trocken Schulmeisterliches, daß man an ihre Frömmigkeit sowie an ihre Tapferkeit oder Liebe nicht im mindesten glauben kann.

Einigermaßen glücklicher waren die Naturalisten in ihrem Kampfe gegen den vornehm künstlichen und bombastischen Schwulst des Arminius Lohenstein und seiner Genossen und Nachfolger, indem sie einfach der betrunkenen Anspannung eine nüchterne Abspannung entgegensetzten. Es scheint auf den ersten Blick nichts leichter, als das an sich Verkehrte über den Haufen zu werfen, wenn man die zähe Macht der Gewohnheit und der Gelehrtenprätention, welche jederzeit der Menge imponiert, nicht mit in Anschlag bringt. Jedenfalls aber ist dabei mit dem bloßen Gegensatze wenig geholfen; man muß entweder das Nichtsnutzige unwiderstehlich totlachen oder, was freilich wirksamer und schwieriger ist, Besseres bieten. Beides war indes hier keineswegs der Fall. Christian Weise (1642–1708) sucht ganz ernst und ehrbar »die Sachen also vorzubringen, wie sie naturell und ungezwungen sind«, und lenkt daher in seinen Romanen (die drei klügsten Leute; die drei ärgsten Erznarren; der politische Näscher) von der modischen Verstiegenheit kopfüber ins Wirkliche, Gewöhnliche, ja Gemeine hinab, so daß Leibniz mit vollem Recht von ihm sagt: »daß er etwas schmutzig zu reden kein Bedenken trage.« Mit solcherlei Natürlichkeit war aber der Poesie ebensowenig gedient als mit der Unnatur Lohensteins. Und ebenso »naturell« und unwirksam ist auch die Religionsansicht, womit er überall das Gemeine würdig auszustatten sich bemüht. Einen Vorschmack davon gibt schon der ganz praktische Zweck, den er in seinen »notwendigen Gedanken der grünenden Jugend« der Poesie setzt, indem er dort sagt: »sofern ein junger Mensch zu etwas Rechtschaffenes will angewiesen werden, daß er hernach mit Ehren sich in der Welt kann sehen lassen, der muß etliche Nebenstunden mit Versschreiben zubringen.« Dieser gar nicht jugendlich grünende Gedanke ins Religiöse übersetzt, will eben nichts anderes sagen, als: kümmere dich nicht sonderlich um alles Höhere, sondern sei nur hübsch artig und fromm, damit es dir wohlgehe auf Erden; denn die Vernunft lehrt: »Nichts ist gut, was nicht einen guten Ausgang hat.« Ein Grundsatz, den uns Weises Romane in dem Charakter des sogenannten Curiosus eindringlichst predigen, und der von seinen zahllosen Nachahmern, z.B. in Riemers politischem Stockfisch, politischem Maulaffen usw., des breiteren ausgeführt wird. Also bildet sich schon damals die knollige Wurzel jener selbstsüchtigen Genußreligion und praktischen Lebensphilosophie, welche späterhin zur Weltherrschaft gelangen sollte.

Zu den Naturalisten, wenngleich in einem etwas umfassenderen Sinne, muß auch noch eine andere sehr zahlreiche Gruppe, die der Robinsonaden, Schäfer-und Schelmenromane, gerechnet werden. Der Faden der Tradition konnte unmöglich in der Religion abgerissen werden, ohne zugleich auch in dem ganzen darauf basierten Leben eine störende Lücke zu hinterlassen. Um sie auszufüllen, versuchte man daher, unter Beseitigung aller Überlieferung und Erbschaft der vergangenen Jahrhunderte, ein völlig neues Dasein willkürlich zu improvisieren, und griff, wie im Glauben auf ein vermeintliches Urchristentum, hier auf einen sogenannten Naturzustand der Menschheit zurück. Allerdings war das damalige hochfrisierte Leben unpoetisch und närrisch genug. Der sogenannte galante Roman, z.B. v. Winklers »Edelmann«, August v. Bohses »hoher Personen unterschiedliche Liebesgeschichten« und »Liebeskabinett für Damen« und vor allen: »Der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Kavalier« geben uns ein getreues Bild dieser zum Teil schon durch die Büchertitel angedeuteten Seltsamkeiten. Man mußte sich also wohl endlich aus dem konventionellen Zwange in die Freiheit hinaussehnen, und wäre es auch nur die momentane Täuschung einer Maskenfreiheit gewesen. Und eine solche Maskerade der vornehmen Sozietät war in der Tat der aus jenem Gefühl und Bedürfnis entstandene Schäferroman: eine imaginäre Welt, wo der galante Kavalier aus Langerweile zur Abwechslung einmal unter die Hirten flöten ging; es war eben nur ein anders gewickelter Zopf, eine Unnatur gegen die andre.

Gründlicher gingen in dieser Richtung die Robinsonaden zu Werke, indem sie nicht bloß das Kostüm wechselten, sondern wirklich ein Leben ohne Herkommen, Kultur und Gesetz herzustellen suchten. Ihr Urahn, der schon 1721 ins Deutsche übersetzte Robinson Crusoe des Engländers Daniel Defoe, tat es lediglich aus Not, sein einsames Naturleben ist daher noch vollkommen berechtigt und oft von rührender Schönheit. Seine zahllosen Nachkommen dagegen, der deutsche, italienische, sächsische, fränkische, westfälische, schlesische, geistliche, medizinische, moralische, unsichtbare Robinson usw., haben in ihrer abgeschmackten Abenteuerlichkeit schon etwas durchaus Willkürliches und die Prätention, aus der Not eine Tugend machen zu wollen. Eine ganze Kolonie von Robinsonen finden wir endlich auf der »Insel Felsenburg«, einem zu seiner Zeit sehr beliebten Romane von Schnabel, wo Seefahrer der verschiedensten Nationalitäten und Physiognomien unter ihrem »Altvater« auf eigene Hand einen Staat ohne Staat und eine Religion ohne Kirche gründen. Aber es gelingt nicht sonderlich; das Ganze kränkelt an weiter Gewissensfreiheit, gelegentliche Seeräubereien und Entführungen sind ihre Heldentaten, und das bißchen Frömmigkeit hat eine protestantisch abgeblaßte Färbung, die oft schon an den späteren Pietismus erinnert.

Man sieht, von diesen schiffbrüchigen Abenteurern bedarf es nur noch einer kleinen Schwenkung zu den eigentlichen  http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0621.pngSchelmen. Man könnte jene Robinsonaden, da sie doch mehr oder minder einen angeblich besseren Naturzustand anstreben, immerhin noch die Idealisten, die Schelmenromane dagegen Realisten nennen, indem die letzteren die alte Aventüre gerade zu in die gemeine Wirklichkeit verpflanzen. Sie wollen nicht, wie die Robinsonaden, reformieren und anstatt der überlieferten langweiligen und unnatürlichen Sozietät etwas vermeintlich Höheres geben; sie setzen vielmehr keck die offenbare Anarchie entgegen und sind daher mit Zivilisation, Ehre, Sitte, Staat und Kirche in einem fortwährenden Krieg auf Tod und Leben begriffen. Sie repräsentieren auf eine bitterwahre, aber oft höchst ergötzliche Weise das gefallene, entadelte Rittertum, die aus dem Stegreif lebende Raubritterschaft der niederen Volksschicht. Ihr eigentümlicher Reiz liegt in dem poetischen Hauche, welcher die Freiheit selbst in ihrem extremen Mißbrauch noch begleitet.

Es ist begreiflich, diese allgemeine Herabstimmung mußte edlere Gemüter mit Zorn und Schmerz erfüllen und somit eine bisher größtenteils noch schlummernde Seelenkraft, den Humor, gewaltsam herausfordern. Gervinus nennt den Humor eine Krankheit des Geistes und Gemütes, die das Unerträgliche sich erträglich zu machen suche, wo einem Individuum oder Volke die Fähigkeit oder Möglichkeit gebricht, gesund und resolut im Glauben und in der Poesie zu leben. Und in der Tat, grade dies war jetzt der Fall, die durch die Reformation hervorgerufenen schwankenden Zustände waren die Krankheit, deren poetisches Symptom die Humoristik ist. Denn der Humor ist eben nichts anderes als der Konflikt der höheren menschlichen Anlage mit der jämmerlichen Gegenwart und Wirklichkeit, gleich wie Stein und Stahl in ihrem Zusammenstoße Funken geben, die oft das Nächste und Gewöhnlichste unerwartet scharf und seltsam beleuchten. Er hat daher in seinem Grundwesen etwas durchaus Tragisches, von dem er sich nur dadurch unterscheidet, daß er gegen das Unerträgliche nicht unmittelbar ankämpft, vielmehr von dem buntverworrenen Lebensteppich mit keckem Wurfe nur die fadenscheinige Kehrseite aufdeckt und so den falschen Glanz durch sich selbst vernichtet; sein Organ ist nicht das Pathos, sondern die Ironie und der Witz. Und eben dieser individuelle Tiefblick, der stets vom Besonderen auf das Allgemeine, von der zufälligen Erscheinung auf deren verhüllten Urgrund dringt und mit seinen raschen Streiflichtern häufig das Abgebrochene und Sprunghafte der Lyrik annimmt, unterscheidet den Humor auch von der ganz äußerlichen Parodie und Satire. Oder wer möchte wohl Cervantes' Don Quichotte, diese große Tragödie des Rittertums, oder die Witzgefechte der weisen Narren Shakespeares Satire nennen? – Wir finden zwar, unter ähnlichen Verhältnissen und aus demselben Gefühle des Konflikts, schon in Wolfram von Eschenbachs Parzival einige humoristische Züge; aber erst unmittelbar nach der Reformation blitzen die blanken Geschosse, bei Sebastian Brant, Fischart u.a., immer dichter und deutlicher auf, bis endlich dieser oppositionelle Geist, mit dem fortwährend wachsenden Gegensatze von Ideal und Wirklichkeit, in künstlerischem Selbstbewußtsein völlig herrschend wird und in allen möglichen Abstufungen und Schattierungen den eigentlichen Inhalt unseres modernen Romanes bildet.

Und diese Wahrnehmung führt uns hier auf den einzigen wahrhaften und großartigen Roman jener Zeit; auf den »abenteuerlichen Simplicissimus« von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, oder German Schleifheim von Sulsfort, auch Samuel Greifensonn von Hirschfeld, wie er sich abwechselnd annagrammatisch in seinen Werken genannt hat. Dieser im Jahre 1669 erschienene Roman hätte, der Zeitfolge nach, allerdings schon früher erwähnt werden sollen, ja, er gehört überhaupt nur insofern dem gegenwärtigen Abschnitte an, als er, wenngleich nicht als ein Werk der Reformation, doch nur in Folge der Reformation und in genauem Zusammenhange mit derselben ins Leben treten konnte. Wir stellen ihn aber absichtlich an den Schluß dieser Romanenschau, weil er fast alle vorbezeichneten Gruppen humoristisch in sich umfaßt und eben durch diese Humoristik die eigentliche Brücke vom Mittelalter zum modernen Romane darstellt.

Wie im Don Quichotte ist es auch hier das scheidende Rittertum, das furchtbare Epos des Dreißigjährigen Krieges, das in seinen geistigen Hauptmomenten, gleichsam als ein vom anbrechenden Morgen überraschtes verspätetes Gespenst, an uns vorübergeht; hier wie dort, nicht elegisch klagend, sondern in der scharfen Beleuchtung einer alles durchdringenden humoristischen Weltansicht. Gleich zum Anfang weht uns, wie ein Abschiedsgruß der alten Zeit, der Waldeshauch des Spessart an; aber mitten aus dieser mit tiefem Naturgefühl geschilderten Waldidylle streckt uns auch schon überall die Verwilderung der bäuerischen Knollfinken ihre tölpelhaften Bärentatzen entgegen. Ein wahrer Triumph des überlegenen Witzes ist es, wie Simplex nun, aus jener Waldeinsamkeit in die Welt gestoßen, als Page des Kommandanten von Hanau in verstellter Narrheit die Verbildung der Vornehmen narrt, die ihn zu narren meint; oder wie er später, durch unverhoffte Glücksfälle reich geworden, selbst gar possierlich den galanten Freiherrn spielt, dessen Wappen ein Kopf mit Hasenohren und Schellen ist. Die politische und religiöse Weisheit jener Zeit wird durch einen wirklichen Narren vertreten, der sich für Jupiter hält, ein deutsches Weltreich ohne Fürsten und Abgaben, eine geläuterte Universalreligion ohne Kirche gründen und alle, die dawider glauben, mit Schwefel und Pech martyrisieren will. Dem Einsiedlertum, das damals häufig nur noch als ein löbliches Handwerk betrieben wurde, ist bei aller schuldigen Ehrfurcht überall etwas langbärtig »Antiquitätisches« beigegeben; und von der Konfusion der sich kreuzenden Religionsparteien sagt Simplex: »Zu welchem Teil soll ich mich dann tun, wann ja eins das andere ausschreiet, es sei kein gut Haar an ihm. Sollte mir wohl jemand raten, hineinzuplumpen wie die Fliegen in einen heißen Brei? Es muß unumgänglich eine Religion recht haben und die andern beide unrecht; sollte ich mich nun zu einer ohne reiflichen Vorbedacht bekennen, so könnte ich eben so bald eine unrechte als die rechte erwischen, so mich hernach in Ewigkeit reuen würde.« Aber er wählte doch und wurde katholisch. Und so kommt denn der ehrliche Simplex, nachdem er durch alle Wandelungen der wilden Zeit frisch und keck sich hindurchgeschlagen, zu der Überzeugung, daß im Leben nichts beständig als die Unbeständigkeit, und kehrt endlich selbst als Einsiedler in die Waldesstille wieder zurück, von der er ausgegangen.

Aus dem reichen Personal des Simplicissimus hob Grimmelshausen späterhin noch einzelne Gestalten selbständig hervor und verarbeitete sie zu besonderen höchst ergötzlichen Novellen, in denen gelegentlich die Treuherzigkeit des Simplex selbst ironisiert wird. So den »seltsamen Springinsfeld, einen weiland frischen, wohlversuchten und tapferen Soldaten und nachmalen ausgemergelten, abgelebten, doch dabei sehr verschlagenen Landstörzer und Bettler«, ferner »die Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage, wie sie anfangs eine Rittmeisterin, hernach eine Hauptmännin, ferner eine Lieutenantin, bald eine Marketenderin, Musketiererin und letztlich eine Zigeunerin abgeben«; und endlich in seinem »wunderbarlichen Simplicianischen Vogelnest«, einen Vagabonden, welcher durch ein Vogelnest sich unsichtbar macht und aus diesem Versteck, gleich dem Studenten im »hinkenden Teufel«, die Sünden und Torheiten seiner Zeit belauert. Leider wollte indes der Dichter anderweit der Welt zeigen, daß er nicht bloß volkstümlich, sondern auch gelehrt sein könne wie andere. Er hat daher auch noch einige Romane im damaligen vornehmen Modetone geschrieben: »Proximus und Lympida«, »Dietwalt und Amelinde«, und »der keusche Joseph samt seinem Diener Musai«; und das alles hat er allerdings ebenso gut wie die Gelehrten, d.h. sehr schlecht und langweilig gemacht.

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Wir verließen oben das Drama in seinem eben begonnenen Übergange vom Geistlichen zum Weltlichen. Es ist schon bemerkt worden, daß das Drama, da es unmittelbar das Leben darzustellen sucht, auch überall am genauesten den jedesmaligen Phasen der wechselnden Bildung sich anschließt. Und so mußte das selbe denn wohl auch von dem allgemeinen Umschwunge der Reformation unter allen Dichtungsarten grade am empfindlichsten getroffen werden. Die nächste Folge war, daß das schon früher immer mehr verweltlichte sogenannte Zwischenspiel der geistlichen Darstellungen sich jetzt, als selbständige Komödie, gänzlich von dem Mysterium lossagte. So aus seinem ursprünglichen Zusammenhange und Bedeutung herausgerissen, suchte es nun eine Zeitlang ungewiß und schwankend einen neuen zeitgemäßen Inhalt. Es lag nahe, auf die reiche nationale Volks- und Heldensage zurückzugreifen. Allein diese, wie sie vom Mittelalter aufgefaßt und überliefert worden, stand damals noch in zu lebendigem Bezug zu der alten Kirche und dem Wunderglauben, um der veränderten Gesinnung zuzusagen. Die Vergangenheit war ihr verleidet, die Zukunft aber mit ihren Idealen, Wünschen und Hoffnungen noch ein völlig gestaltloses Chaos; so warf sich denn die emanzipierte Komödie ausschließlich auf die Gegenwart und wurde zum bloßen Schwank-und Fastnachtsspiele.

Das Fastnachtsspiel aber folgte rasch und ungestüm allen verworrenen Affekten dieser Gegenwart, teils brutal verwildernd, wie jene Zeit überhaupt, teils in wütendem Haß gegen die alte Kirche gerichtet. Zwei Nürnberger Hänse: der Wappenmaler Hans Rosenplüt und der Barbier Hans Folz, taten sich besonders als Ritter dieser Brettermuse hervor, und es ist fast unglaublich, welcher Wust von Roheit und Unfläterei da plötzlich von siegestrunkenen Magistern, Rektoren und Kantoren in plumpen Knittelversen zusammengereimt wurde. Neubauer in seinem »Pammachius« läßt den Papst sich gegen die dreifache Krone dem Teufel verschreiben, während Christus die Wahrheit und den Apostel Paulus an die Elbe zu Luther in die Lehre schickt, um gegen Rom und die Jesuwider zu kämpfen. In Nikolaus Manuels »sterbender Beicht« ist die Beichte, aus Ärger darüber, daß die Messe in Deutschland verklagt worden, an der schweinenden Sucht und Etica erkrankt, und da der Doktor nach dem heiligen Öl schreit, hat der Küster seine Schuhe damit gesalbt usw.

Aus diesem Pöbelgetümmel ragt der Nürnberger Schuster Hans Sachs (1494–1576) hoch und einsam hervor, mehr durch seinen vornehmen Charakter im besten Sinne als durch seine poetischen Leistungen. In seinen zahllosen Werken und Werkchen (er hinterließ, fast wie der Spanier Lope de Vega, weit über tausend Stück) spiegelt, echt dramatisch, sich der ganze geistige Inhalt seiner verhängnisvollen Zeit: die neue Opposition gegen die alte Kirche, der allmähliche Übergang der religiösen Bewegung ins Politische und endlich die Richtung auf die Wirklichkeit und das alltägliche Privatleben.

Er debütierte 1523 mit seiner berühmten »Wittenberger Nachtigall« und 1527 mit einer Schrift gegen das Papsttum (Eine wunderliche Weissagung von dem Babstumb usw.), welche ihm wegen der darin enthaltenen Beleidigungen gegen Kaiser und Papst eine ernstliche Rüge des Rates von Nürnberg zuzog, mit dem Befehl, »daß er seines Handwerks und Schuhmachens warte und sich enthalte, einig Büchlein oder Reimen hinfüro ausgehen zu lassen«. Hans Sachs wußte jedoch besser als der Rat, was seines Amtes sei; er fuhr unbeirrt fort, zu schreiben und gegen die Kirche zu polemisieren. Aber das grobe und lügenhafte Parteigezänk widerte seine edlere Natur an; seine religiöse Polemik ist überall würdig, gemäßigt und gerecht, soweit das letztere damals überhaupt irgend möglich war. Ja, es erging ihm in dieser ungeheuren Verwirrung fast wie dem ehrlichen Simplicissimus; er fühlt sich, wie er selbst sagt, »beständig von dreierlei Partei umtrieben: erstlich von den Maulchristen, darnach von den Romanisten und von den Religiosen, sind eines Tuchs drei Hosen, die er nicht ziehen kann.«

Späterhin aber sehen wir ihn ebenso rüstig dem allgemeinen Zuge des Zeitgeistes von der Religion zur Politik folgen. Und hier vor allem, namentlich in seinen Kampfgesprächen, zeigt sich sein geistig vornehmes Wesen über den wüsten Lärm der Parteien erhaben und als ein wahres Gegenbild des unruhigen, fanatisch revolutionierenden Hutten, indem er es wagt, die ethische Seite der Politik herauszugreifen und die Rettung Deutschlands einzig auf Bürgertugend und ehrlichen Gemeinsinn zu stellen.

Zuletzt endlich zieht er in seinen eigentlichen Fastnachtsspielen sich gänzlich in das Privatleben, auf Kirchweihen, Jahrmärkte, Bierstuben, unter Bauern und Handwerker zurück. Aber das Gemeine, weit entfernt, ihn zu sich hinabzuziehen, wird vielmehr von ihm an sein sittliches und künstlerisches Richtmaß heraufgehoben. Ein ironischer Duft und unschuldiger Mutwille schwebt über dem derbplastischen Treiben: man fühlt, hier ist er bequem zu Hause und durchaus liebenswürdig. – Außerdem zwar führte ihn sein gesunder poetischer Instinkt auch im Drama noch häufig zu edleren und höheren Stoffen. Er hat viele Schauspiele nicht nur aus dem Alten und Neuen Testament, sondern auch aus der Geschichte, aus gleichzeitigen Novellen und aus den Romanen und Volksbüchern von Siegfried, Magelone, Artus, Tristan usw. Allein diesen »ernsten Historien« war, wie wir schon oben bemerkt, die ganze Anschauungsweise dieser Zeit und folglich auch ihr getreuester Sohn Hans Sachs nicht mehr gewachsen. In seinen biblischen Dramen ist die Religion in bloße Moral und Allegorie, in seinen historischen Stücken das Heldentum ins Spießbürgerliche umgeschlagen; und überall begegnet uns mehr oder minder das hölzern Eintönige und Handwerksmäßige einer sauber und praktisch wohleingerichteten Fabrik. Überhaupt aber war das Talent und Verdienst dieses Dichters mehr negativ als wirklich produktiv. Er ist nämlich, was alles freilich für die damalige Zeit nicht hoch genug angeschlagen werden kann, nirgend gemein; er hat niemals die breite Bahn zum stolzen Gelehrtenparnaß versucht, sondern stets herzlich zum Volke gehalten; er hat endlich die schon halbvergessenen dramatischen Elemente zwar nicht erfunden, aber wiedergefunden http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0627.pngund treulich gesammelt und gerettet; seine ganze dramatische Arbeit ist nur eine Studie und Vorbereitungsschule für das wirkliche Schauspiel. Und in dieser Beziehung hat er die größte Ähnlichkeit mit der dramatischen Dichterschule in England vor Shakespeare, nur daß diese ein junges Weltreich, Hans Sachs eine eng ummauerte Reichsstadt vor Augen hatte. Auch diesem Übelstande sollte indes bald und ganz unerwartet abgeholfen werden. Die sogenannten englischen Komödianten – von denen man nicht einmal mit Gewißheit weiß, ob sie Deutsche oder Engländer waren und ob sie deutsch oder englisch spielten – durchzogen unter ungeheuerem Beifallsjubel wie ein funkensprühendes Meteor ganz Deutschland vom Rhein bis zur Weichsel, mit neuen Stoffen, Formen und Kunstgestalten den dramatischen Horizont plötzlich nach allen Seiten hin ins Unermeßliche erweiternd. Der Eindruck mußte um so gewaltiger sein, da es die erste Bande Schauspieler von Profession und also dem bisherigen blöden und ungeschickten Dilettantismus der Handwerker bei weitem überlegen war. Die alte reichsbürgerliche Ehrbarkeit ist eben nicht ihr Metier, Mord und Brand das Hauptthema ihres wilden, bluttriefenden Schauspieles. Jedenfalls aber brachten sie aus England, wo die volkstümliche Komödie schon früher sich zu gestalten angefangen, mächtig anregend das ganze rohe Material des Wunderbaues mit herüber, den bald darauf Shakespeare hervorgezaubert hat.

In Deutschland fehlte leider der kühne Baumeister; es blieb alles bloßes Material. Vorzüglich zwei Dichter traten hier die wüste Erbschaft an, um sie unordentlich zu verwirtschaften. Der Prokurator und Notar Jakob Ayrer, abermals in Nürnberg, hatte sich aus dem englischen Nachlaß ganz besonders die Grausamkeit erwählt und ging, fast wie ein Trunkner, mit lauter Schauder, Blut und Schrecken dem schaugierigen Publikum verzweifelt zu Leibe. In dreißig Zeilen schneidet in seinem Servius Tullius zuerst Lucius Tarquin seiner Gattin den Hals ab und läßt sie verzappeln und vergiftet Tullia ihren Gatten. Im Kaiser Otto werden dem Conscentius Nase und Ohren abgeschnitten, dem Papst Johann die Augen ausgestochen, einer, der um die Kaiserin buhlt, wird verbrannt, einer, der sie verschmäht, hingerichtet, und der Kaiser mit ein Paar Handschuhen vergiftet; und im Mohamet schlägt der Sultan gleich anfangs seinem Bruder den Kopf ab und wundert sich,  http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0628.pngdaß seine Mutter um eine Handvoll Bluts dabei weinen mag usw. Diese kleine Probe, womit Gervinus den Vorhang lüpft, mag hinreichen, von dem unerhörten Grobianismus einen ungefähren Begriff zu geben.

Nicht so blutdürstig erweist sich der im Jahre 1613 verstorbene Herzog Heinrich Julius von Braunschweig, welchem wir schon oben beim Romane begegneten, in seinen zahlreichen Tragödien und Komödien, die er meist unter der Chiffre hibaldeha (d.i. Henricus Jul. Brunsvicensis a Luneburg. dux edidit hunc actum) hinterlassen hat. Seine dramatischen Schwänke vom Gastgeber, vom verlorenen Sohn u.a., sowie vor allem seine Komödie vom Vincentius Ladislaus Sacrapa von Mantua, bekunden ihn als einen begabteren Dichter, der wohl imstande gewesen, den aus dieser Verwirrung sich hervorarbeitenden höheren Geist zu erkennen. Überhaupt war noch keinesweges alle Hoffnung verloren. Die Anregung, die von den englischen Komödianten ausgegangen, hatte die bereits schwankende Richtung des Dramas zum Volkstümlichen, wie es schien für immer, entschieden und befestiget; ja der verständige Herzog Heinrich suchte durch die Einrichtung eines Hoftheaters in Braunschweig die Volkskomödie mit der höheren Bildung zu vermitteln und somit zum wahrhaften Nationalschauspiele zu machen, was sie in Spanien schon war. Aber zu spät! Die furchtbare Katastrophe, nach welcher alle politisch religiösen Leidenschaften schon lange hinarbeiteten, brach herein: Der Dreißigjährige Krieg vernichtete das deutsche Theater von Grund aus.

Dies wäre indes am Ende noch der geringste Schade gewesen; denn an der bisherigen Bühne war, wie wir gesehen, eben nicht sonderlich viel verloren, und ein ehrlicher Krieg stählt und kräftiget überall das Volk, das sich sonach sehr bald ein besseres Theater wieder aufgebaut hätte. Allein dieser Krieg war kein ehrlicher und hatte für Deutschland, ganz abgesehen von der materiellen Zerstörung und Verarmung, zwei eigentümlich verderbliche Folgen. Einmal nämlich war das ganze vorgeschobene Motiv des Krieges im Grunde nur eine große Lüge; die Fürsten, mit wenigen ehrenhaften Ausnahmen, kämpften nicht mehr für den Glauben, sondern um Klostergüter, Abteien und fette Bistümer, und oktroyierten leichtfertig, je nach dem wechselnden Bedürfnis, ihren Untertanen bald diese, bald jene Religion, fast wie jener Weltnarr im Simplizissimus mit Schwefel und Pech martyrisierend, wer dawider glaubte. Das alles aber hatten ihnen die armen Untertanen sehr bald abgesehen; das ganze deutsche Volk ging unter die Landsknechte, die nun, gleichviel ob unter katholischen oder protestantischen Fahnen, ebenfalls nicht für die bessere Lehre, sondern um den besseren Sold einander die Hälse brachen und martyrisierten. So entstand nach und nach eine allgemeine religiöse Gleichgültigkeit und Indifferenz. – Sodann aber wurde dieser Krieg von Fremden auf deutschem Boden geführt, und Deutschland, von dieser nachhaltigen, schwedischfranzösischen Invasion innerlich zersetzt und aufgelöst, gewöhnte sich, in schmählichem Selbstvergessen lediglich nach der Fremde auszusehen. Und so entstand die Sprachmengerei und plumpe Nachäffung, die uns so lange lächerlich gemacht.

Beide Nationalkalamitäten konnten natürlicherweise auch auf die deutsche Poesie nicht ohne Einfluß bleiben. In unserer Poesie ist fortan das religiöse Element so gut wie ausgestrichen; an die Stelle des Glaubens tritt der Aberglaube an das Ausländische. Am meisten aber mußte das Theater darunter leiden. Das Theater braucht jederzeit einen gewissen Wohlstand, behäbige Geselligkeit und äußeren Apparat; das Drama ist der Luxus der Poesie, und an Luxus konnte das bankerotte Deutschland jetzt am wenigsten denken. Als daher nun die Deutschen ihre plötzlich von den Brettern auf das wirkliche Schlachtfeld verpflanzte grausame Tragödie verblutend zu Ende gespielt hatten, war alle dramatische Tradition fast bis auf die Erinnerung erloschen, und was davon noch übriggeblieben, war wüst und verwildert, wie das Volk und seine Sprache. Das Schauspiel mußte, gleichsam stammelnd, ganz von vorn wieder anfangen und knüpfte instinktartig noch einmal an die Kirche an. Der Nürnberger Johann Klaj trug nach beendigtem Gottesdienst rezitativisch, ohne Dialog und nur zuweilen von Chören unterbrochen, Szenen aus Christi Leben vor. Aber damit war diesem Geschlechte wenig gedient, die Kirche war vernichtet und das Volk noch vom Blutdampf berauscht. Aus der halbverschütteten Wurzel schoß wüstes Gestrüppe üppig hervor; alles Unkraut der ehemaligen Komödie: schamlose Zoten, handgreifliche Späße, Prügeleien und Burzelbäume mit gelegentlichem Feuerwerk und anderem Schaugepränge; das alles filzte sich überwuchernd zu dem sogenannten »Mordspektakel« zusammen, eine neue Ausgeburt des Krieges. Der grobianische Gesell und Gumpelmann betrat die Bühne, daß die Bretter krachten; der Hanswurst hatte alle Helden überlebt.

Da erbosten sich, wie billig, die Gelehrten über diese Pöbelwirtschaft und spitzten voll Verachtung die Federn, um die Sache aus ihren griechischen und lateinischen Kompendien gründlich zurechtzumachen. Wir übergehen hier, als gar nicht zur Poesie gehörig, die Flut von Schulkomödien biblischen, historischen und antiquarischen Inhalts, welche von protestantischen Pastoren, Rektoren und Kantoren abgefaßt und von Studenten, meist in lateinischer Sprache, pflichtschuldigst gespielt wurden. Das wesentlich noch immer geistliche Schauspiel war also aus der Kirche in die akademischen Hörsäle, Rathäuser und Schützenhöfe verlegt, und an die Stelle der leitenden Geistlichen traten die Professoren. Ihre Stücke sind indes eben nur dramatische Schulexerzitien und von der er wachsenen Nachkommenschaft längst in den großen Makulaturkorb der Literatur geworfen. In Frankreich dagegen war zu dieser Zeit die weltberühmte Aristotelische Tragödienfabrik bereits im schönsten Flor und Gange, und von dorther holte man sich daher fortan die richtige Schablone.

Schon Opitz, der überhaupt mehr Ausländisches als Eigentümliches hat, mehr reproduzierte als erfand, lenkte auf diese Bahn hin, durch seine Übersetzungen von Sophokles' Antigone, von Senecas Trojanerinnen sowie des italienischen Schäferspieles Daphne. Durch das letztere vorzüglich verschuldete er den nachfolgenden Schwarm von Schäfereien, wo Hirten mit Haarbeutel und Hirtinnen im Reifrock, mit den Schäferromanen an Unnatur wetteifernd, galante Diskurse miteinander führen und in der Tat etwas frappant Schafmäßiges haben. Mit diesem vornehmen Idyll nahe verwandt sind die sogenannten Wirtschaften, dialogisierte Bonmots und allegorische Witze, eine Art halbimprovisierte Maskeraden, die an den Höfen von fürstlichen Personen und Kavalieren aufgeführt wurden und in denen selbst Leibniz einmal bei einer Hoffestivität zu Charlottenburg die Rolle eines marktschreierischen Quacksalbers gespielt haben soll.

Das alles waren indes nur dilettantische Versuche. Den eigentlichen Übergang vom Volke zu den Gelehrten eröffnet erst der Schlesier Andreas Gryphius (1616–1664). Er selbst steht noch ungewiß und zweifelhaft in der Mitte zwischen beiden.  http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0631.pngSeine Lustspiele haben durchaus noch den alten volkstümlichen Klang, ja, sein Scherzspiel im schlesischen Volksdialekte, »die geliebte Dornrose«, ist eine Fastnachtsposse im allerbesten Sinn; und doch zieht er in seinem »Peter Squenz« gegen die bettelhafte Volkskomödie der Handwerker und im »Horribilicribrifax« gegen ihre grobianischen Gumpelmänner und Prahlhänse schlagend zu Felde. Umgekehrt wendet er sich in demselben Lustspiele mit ebenso scharfem Hohne in seinem karikierten Sempronius gegen die anmaßende Schulweisheit der Gelehrten, während er selbst doch in seinen Tragödien sich den Seneca zum Muster gewählt und sogar den antiken Chor eingeführt hat. In diesen Trauerspielen aber ist eigentlich der Dichter selbst die tragischste Person, wie er unablässig in finsterem Groll und Schmerz mit dem ungeheuren Unglück des Vaterlands, mit der verwilderten Sprache und den Mißgeschicken seines eigenen Lebens männlich ringt, überall das Hohe ahnend, wofür er doch nirgend den rechten Ausdruck finden kann und daher häufig auf die ausschweifendste Ungeheuerlichkeit der Rede verfällt und in steter unruhiger Hast nach den entgegengesetztesten, antiken, romantischen und modern politischen Stoffen um sich greift. Er hat einen Leo Armenius und einen Karl Stuart, einen Papinianus und eine christliche Märtyrerin Catharina von Georgien; und spricht von »rosenweißen Wangen« und von »schwefelichter Brunst der donnerharten Flamme«.

Seine zahlreichen Nachahmer hatten seinen Ernst und Schmerz vergessen und nur seine Extravaganzen sich gemerkt. Unter ihnen aber hat der Breslauer Lohenstein (1635–1683), ein guter Jurist und schlechter Dichter, wie in seinem Romane Arminius, so auch in seinen Trauerspielen wiederum den Kernschuß getan, indem er den hinterbliebenen Redeschwulst sich zum speziellen Ziele ausersehen und die vom Lebenssturm wirr durchwühlten Locken des Gryphius, als ein meisterhafter Sprachverkünstler, in eine förmliche Staats-und Allongeperücke aufkräuselte und auftürmte. Zugleich zeigt Lohenstein am deutlichsten, wie diese Gelehrten von der Geschmacklosigkeit, brutalen Roheit und Sittenlosigkeit der Pöbelkomödie, die sie zu bekämpfen meinten, nur formell unterschieden waren, ja dieselbe wo möglich noch überboten. So z.B. jubelt in seiner »Agrippina« die Buhlerin Poppäa auf der Leiche der auf des Sohnes Geheiß ermordeten Agrippina. In der »Epicharis« trinken zwar in den ersten Akten nur die Verschworenen unter greulichen Flüchen einander Blut zu, und mehrere Personen werden bloß gefoltert; dagegen geht es im vierten Akte um so wütender, und zwar auf der Bühne, ans Köpfen, Zungenausreißen und Aderzerschneiden, während die Atilla nackt bis zur Ohnmacht gepeitscht wird. Überall bilden Mord, Wollust, Notzucht und Blutschande das Hauptthema des Dichters; sehr begreiflich daher, daß die römische Kaiserzeit und die Barbarei des türkischen Hofes der eigentliche Schauplatz seiner Tragödie, Nero sein Lieblingsheld ist. Dazu kommt noch, wie in den damaligen Romanen der schwerwuchtende Ballast Von »Realien«, antiquarischer, geographischer und historischer Kuriositäten, um sich über das gemeine Volk erhaben zu zeigen. Wahrlich, der wenigstens doch natürliche Büffellaut der Pöbelkomödie ist noch unschuldiger und erträglicher, als dieser prätentiöse Kannibalismus. Der Abgott seiner gelehrten Zeitgenossen aber, ja unsterblich, wurde Lohenstein vorzüglich durch seinen abenteuerlich forcierten Wortschwall. Und in diesem Fache hat er in der Tat so Unerhörtes geleistet, daß man es selber nachlesen muß, um es zu glauben. So heißt es z.B. in seiner Tragödie Agrippina:

»Megära: Erzmörder! Wie die blut'gen Striemen,Die meine Schlangenrute schlägt,Orestens schwarzen Nacken blümen,Weil er die Mutter hat erlegt,So soll auch dich (Nero) mit zehnmal ärgern SchmerzenDie Peitsche röten, Glut und Schwefel schwärzen.Tisiphone: Kommt Schwestern, helft mir Ruten binden,Kommt, leiht mir euer nattricht Haar,Helft Harz vom Phlegeton anzünden,Reicht Schwefel, Pech und Zunder dar.Entblößet ihn, braucht Fackel, Flamm und Rute,Bis sich der Brand lösch in des Mörders Blute.«

Und sein Drama Ibrahim Bassa wird durch folgenden Monolog der Asia eröffnet:

»Wehe! weh! mir Asien! ach! weh!
Weh mir! ach! wo ich mich vermaledeien,
Wo ich bei dieser Schwermutssee,
Bei so viel Ach selbst mein betränt Gesicht verspeien,
Wo ich mich selbst mit Heulen und Zeter-Rufen
Durch strengen Urteilsspruch verdammen kann!
So nimm dies lechzend Ach, bestürzter Abgrund an!
Bestürzter Abgrund! O die Glieder triefen
Voll Angstschweiß! Ach des Achs! Der laue Brunn
Der dürren Adern schwellt den Jäscht der Purpur-Flut!
Mein Blutschaum schreibt mein Elend in den Sand!«

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Dieser pomphafte Parademarsch aber war denn doch zu lächerlich steif und pedantisch, um nicht endlich einen Gegenstoß hervorzurufen. Der Führer der Revolte ist derselbe Christian Weise (1642–1708), den wir schon oben beim Roman in gleichem Kampfe angetroffen, ein wackerer Mann von gesunder Einsicht und den besten Intentionen. Auch hier wollte er, wie Lope de Vega in seiner berühmten arte nuevo de hacer comedias, nach Aristoteles, antiker Form und allem Regelzwang nicht fragen, sondern »bei seiner Freiheit bleiben, an der Einfalt seine Lust behalten, die der Natur am nächsten komme, und jede Person nach ihrem Naturell reden lassen«. Und mit dieser einfachen Beschwörungsformel trat er aller Karikatur der Gelehrten, der komischen wie der tragischen, ihren bebänderten Schäfern und breitmäuligen Helden, herzhaft entgegen und florierte hiernach natürlicherweise zumeist im Lustspiel und in der Posse, machte aber auch im Trauerspiel wie Shakespeare, das Komische geltend. Er hatte gewiß überall vollkommen recht, nur leider nicht die erforderliche Kraft, sein gutes Recht gebührlich durchzusetzen. Denn das bloß »Naturelle«, worauf er zurückging, hat noch nirgend die Unnatur bezwungen; und zudem war dieses Naturelle grade damals in Deutschland unglücklicherweise nicht mehr poetisch, was es zu Lopes Zeiten in Spanien allerdings noch gewesen. Weise geriet daher in seinen Komödien, die durchaus nur »eine akkurate Vorstellung einer Begebenheit« sein sollten, unwillkürlich immer mehr in das andere Extrem, von den sublimen Helden unter gemeine Wäscherinnen, Bauern und Handwerksburschen, aus dem Tempel in die Schenke, und verbannte unnützerweise den Vers, wovor sich Lope wohl gehütet hatte.

Inzwischen hatte, wie wir gesehen, Klaj durch seine Deklamation die modernen Kantaten und Oratorien eingeleitet, die Schäfereien mit ihren eingestreuten Arien und Rezitativen waren, seitdem Peri Opitzens Daphne komponiert, fast schon http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0634.pngwirkliche Singspiele geworden, die Tragödien in lauter Schall und Knall, die Volkskomödien in wüstem Schaugepränge aufgegangen; als endlich Weise allen Regelnzwang aufhob und somit dem Dilettantismus die willkommne Freiheit gab, alle diese Elemente, deren jedes für sich bereits zu langweilen anfing, lustig durcheinander zu mischen. So kam es, daß nun Christliches und Heidnisches, Pathos und Pickelhäring, Oratorium und Zote, Prozession und Ballett in ein neues dramatisches Monstrum: in die Oper, diesen auf Noten gesetzten Gesamtunsinn des Zeitalters, unaufhaltsam zusammenschoß. Christian Dedekind, den seine Freunde Christi Dudelkind nennen, schrieb für den Kapellmeister Bernhard in Dresden Opern geistlichen Inhalts, wo Apoll und Pythia an der Krippe des Christkindes vorkommen. In seinem sterbenden Jesus erhängt sich Judas auf der Bühne, während der Satan dazu als Echo singt; und als sodann Judas am Stricke zerplatzt, rafft Satan seine Eingeweide in einen Korb zusammen und singt abermals eine Arie dazu, während eine andere Arie des über die Verkündigung der Morgenländer zornigen Herodes beginnt:

»Donner und Hagel, Hammer und Nagel,schmiedendes Eisen,stechende Spitzen, Mäßer zum Schlitzenwill ich dir weisen« usw.

In Bostels »Mustapha« marschieren deutsche, tatarische, polnische und türkische Armeen in Kostüm auf; in der Oper »Semiramis« werden alte Damen in feuerspeiende Lanzen verwandelt, und im »Jason« steigt das Schiff Argo singend zum Himmel, wo es in einen Stern verwandelt wird. Aber auch die Wucht der Gelehrsamkeit durfte nicht fehlen; neben grunzenden Bären und anderen Ungeheuern wurden Staatsmaximen, Mandate und Schulmoral in Arien abgesungen, ja es gab Opern über Bierbrauen und Schlächterei.

Kein Wunder daher, daß endlich die Theologen donnernd dazwischenfuhren und namentlich in Hamburg ein wütender Pamphletenkampf für und wider die Oper entbrannte. Allein die geistlichen Bannstrahlen wollten nirgend mehr zünden, das damalige Opernfieber scheint ebenso epidemisch gewesen zu sein als das heutige. Denn selbst die Universitäts-Fakultäten zu Wittenberg und Rostock entschieden jenen Streit zugunsten der Oper. Ihr zuliebe wurde in Dresden das erste stehende Theater gegründet; Leipzig, Nürnberg und Hamburg, wo die Seitenszenen neununddreißigmal, die Mittelszenen einige hundertmal verändert werden konnten, folgten dem Beispiele, in Wien kostete jede einzelne Oper an 60000 Gulden, und um 1700 zählte man bereits zehn Opern auf ein Schauspiel. Doch zogen sich sehr bald die besten, Postel und Hunold, aus moralischen Rücksichten von den Operntexten auf Epos und geistliche Dichtung, Sebastian Bach und Händel, nachdem sie eine ganze Reihe längst vergessener Opern komponiert, auf die Kirchenmusik zurück, und Feind, selbst einer der rüstigsten Operndichter, mußte zuletzt eingestehen, daß nach dem Geschmack der Welt Opern aufzuführen, ebenso pläsierlich als schwer, ebenso rühmlich als tadelhaft, ebenso schön als ärgerlich und in den meisten hamburgischen Opern etwas wider Anstand und christliche Sitte sei.

Mit diesem Gange des Dramas mußte natürlich auch die Schauspielkunst gleichen Schritt halten, deren Aufgabe ja nicht die Komposition, sondern eben nur die Virtuosität ist, das von den Poeten Erfundene treu und geistreich abzuspielen. Als daher die Gelehrten feierlich in Reih und Glied traten, machten auch sofort die Schauspieler eine gelehrte Miene und avancierten von Handwerkern zu Studenten. Veltheim, selbst ein gebildeter und sprachenkundiger Magister aus Halle, warb nämlich um 1670 ein Freikorps von Studenten, welches unter der stolzen Firma: »Berühmte Bande und kursächsische Hofkomödianten« in allen größeren Städten Deutschlands umherzog. Um vor allem ein würdigeres Repertoire zu schaffen, gab er eine prosaische Übersetzung des Moliére heraus, griff in seinen Stoffen häufig auf Corneille und den durch die Jesuitenspiele bekanntgewordenen Calderon zurück und suchte den Hanswurst, als »Kurtisan«, zum spanischen Gracioso zu veredeln. Aber der wohlgesinnte Mann wurde sehr bald von dem unaufhaltsamen »Mordspektakel« übergerannt und erfand in die ser Not das Improvisieren, um den hergebrachten Staatsaktionen, zu denen er sich nun wieder bequemen mußte, wenigstens durch gelegentliche Impromptus ein besseres Ansehn zu geben. Er bedachte hierbei nicht, daß zu dieser Art verwegenen Mitdichtens ein eigentümlicher Geist und Witz vonnöten, der den wenigsten allabendlich zu Gebot steht, und daß bei weitem die meisten Schauspieler nicht die ewige Kunst, sondern die momentane Gunst der Menge suchen. Und so ward denn grade dieses Improvisieren ein willkommener Kanal, auf dem von neuem die alte Unfläterei einzog und alle besseren Intentionen wieder durchlöcherte. Vergebens wurden dagegen die sogenannten »Dirigierbücher« eingeführt und darin Plan und Gang des Stückes sowie die Stelle und der ungefähre Inhalt der Improvisation vorgeschrieben. Jos. Stranitzky und Franz Schuch nahmen die volle unbedingte Freiheit des Stegreifspiels für ihren Hanswurst in Anspruch, der überdies in den wandernden Komödiantenbanden des Eckenberg u.a. in die schlechteste Gesellschaft, unter mitziehende Luftspringer, Seiltänzer, Taschenspieler und Zahnbrecher geraten war.

Man sieht, eine Reform war hier ebenso notwendig als schwierig, und diese Athletenarbeit nahm Gottsched (1700–66) auf seine breiten Schultern. Wir haben schon einmal bemerkt und müssen es immer wiederholen: um das Verkehrte zu bewältigen, muß man es entweder vor den Augen der Welt zu Tode lachen oder das Bessere und Rechte dagegen aufstellen. Das letztere tat Shakespeare der wilden englischen Volkskomödie gegenüber; Gottsched wollte beides und machte nur sich selber lächerlich. Es ist wahr, Gottsched hat den Lohenstein überwunden; allein das war eben nur ein Kampf der nüchternen Prosa mit der toll gewordenen Prosa. Ebenso hat er ohne Zweifel die unleidliche Theateranarchie gebrochen; aber nicht wie Shakespeare, durch selbstschöpferische Entwickelung der mit der Anarchie ringenden nationalen Freiheiten, sondern nach Tyrannenart durch Unterjochung aller Freiheit. Das Schauspiel sollte, nach ihm, eine deutsche Volksschule sein; und doch wandte er sich vornehm vom Volke ab nach Frankreich, zu den Hofdichtern Ludwigs XIV. und ihrem Zeremonienmeister Boileau, und gründete in Leipzig eine Kommandite der Pariser Tragödienfabrik, in welcher seine Frau und sämtliche Professoren, Rektoren und Schulmeister an Übersetzungen oder sogenannten Originalstücken nach Pariser Mustern im Schweiße ihres Angesichts arbeiten mußten. Was sollte denn also die beständige Grandiloquenz von Deutschheit und deutschen Originalwerken unter solchem Proletariat von Deutschfranzosen?

Mitten im schönsten Flor dieser hölzernen Poetenfabrik aber geriet der stolze Fabrikherr unverhofft in einen heftigen Streit mit den über den anmaßenden Lärm entrüsteten Schweizern, deren Führer Bodmer war; eine durchaus poetische Natur, nur leider selbst kein Dichter, der freilich hier vor allem anderen not tat. Die Reformation hatte, wie wir gesehen, der ganzen modernen Bildung zwei Hauptrichtungen gegeben: einerseits vom Übernatürlichen zur Natur, andrerseits von der Phantasie zum Verstande. Beide Richtungen aber mußten in ihren Konsequenzen sehr bald miteinander kollidieren, da die Natur immerhin etwas Mystisches und Wunderbares sich nun einmal nicht abdisputieren läßt, zu dessen Wahrnehmung der Verstand kein Organ hat. Und dieser echt protestantische Konflikt war es, der damals auf dem Felde der Literatur sich in Bodmer und Gottsched verkörpert hatte. Bodmer, der selbst ein Buch von dem Wunderbaren geschrieben, behauptet, das Wunderbare, in Verbindung mit dem Wahren, sei die Urquelle der poetischen Schönheit, indem der Dichter durch die Kraft seiner Phantasie ganz neue Wesen schafft oder wirkliche Wesen zur Würde einer höheren Natur erhebt. Er erkannte daher die Schönheit von Tasso, Ariost und Milton und war der erste, welcher die längst vergessenen Minnesänger, den Parzival und die Nibelungen wieder bekannt machte. Er wirft den deutschen Dichtern Mattherzigkeit und Trockenheit vor, »die sie durch ihre Philosophie und ihre Liebhaberei am Verstandeswesen sich erwarben, die die Lustbarkeiten der Einbildungskraft unterdrücke«.

Gottsched aber entgegnet: das sei ja eben das Preiswürdige bei der Sache! die Vernunft sei gottlob geläutert bei uns und die ausschweifende Einbildungskraft in ihre Schranken gewiesen; das habe den Fall Lohensteins bewirkt und dauerhafte Schönheiten dafür zuwege gebracht. Er spricht von den »Teufeleien des Tasso«, von den »abgeschmackten Hexereien des Shakespeare«, verwirft Oper und Kantate, »weil der Verstand dabei nichts zu denken habe«, er will, daß die tragische Schreibart stets »auf Stelzen, die komische barfuß gehe«, und weiß, in völliger Impotenz der Phantasie, die Fabel nur durch den lahmen Gelehrtenwitz zu retten, daß man voraussetzen müsse, die Bäume und Tiere, die da reden, hätten vielleicht in einer anderen Welt Verstand und Sprache. – Mit einem Wort: Bodmer verfocht volkstümlich die aufstrebende Gelehrtenrepublik; Gottsched den literarischen Absolutismus. Jener erkannte und förderte überall das strebsame Neue, eiferte für Addison, Milton, Klopstock und für »das allgemeine Recht der Menschen« im Literaturstaate, während Gottsched den französierten Aristoteles zum alleinigen Diktator ausrief und das Vermeintlich goldene Zeitalter der Poesie mit seinen Winkeldichtern Pietsch, Schönaich, Schwabe, Derschau etc. für alle Zeiten abschließen wollte. Beide aber haben eigentlich nur indirekt gewirkt; das Resultat des ganzen Kampfes war nicht eine bessere Poesie, sondern nur der erste Anstoß zu einer Kritik, die allerdings hinterher der Poesie zustatten kam; und der scharfsichtige Liscow sagte daher damals, mit verdeckter Beziehung auf Gottsched, sehr treffend: »obgleich die Esel zur Musik ungeschickt seien, so mache man doch aus ihren Knochen die schönsten Flöten, und so gäben die elenden Schriften Anlaß zu sinnreichen Widerlegungen und Spottgeschichten.«

Überhaupt aber hat Gottscheds ganzer Lebenslauf etwas durchaus Tragikomisches: wie er erst das Aufgebot seiner Schulmeister in den Krieg führt, dann – da diese sich teils invalid erwiesen, teils rebellisch zu den Bremer Beiträglern übergehen – den Kürassierlieutnant Freiherrn v. Schönaich zum Oberfeldherrn ernennt, schlauerweise Voltaire zum Sukkurs ruft und endlich durch ein Vorspiel, in welchem ihn die Neuber auf das Theater brachte, sowie durch Rosts und Pyras Spottgeschichten schmählich Krone und Zepter einbüßt. So hatte ihn die Nemesis erreicht; der Hanswurst, den er in Leipzig feierlich in den Bann getan, hatte ihm zum Valet über die stattliche Professorperücke, die so lange wie eine furchtbare Donnerwolke nach allen Seiten Blitze geschleudert, unversehens seine Schellenkappe gestülpt, welche er, ohne sie selbst zu gewahren, bis an sein Lebensende zu großem Ergötzen des Publikums mit gravitätischem Anstande trug.

Wir sagten, das Resultat des Gottsched-Bodmerschen Kampfes war nicht die bessere Poesie, sondern die Kritik. Denn Bodmer hatte nur erst eine Poesie überhaupt wieder möglich gemacht, indem er die Dichter von dem unsinnigen Regelnzwange der Gelehrten befreite und dadurch allerdings einen unberechenbaren Impuls gab, der jedoch erst bei den folgenden Generationen sich wahrhaft produktiv erweisen sollte. Gottscheds bedeutendster Schüler aber, Johann Elias Schlegel, der gewiß alles geleistet, was sich unter dem Gottschedschen Banner irgend leisten ließ, zeigt eben nur die gänzliche Unmöglichkeit dieser Schule. Seine Tragödien gehen, dem Kommando des Meisters gemäß, sämtlich »auf Stelzen, und die Lustspiele barfuß«, so daß von den letzteren Lessing sagen mußte, es herrsche darin das kälteste, langweiligste Alltagsgewäsche, das nur in dem Hause eines meißnischen Pelzhändlers vorfallen könne. Ein anderer Dichter, Christian Felix Weiße in Leipzig, trat in seiner Jugend gleichfalls getreulich in die breitspurigen Fußtapfen Gottscheds, den er jedoch später, von Lessing scharf in die Schule genommen, in seinen Lustspielen, besonders in den »verwandelten Weibern oder der Teufel ist los« und in den »Poeten nach der Mode«, verhöhnte und auf das höchste erzürnte. Dennoch kehrte er bald darauf in seinen Trauerspielen: Eduard und Richard III., Romeo und Julie, Jean Calas etc., von neuem zu Gottscheds Stelzen zurück, bis endlich sein leichtes Liedertalent im Singspiele – wovon noch manches, wie »Lottchen am Hofe«, »die Liebe auf dem Lande«, »die Jagd« etc. den ältesten Theaterfreunden erinnerlich ist – seinen eigentlichen bequemen Ausdruck gefunden und also das mächtige Bollwerk, das Gottsched mit ungeheuerem Fleiß und Haß gegen die Oper aufgetürmt hatte, wieder niederwarf.

Dagegen hatte jener Kampf unleugbar die natürliche Folge jedes rechtschaffenen Krieges: er hatte den alten Schlendrian in seiner verjährten Philisterwirtschaft gründlich gestört und ein neues Geschlecht jugendlicher Streiter erzogen, welches nun dem groben Geschütze Gottscheds gegenüber ein tüchtiges Freikorps bildete. Der besonnene Karl Christian Gärtner, Cramer und Adolf Schlegel, der Vater von A. W. und Friedrich von Schlegel, setzten im Jahre 1742 den Gottschedschen »Belustigungen des Verstandes und Witzes« ihre »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (von dem Verlagsorte die Bremer Beiträge genannt) entgegen, eine Zeitschrift, die bei dem Gelehrtenprozeß in Sachen der Poesie auch dem unbefangenen Urteil und Interesse der Damen Sitz und Stimme zuerkannt und in der Literatur gewissermaßen Revolution gemacht hat. Denn viele junge Sachsen, die anfangs noch zu Gottsched gehalten, seinen langweiligen Kamaschendienst aber endlich unerträglich gefunden hatten, wie Rabener, Ebert, Zachariae, Gellert und Giseke, traten jetzt zu den Bremern über; zu ihnen gesellten sich später auch: Lessing, Hagedorn, Gleim und Klopstock, und eroberten, immer weiter vordringend, mit wesentlich Bodmerschen Waffen ganz neue Provinzen, an die Bodmer selbst noch nicht zu denken gewagt. Es war in Deutschland der erste kritische Feldzug. Ohne Kritik aber konnte die Poesie, nachdem sie sich einmal mit dem Verstande so eng verbunden, nicht mehr bestehen. Und so wollen wir denn dem Federkriege Gottscheds und Bodmers, so unerheblich er an sich erscheint, seiner Nachwirkung wegen gern die wohlverdiente Ehre lassen.

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Die Lyrik, nachdem sie das Rittertum überwunden, ging, ihrem unverwüstlichen Geiste nach, zum Volke, d.i. zum Landvolk, unter Hirten, Jäger, wandernde Handwerksburschen und alle frischen Gesellen, die unter freiem Himmel hantieren. Mit ihrer noch vom alten Minnegesang überkommenen Kunstform aber wandte sie sich zu den Städten, von wo aus zugleich auch die humanistische und klassische Literatur mit eindrang und diesen Übergang noch komplizierter und verwickelter machte. Und so haben wir jetzt einerseits den Meistergesang und andrerseits das Volkslied, ein Geschwisterpaar, dem man jedoch kaum eine Familienähnlichkeit mehr ansieht.

Der Meistergesang ist allerdings aus den letzten halbverschollenen Traditionen des alten Minnegesangs entstanden; doch nur das leere Prachtgerüst ist davon geblieben, alles Ritterliche mit seiner Schönheit und seinen Unarten und Ausschweifungen sorgfältig ausgeschieden. Knapp, ehrbar, nüchtern und pedantisch wie er ist, könnte man den Meistergesang vielmehr eine unbewußte und unfreiwillige Parodie des Minnegesangs, den ins Spießbürgerliche übersetzten Minnegesang nennen. Auch der Meistergesang hat anfangs fast nur religiöse Gegenstände, namentlich den Marienkultus, behandelt, aber grübelnd und karikiert; er sollte die Stelle der alten Asketik vertreten, ohne den alten Heldenmut, der zur wahren Asketik erforderlich, und so wurde er sehr bald lediglich eine Arche der Lutherischen Lehre. Den Gesängen durften durchaus nur Texte aus der Bibel, die bei ihren Hauptsingen jederzeit auf einem Pulte aufgeschlagen lag, untergelegt werden, und jede Abweichung, alle »papistischen« Gedanken und Stellen waren als »falsche Meinungen« auf das strengste verpönt.

Da hiernach das Wesen des Minnegesanges abhandengekommen, so warf man sich nun lediglich auf die Form desselben und übertrieb diese, die ohnehin schon bei den Rittersängern überkünstlich gewesen, bis ins Unglaubliche. Da gab  http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0641.pnges zweihundertzweiundzwanzig verschiedene Singstrophen, darunter manche Strophe zu hundert Reimen, es gab einen blauen und roten Ton, eine gelb-Veiglein-Weise, eine gestreift-safranblümleinweis, eine kurze Affenweis, eine Fett-Dachsweis usw.; alles durch die sogenannte Tabulatur in unverbrüchliche Regeln gebracht. Dieses kindische Wesen, wo das Weberschiffchen des Reimes nach vorgeschriebenen Mustern in tausend wechselnden Verschlingungen hin und her läuft, hat die meiste Ähnlichkeit mit der Leinweberei. Und doch, indem es förmlich studiert werden mußte, ist es auch wieder eine Art von Gelehrtenpoesie; um so verkehrter, da die Poeten nicht Gelehrte, sondern Schuster, Schneider, Lohgerber und andere Handwerker sind, die allabendlich vom Schusterschemel ihren hölzernen Pegasus besteigen und nach der Tabulatur zureiten. An den Sonntagen aber nach dem Nachmittagsgottesdienst versammelten sie sich mit Frau und Kindern in der Kirche, im Rathause und zuletzt in den Handwerkerherbergen, um ihr Wochenfabrikat vorzulegen und »Schule zu singen«. Obenan saß da feierlich der Vorstand, das sogenannte Gemerk; die Merker kritisierten und fällten das Endurteil, die besten Gedichte wurden in ein großes Buch zusammengeschrieben, das der Schlüsselmeister aufbewahrte, und wer so glücklich war, einen neuen Ton zu erfinden, ward vom Kronmeister gekrönt oder mit einem Kleinod belohnt.

Manche neueren Literarhistoriker halten dem Meistergesange, wenigstens vom moralischen Standpunkte, eine auffallend warme Lobrede. Wir aber können bloß deshalb, weil er allerdings eine Erfindung der Reformation war, die Philisterei, d.i. das ernste Wichtigtun mit Lappalien, unter welchem Namen es auch erscheine, durchaus nicht als eine würdige und angemessene Abenderholung abgearbeiteter Handwerker anerkennen. Und philisterhaft war dieser Meistergesang, wir mögen ihn nun von seiten des Inhalts oder seitens der Form betrachten. Wir meinen vielmehr, ein Abendgebet, ja selbst eine herzhafte Lustbarkeit nach der Tagesarbeit wäre stärkender und heilsamer gewesen als diese »holdselige« Kunst, die notwendig bei vielen nur ein ganz nutzloses und vergebliches Streben, Autorneid, Eitelkeit und Eigendünkel erwecken mußte. Jedenfalls war es ein schlimmes Zeichen der Zeit, daß diese guten Leute und schlechten Poeten, die doch jeden Pfuscher ihres Handwerks entrüstet aus ihren Zünften stießen, nicht einmal eine Ahnung davon hatten, daß sie selbst die echten Bönhasen der Poesie waren. Der einzige wirkliche Dichter unter ihnen, Hans Sachs, soll freilich selbst eine Unzahl von Meistergesängen verfertiget haben, hütete sich aber wohl, sie in die Sammlung seiner Poesien aufzunehmen.

Diesen poetisierenden Handwerkervereinen stehen die Sprachgesellschaften der höheren Stände ziemlich gleichartig gegenüber. Wie bei den Meistersängern handelt es sich auch in diesen Gesellschaften um die bloße Form; wie jene ihre Töne und Weisen, so haben diese ihre künstlich verschlungenen Beiwörter und eine (wenngleich nicht so benannte) Tabulatur von prosaischen Zwangsregeln und Schäferlichkeiten. Ihr gemeinsamer und sehr zeitgemäßer Hauptzweck war, die verwilderte deutsche Sprache zu reinigen und vom Latein, das allen Ausdruck der Gebildeten an sich gerissen, zu emanzipieren; ihr Vorbild die in Italien zur Veredelung der Vulgarspache bereits seit geraumer Zeit bestehenden sogenannten Akademien. Allein die Italiener griffen dabei auf ihr nationales klassisches Altertum zurück, und da unsere Sprachgesellschaften sich auf dasselbe, hier aber volksfremde Element stützen wollten, so schlug bei ihnen alles in eitel Philologie und Purismus um.

Den Reigen eröffnet die 1617 in Nachahmung der italienischen Akademie della Crusca gestiftete fruchtbringende Gesellschaft (auch Palmenorden genannt), welche erst in Köthen, dann in Weimar blühte und deren erster Vorstand der anhaltische Herzog Ludwig war. Jedes Mitglied sollte dafür sorgen, daß die deutsche Sprache, ohne Einmischung fremder Worte, in ihrem rechten Wesen erhalten werde, und empfing bei seinem Eintritt ein Symbol und Beinamen aus dem Pflanzenreich mit dazugehöriger Devise, z.B. der Herzog Ludwig ein Weizenbrot und die Bezeichnung: der Nährende nebst der Devise: »Nichts Besseres«. Unstreitig hat dieser Orden seinen Zweck noch am besten erfüllt, oder doch wenigstens einige Frucht gebracht, und zwar nicht durch seine poetischen Leistungen, sondern dadurch, daß vorschriftsmäßig vorzüglich nur der Adel darin aufgenommen wurde, welcher damals noch die höhere Bildung repräsentierte und beherrschte und daher allerdings am geeignetsten war, die deutsche Sprache und Poesie wieder in Ansehen zu bringen. Denn während seiner sechzigjährigen Dauer zählte der Orden auf einen König, drei Kurfürsten, neunundvierzig http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0643.pngHerzöge, vier Markgrafen, zehn Landgrafen, neunzehn Fürsten, sechzig Grafen, fünfunddreißig Freiherren und sechshundert Adlige kaum hundert Bürgerliche. Doch beschränkte sich die Tätigkeit dieser Herren fast nur auf Übersetzungen, und von ihren eigenen Früchten gibt es wenigstens einen schlechten Beischmack, wenn das fleißigste und gefeiertste Mitglied: Dietrich von dem Werder (der Vielgekrönte) vorzüglich mit seinem »Sieg und Krieg Christi« allgemeine Verwunderung erregte, weil er darin durch hundert Sonette in jedem einzelnen Verse die beiden Worte Sieg und Krieg angebracht.

Wie weitgreifend indes der Impuls dieser Gesellschaft gewesen, zeigt schon der Eifer, womit sehr bald mehrere ähnliche Orden dem aristokratischen Beispiele folgten. So entstand in Straßburg eine aufrichtige Tannengesellschaft, ein Schwanenorden in Holstein durch den Dichter Rist und die deutschgesinnte Genossenschaft in Niedersachsen durch Philipp von Zesen, der so deutschgesinnt war, daß er mit zelotischem Purismus die Natur zur »Zeugemutter«, das Theater zur »Schauburg«, den Vers zum »Dichtlinge«, die Venus zur »Lustinne« oder »Schauminne«, Pallas zur »Kluginne«, das Fenster zum »Tageleuchter«, den Affekt zur »Gemütstrift«, ja sogar die Nase zum »Löschhorn« machte.

Die meiste Ähnlichkeit aber mit den Meistersängern, mit ihrer Formseligkeit, ihrem Bibelpedantismus und der durchaus protestantischen Färbung, hatte der 1644 von Klaj und Harsdörffer gleichfalls in Nürnberg gegründete Blumenorden der Pegnitzschäfer. Auch hier haben wir wieder die alte Kinderei des Nürnberger Spielzeuges, eine ganze Tabulatur von Springreimen, Echos, Bilderreimen, Rückreimläufer, Reimfolgerungen, Menglingsreden, Letterhäufungen und onomatopoetischen Gedichten, die den Gesang der Vögel sowie die Laute der Tiere nachahmen und zeigen sollen, daß selbst die Tiere und Elemente deutsch reden; und Harsdörffer schreibt eine Poetik: den »poetischen Trichter«, um den lernbegierigen Zeitgenossen in sechs Stunden diese deutsche Dicht-und Reimkunst beizubringen. Auch hier hielt man sich, gleich den Meistersängern, an die Bibel, suchte aber dabei, wie in der Religion das Urchristentum, einen angeblichen Urzustand der Gesellschaft herzustellen und die ganze Bibel in eine Schäferei umzuwandeln. Denn die goldgüldene Zeit war: als Adam und Eva alles Vieh der Erde geweidet, die Erzväter waren Hirten, die im kühlen Schatten der Bäume den »wolkenfliegenden Luftpsaltern und Schnabelharfen« den Gesang ablauschten, und David, da er zugleich Schäfer und Poet und gekrönt war, wurde zu ihrem Gesellschafter aufgenommen. Die Gemütlichkeit dieser goldgüldenen Zeit mußte natürlich auch eine Menge poetischer Frauenzimmer in ihren Kreis ziehen, und so gehen denn diese Pegnitzschäfer vergnüglich »durch von der Vögel hellzwitschernden und zitschernden Stimmlein erhallende Wiesen, bei hellquellenden Springbrunnen hin, die durch das spielende Überspielen ihres glattschlüpferigen Lagers lieblich platscherten und klatscherten«. Wie aber diesen Springbrunnen, Vögeln und Lustwandelnden nicht der Atem vergangen, ist schwer zu begreifen, wenn man bedenkt, daß z.B. Birken zum Lobe des Hauses Österreich eine Schäferei von vierhundert Seiten verfaßt, und in seiner »Guelfis« die Ehre des Hauses Braunschweig-Lüneburg nebst der Dannenbergischen Heldenbrut etc. in ein Schäfergedicht verarbeitet hat.

Alle diese Gesellschaften aber hatten, ganz abgesehen von ihren Abgeschmacktheiten, vorzüglich dreierlei eigentümliche Nachteile in ihrem Gefolge. Erstens hatten sie das natürliche Verhältnis von Poesie und Sprache völlig umgekehrt, indem sie die erste lediglich zur Dienerin der letzteren machten. Sodann wurden sie durch die Schonung und Lobhudelei der einzelnen Mitglieder untereinander eine offenbare Schule der Mittelmäßigkeit und brachten endlich das gemeine Sklaventum der Adelsprotektion in die freie Dichtkunst, so daß es das ausdrücklich ausgesprochene Ideal dieser Poeten war, »großer Herren Gunst zu erreichen«.

Und dies führt uns am natürlichsten auf die damalige Hofpoesie, welche jenes Ideal in der Tat glücklich erreicht hat. Das Charakteristische dieser Hofpoeten ist das Hündische, womit sie nach unten bellen und nach oben wedeln. Denn während sie auf die plebejische Schulmeisterpoesie, vor der sie doch nichts als die stärkere Anmaßung voraushaben, voll Verachtung herabblicken, richten sie die ihrige, wie sie selbst sich ausdrücklich rühmen, lediglich zum Dienste hoher Gönner ab, »um deren Verdienste gegen den Neid zu verteidigen und deren Fehler zu beschönigen«. Das Kunststück besteht einfach darin, daß sie die Alltäglichkeiten und verschwenderischen Spielereien der hohen Gönner, ihre Hochzeiten, Hoffeste, Jagden oder militärische Paraden ohne weiteres sehr ernsthaft für Heldentaten ausgeben und ihre fürstlichen Lobgedichte, damals ganz passend »fürstliche Wirtschaftsgedichte« genannt, feierlichst in heroische Gedichte umstempeln. Das sehr unlöbliche Handwerk dieser vornehmen Bettelmuse wird vorzüglich durch drei Koryphäen repräsentiert. Johann von Besser aus Kurland (1654–1729), der als der einzige heroische Dichter Deutschlands bewundert wurde, eroberte durch seinen Heroismus erst in Berlin, dann in Dresden ein ganzes Füllhorn von Gunstbezeugungen, Beförderungen und Dukaten und zuletzt noch, nebst dem Adelsstande, sehr bezeichnend die Stelle eines Zeremonienrates. Sein Nachfolger, der Dresdner Hof- und Zeremonienrat Ulrich von König (1688–1744), den wir bei seinem »August im Lager« schon kennen, setzte das rentable Geschäft fort; und ebenso dichtete sich Karl Gustav Heräus in Wien zu gleichen Ehren und Würden herauf und führte, um die Sache noch feierlicher zu machen, dabei den heroischen Hexameter ein. – Diese ganze Poesie ist eben nichts als Zeremonie. Goethe sagt irgendwo: um mit Erfolg vornehm zu tun, müsse man wirklich vornehm sein; das war aber die feile Gesinnung dieser Poeten keineswegs. Und so waren sie denn überall bloß eine neue Art von Hofnarren und von diesen nur durch gänzlichen Mangel an Witz, durch ihre Perücke und ihren Servilismus unterschieden.

Das Volk selbst wurde von all dieser Poeterei entweder gar nicht berührt, oder wo es zufällig geschah, nur aufs äußerste gelangweilt und nahm sich daher die Freiheit, es besser zu machen und auf seine eigene Weise fortzusingen. Das Volkslied hat allerdings den Grundcharakter aller Lyrik überhaupt; es stellt nicht die Tatsachen, sondern den Eindruck dar, den die vorausgesetzte oder kurz bezeichnete Tatsache auf den Sänger gemacht. Von der Kunstlyrik aber unterscheidet es sich durch das Unmittelbare und scheinbar Unzusammenhängende, womit es die empfangene Empfindung weder erklärt noch betrachtet oder schildernd ausschmückt, sondern sprunghaft und blitzartig, wie sie es erhalten, wiedergibt, und gleichsam im Fluge plötzlich und ohne Übergang, wo man es am wenigsten gedacht, die wunderbarsten Aussichten eröffnet. Das Volkslied mit dieser hieroglyphischen Bildersprache ist daher durchaus musikalisch, rhapsodisch und geheimnisvoll wie die Musik, es lebt nur im Gesange, ja viele dieser Volksliedertexte sind gradezu erst aus und nach dem Klange irgendeiner älteren Melodie entstanden. Hier gibt es keine einzelnen berühmten Dichter; die einmal angeschlagene Empfindung, weil sie wahr und natürlich und allgemeinverständlich ist, tönt durch mehrere Generationen fort; jeder Berufene und Angeregte bildet, moduliert und ändert daran, verkürzt oder ergänzt, wie es Lust und Leid in glücklicher Stunde ihm eingibt. So ist das Volkslied, in seiner unausgesetzt lebendigen Fortentwickelung, recht eigentlich das poetische Signalement der Völkerindividuen. Gleichwie aber Kraft und Ausdruck der Empfindung nicht bei allen Individuen überhaupt derselbe sein kann, so erhält auch das Volkslied bei den verschiedenen Volksstämmen, je nach ihrer klimatischen und geistigen Struktur, seine besondere Physiognomie und Eigentümlichkeit. Wir sind nun zwar keineswegs der Meinung, daß der Volksgesang jemals den ganzen Umfang und Reichtum der Dichtkunst zu umfassen und zu erschöpfen vermöchte; jedenfalls aber ist er der Grundstock aller nationalen Poesie, die in der Naturwahrheit des Volksliedes ihre Wurzel hat. Selbst in ihrer vollendetsten Kunstform, im Drama, klingt bei Calderon die Volksromanze, bei Shakespeare das Volkslied Altenglands fühlbar hindurch.

Die bedeutendste Anzahl der deutschen Volkslieder fällt in das 15. und 16. Jahrhundert, wo die Anfänge der Reformation und die Türkenkriege eine ungewöhnliche Bewegung und somit auch eine erhöhte poetische Stimmung anregten. Ihren Hauptinhalt bilden Natur und Liebe. Ihre Liebe, ohne alle sentimentale Bleichsucht, ist kerngesund, oft derb oder koboldartig neckend, noch öfter fromm und immer treu. Goethe, dessen eigene Jugendlieder durchaus volkstümlich sind, trifft es am besten, wenn er sagt: »Hangen und Bangen in schwebender Pein – himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, glücklich allein ist die Seele, die liebt!« – Im Naturliede, zu dem wir die zahllosen Jagd-, Hirten-, Räuber- und Wanderlieder rechnen, überrascht uns häufig, wie bei der Kindheit, ein innig vertrauliches Verständnis der äußeren Natur und ihrer Symbolik und der tiefe Blick in die geheimnisvolle Geisterwelt der Tiere. Die Wälder rauschen wunderbar herein, die Quellen weinen mit, wenn der wandernde Handwerksbursch vom Liebchen scheidet, die Wolken bestellen Grüße aus der Fremde in die Heimat, die Nachtigall singt das Unaussprechliche, und das Reh in seiner Einsamkeit hebt die klugen Augen und  http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0647.pnglauscht der nächtlichen Klage; alles märchenhaft wie in Träumen. – Die Kriegslieder dagegen, meist »von einem, der dabei gewesen«, schildern nicht die Großtaten einzelner Helden, sondern den frischen Waffenklang der Schlacht und dessen Widerhall im Volke, wie die Schweizerlieder auf die Sempacher und Murtenschlacht; oder sie tönen, gleich Trompetenstößen, die wilde Lust am Soldatenhandwerk aus, wie die zahlreichen Landsknechtslieder. – Ihre Zechlieder endlich, die Weingrüße und Weinsegen, sind weit entfernt sowohl von der forcierten Lustigkeit der modernen Trinklieder als von der feierlichen Ressourcenseligkeit, die das Trinken pedantisch wie ein hochwichtiges Geschäft betreibt. Sie haben vielmehr fast alle etwas »Schwartenhalsiges« und »Schwarakisches«, das mitten im tollsten Jubel keck und ironisch über sich selber lacht; wie z.B. »der liebste Buhle, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller, der hat ein hölzin Röcklein an und heißt der Muskateller«, oder: »Behüt dich Gott vor St. Urbans Plag (Podagra), und beschirm mich auch vor dem Strauchen, wenn ich die Stiege hinab muß tauchen, daß ich auf meinen Füßen bleib und fröhlich heimgeh zu meinem Weib und alles das wisse, was sie mich frag. Nun behüt mich Gott vor Niederlag.«

Auch auf dieses reiche Besitztum der Nation kat die protestantische Literarhistorie für ihre Partei ihre breite Hand gelegt, indem sie die Sache so darzustellen sucht, als sei das deutsche Volkslied eigentlich erst durch die Reformation und durch die Ausrottung des »entstellten papistischen Christentums« entstanden oder wenigstens in den rechten Flor gebracht worden. Gewiß hat der erste Beginn der Reformation, wir haben es oben selbst gesagt, eine bedeutende geistige Revolution und diese Revolution eine unverhältnismäßige Menge von Liedern angeregt, gleich wie die Kanarienvögel um desto eifriger singen, je größer der Lärm um sie her ist. So viel sollte indes doch billigerweise jeder Unbefangene wissen, daß grade die älteren Volkslieder, wo also noch die Klänge und Erinnerungen aus der katholischen Vorzeit herüberreichen, die reinsten, harmlosesten, keuschesten und kräftigsten, mit einem Wort: die besten sind, und daß namentlich die Liebeslieder des 15. Jahrhunderts noch häufig an das Minnelied erinnern. Wie aber hat nun die Reformation in ihrem wachsenden Fortgange darauf eingewirkt? Das Volkslied, als unmittelbarer Naturlaut, geht notwendig überall vom Idealen auf das wirkliche Leben, es ist wesentlich plastisch. Die Zeit aber, wie sie durch die fortschreitende Reformation charakterisiert wurde, war vom lebendigen Glauben und von sinnlicher Anschauung gleichmäßig abgewendet und auf theologisch-politische Grübelei oder bloße Moral gewiesen, die durchaus nicht plastisch ist und sich daher nirgend zum Liede eignet. – Das Volkslied bedarf ferner einer allgemeinen Teilnahme der Nation, um durchs ganze Land belebend von Mund zu Mund zu gehn und so durch die Generationen gleichsam immer neu sich selber fortzudichten, wie die englischen Balladen von den Bürgerkriegen und die Romanzen von den Glaubenskämpfen in Spanien. In Deutschland dagegen hatte die Reformation die große Vergangenheit in Verruf getan, sie hatte dem Gottesdienste den Marienkultus, die Heldengestalten der Heiligen, den äußeren Schmuck, kurz: alles poetisch Darstellbare genommen, sie hatte endlich das Volk in zweierlei Nationen zerklüftet, die auf einmal einander fremd, ja feindselig gegenüberstanden. Welche schönen Romanzenstoffe z.B. bot dazumal der Türkenkrieg! Er ließ das fortgrübelnde protestantische Deutschland völlig kalt. Vergebens rüttelte Soliman furchtbar mahnend an den Toren des Reichs und drohte den ganzen Westen in Barbarei zu begraben, vergebens suchte Karl V. Hülfe in dieser entsetzlichen Gefahr; der Reichstag hatte anderes zu tun und formulierte Sittenzensuren gegen Kleider-, Trink- und Spielnarren, als hätte es niemals eine höhere Moral und Sittlichkeit gegeben; man wollte lieber türkisch als katholisch sein. Soll dies die gerühmte damalige Einkehr zur Innerlichkeit sein, so war es wenigstens eine erbärmliche Umkehr von Lieb und Eintracht zu eitel Haß und Eifersucht und Mißgunst.

Wir sagten vorhin, das Volkslied lebe wesentlich in der Gegenwart; wie aber möchte eine Gegenwart, der jene höhere Sittlichkeit und die Nationaltugenden, die allein des Singens wert, abhanden gekommen waren, dem Volksliede ferner herzhaften Klang und Atem geben? Und so verwandelte das letztere, namentlich in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhunderts seine jugendlichlichfrische Physiognomie immer mehr ins Grobe, Platte, Greuliche und Gemeine. Die schönen Hirten-, Wander- und Jägerlieder, die fühlbar nur ein Widerhall des Waldhorns waren, kehren nun altersmüde von den grünen Bergen in die schmutzigen Handwerksstuben und Zechen ein. »Jede Zunft«, sagt Gräter im Bragur, »hat ihr eigenes Ruhm- und Preislied. Man findet der Weißgerber Ruhmlied, der Rotgerber Preislied, das Loblied der Schmiede, der Barbiere und Bader, der Hafner Loblied, der Bäcker Ehrenlied, der Metzger, Weber, Küfner, Wagner und Schneider Ruhmlied, ja sogar die Bauern haben ein solches Ehrenlied ihres Standes. Jedes dieser Lieder fängt mit einer Art von Aufruf an, geht dann in das Lob, die Geschäfte und die widerfahrenen Ehren des Standes über und schließt mit einem allgemeinen Segen für die Zunft oder den Stand, worin die Wohlfahrt in diesem Leben, Gesundheit alle Stund, jedem die schönste Frau auf der Welt, die tausend Gulden hat usw., angewünscht wird.« Hiernach wurde denn auch sehr bald das freie Singen ein Handwerk »professionierter Dichter und Komponisten«, die das Volkslied machen wollten. Es wiederholt sich hier im kleinen der jetzige Gang der deutschen Lyrik überhaupt: wie unter den Gebildeten in die hohe Gelehrtenschule, so wird sie hier in die Trivialschule des Verstandes genommen. Die Phantasie wird vom Verstande korrigiert, das unmittelbare Gefühl redselig eingeleitet und erklärt; anstatt der alten Berggeister, Kobolde und Nixen kommt die wunderlich entstellte lateinische Mythologie, statt des überraschend kühnen und sicheren Wurfs die Allegorie, das Halbwissen und die lehrhafte Altklugheit. Bei dem allmählichen Aufsteigen der neuen Sonne der Aufklärung schwand der wunderbare Morgenduft, die Vögel ließen ihr Singen, die Quellen und Wälder ihr Rauschen, und das Volk schwieg wie blödsinnig vom Sonnenstich. So war in der brütenden Mittagsschwüle das deutsche Volkslied fast überall verhallt, so daß es erst durch Herder in seinen Völkerstimmen von neuem entdeckt und von Görres, Arnim und Brentano wieder national gemacht werden mußte. Nur in den von der Reformation unberührten Landschaften: in Kärnten, Vorarlberg, in Tirol und im deutschen Kuhländchen Mährens hat es sich noch bis heut lebendig erhalten.

Da es nun der Reformation mit dem Volksliede nicht gelingen wollte und konnte, das vielmehr unaufhaltsam immer roher und obszöner wurde, da ferner die Reformation beständig vom Leben auf das Buch, die Bibel, hinwies und zu deren Interpretation der Philologie bedurfte, so trat die letztere jetzt als eine Weltmacht in die Literatur. Es begannen die humanistischen Studien des Altertums, die lateinische Sprache [⇐650][651⇒] wurde die Sprache der Poesie. Dazu kamen die Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges, der, als ein eigentlicher Bürgerkrieg, den bloßen Haß zum Feldherrn eingesetzt, mit den Sitten die Sprache verwildert und allmählich die katholische und protestantische Literatur voneinander isoliert hatte; zum großen Nachteile beider. Denn während die katholische Literatur in dem allgemeinen Getümmel sich scheu verbarrikadierte und abschloß, den Protestanten draußen fast gänzlich das Feld überlassend, gingen diese, im Rausch der neuen Ungebundenheit, mit ihren Siebenmeilenstiefeln weit über das vernünftige Ziel hinaus.

Allerdings waren diesmal, was ihnen selten begegnet, die Gelehrten vollkommen in ihrem Recht und Berufe. So konnte es unmöglich bleiben. Der in Unfläterei und Welschtum toll gewordenen Sprache mußte vor allem andern nur erst die Zwangsjacke angelegt werden, wozu der gediegene Panzer der lateinischen Grammatik und Prosodie ohne Zweifel gar wohl geeignet war. Aber die Einführung des Altklassischen ging schulmäßig und schwerfällig vonstatten, während in den Nachbarländern, in Italien, Frankreich und in den Niederlanden schon die emanzipierte Vulgarsprache blühte. Nach deren Beispiele und in dem ganz richtigen Gefühl, daß eine Poesie in toter Sprache totgeboren sei, trat daher nun auch in Deutschland zunächst der Palmenorden nebst seinen Tochtergesellschaften jener lateinischen Pegasusreiterei entgegen; jedoch, wie wir oben gesehen, fast ohne allen Erfolg. Bei weitem wirksamer dagegen zeigte sich, wie immer in solchen Fällen, ein freier Verein einzelner, nur durch gemeinsamen Geist verbundener Männer, den man, von seinem ursprünglichen Vaterlande, die erste schlesische Schule benannt hat, obgleich dieselbe erobernd sich über mehrere benachbarte Provinzen erstreckte.

Die Wirksamkeit dieser Schule war wesentlich eine vorbereitende, ohne selbständigen Inhalt, und daher bloß formell. Der wüste Garten der Poesie sollte zunächst nur von dem überwuchernden Unkraut gereinigt, und da es an einheimischen Blüten fehlte und überdies manche wilde Blume mit dem Unkraut zugleich weggeworfen wurde, einstweilen mit fremden Zierpflanzen bestellt werden. Zu dieser Ordnungsmacherei bedurfte es eines selbstgeordneten Geistes, den kein übermächtiger Trieb verlockte, neue weitaussehende Wege einzuschlagen, für welche die Zeit doch keineswegs schon reisefertig war; es gehörte dazu ein gelehrter Mann mit großer, nach allen Seiten hin [⇐651][652⇒] flexibler Empfänglichkeit und wenig eigener Schöpfungskraft, sorgsam und mittelmäßig genug, um überall vermittelnd aufzutreten und die Mittelmäßigen an seine Fersen zu bannen. Und ein solcher Mann war Martin Opitz, der berühmte Gründer und Führer dieser Schule.

Opitz war ganz und gar ein protestantischer Dichter. Seine außerordentlichen Erfolge verdankt er eben dem zeitgemäßen Unternehmen, die beiden Grundelemente der Reformation, Verstand und Moral, gegen die Phantasie auf die Dichtkunst anzuwenden und sich hierzu der humanistischen Studien zu bedienen, für welche grade der Boden seines speziellen Vaterlandes durch Melanchthons Schüler, Trotzendorf, vorzüglich vorbereitet war, so daß damals mit Recht gerühmt wurde, daß kein deutscher Stamm so viele Gelehrten habe als die Schlesier, und nirgend so viele aus dem Volke die Wissenschaften lernten und verständen. Wer, sagt Opitz selbst:

»nicht scharf und geistig ist, nicht auf die Alten zielt,nicht ihre Schriften kennt, der Griechen und Lateiner,als seine Finger selbst, und schaut daß ihm kaum einervon ihnen außen bleibt, wer die gemeine Bahnnicht zu verlassen weiß, ist zwar ein guter Mann,doch nicht auch ein Poet.«

Wir müssen freilich grade umgekehrt behaupten, daß der gute Mann, und wenn er auch alle Griechen und Lateiner wie seine eigenen Finger kennte, darum doch noch kein Poet wäre. Auch jene Reformation der Poesie durch Verstand und Moral nützt nichts; der Verstand kann ordnen, aber nicht dichten, und die bloße Moral ist kein poetischer Stoff. Es bleibt sonach von aller Poesie nichts als die Form. Und diese war denn auch das Steuer, das Opitz ergriff, um die Poesie aus ihrem bisherigen seichten Fahrwasser wieder auf die hohe See hinauszulenken. Sein von Natur sauberes und delikates Talent führte ihn auf die »Reinlichkeit der Verse und Reime«; er machte zuerst die neue Prosodie: das Gesetz, aus dem Akzent das Maß der Silben zu erkennen, allgemein und für alle Folgezeiten geltend. Ja er gängelte und schulte förmlich die ungeschickte deutsche Sprache an den Mustern der Alten und des modernen Auslandes, indem er Sophokles' Antigone, Senecas Trojanerinnen und mehrere holländische, französische und italienische Dichtungen mit einer für jene Zeit bewundernswerten Meisterschaft übersetzte.

Sein eigentlicher und erfolgreichster Beruf aber war der eines geistigen Vermittlers. Wenn er von den Dichtern verlangte, im Deutschen zu Verfahren »wie die Lateiner mit den Griechen, und die neuen Skribenten (des Auslandes) mit den Alten«, so nötigte er da durch die lateinischen Skribenten Deutschlands, künftig das Altklassische, wie die Holländer, Italiener etc., in ihrer Muttersprache nachzubilden und also eine geistige Durchdringung beider anzubahnen. Indem er ferner die lehrhafte Moral als einen Hauptbestandteil in die Poesie einführte, gelang es ihm, die letztere mit der eifersüchtigen und unduldsamen Theologie sowie mit den praktischen Prosaköpfen zu Versöhnen. Noch wirksamer endlich zeigte sich hier, fast wie bei Goethe, eine gewisse Vornehmigkeit seines ganzen Wesens. Denn er verfertigte zwar ebenfalls eine Unzahl von Gelegenheitsgedichten, aber er verkaufte sie nie, wie die Dichterlinge seiner Zeit, sondern legte vielmehr, wie wir sogleich sehen werden, mit seiner Poesie nach grandioserem Maßstabe einen Großhandel an. Und hiermit stimmt auch vollkommen seine allerdings würdige und höhere Auffassung der Dichtkunst überhaupt, wonach der Dichter mit unverzagtem Gemüt uns das Große und Starke singen soll:

»Poeten sollen mir Bericht von Weisheit geben,
und sagen, wie ich doch in diesem armen Leben
die bösen Lüste fliehn, das Kreuze tragen soll –
O weg mit solcher Kunst, weg, weg mit solchen Sachen,
so die Gemüter nur verzagt und weibisch machen,
die leichtlich, wie man will, durch der Gedichte Schein
und äußerlichen Glanz, zu überreden sein.«

Und so vermittelte er in der Tat durch seinen persönlichen Vorgang den ganz verachteten Dichtern eine neue und würdigere Stellung zur allgemeinen Meinung, die damals eben nur ihre feilen Bettelpoeten kannte.

Diesem nach allen Seiten umblickenden und biegsamen Vermittlertalente entspricht denn auch der moralische Charakter des Dichters, dessen diplomatische Wendungen wir leider nicht, wie wir gern möchten, seinen konziliatorischen Absichten allein zuschreiben können. So läßt er sein schönes, aber stark protestantisch gefärbtes »Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges« über ein Dezennium ungedruckt, um bei Kaiser Ferdinand II. vorher die Lorbeerkrone und den Adelstand zu http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0653.pngerwerben. Während er, um nach Wien empfohlen zu werden, für den Grafen von Dohna das zur Katholisierung der Schlesier geschriebene »manuale des Jesuiten Martin Becarus« anonym ins Deutsche überträgt, übersetzt er zugleich für den katholikenfressenden Rat zu Breslau des Hugo Grotius Gedicht »von der Wahrheit der christlichen Religion«; und wendet sich unermüdlich an alle Großen der entgegengesetztesten Parteien, an den Pfalzgrafen Friedrich V. und an Kaiser Ferdinand II., an den Grafen Dohna und an Oxenstierna, an den König von Polen und die Bürgermeister von Danzig, Thorn und Elbing mit überall gleichtönenden Lobgedichten, Dedikationen usw.

Kein Wunder daher, daß auch seine Poesien selbst eigentlich nur ein diplomatisches Werk sind: künstlich, tendenziös, konventionell und geziert. Er dichtete mit dem bloßen Verstande; daher war alles Form und Nachahmung, daher der Bruch mit der Musik, dieser Seele der Lyrik. Am empfindlichsten rächte sich dies natürlicherweise an den beiden lyrischen Polen: in seinem geistlichen und in seinem Liebesliede. In seinen Kirchenliedern, wenn man sie so nennen will, quält sich der Verstand trostlos ab, aus lauter Antithesen, Witz, heidnischer Mythologie und Reinlichkeit der Verse eine fingierte Andacht aufzubauen, die »bei kalter Gottesfurcht sich brennend anstellt«; und es wäre geradezu komisch, sie singen zu wollen. Seine Liebe aber, z.B. in der Schäferei Daphne, ist eben nur ein marmorner Cupido, der aus künstlich verschnittenen Hecken nach gelehrten Herzen zielt und niemals trifft. Er empfand nicht, wenn er sang, und verachtete daher selber, was er sang. Und so zeigt sich bei ihm schon deutlich der Keim jener falschen, selbstmörderischen Theorie, die, um sich vor der gebildeten Welt nicht bloßzustellen, immer das scheinbar ernstlich Gemeinte vornehm wieder desavouiert und endlich bei uns alle Innigkeit und Wahrheit aufzuzehren droht. Hierdurch aber sowie durch seine angebahnte Poetisierung der humanistischen Studien und die übersetzungsfertige Universalität, womit er alles Ausländische zu nationalisieren strebte, ist Opitz in der Tat, zwar nicht der Vater, aber der wichtigste Geburtshelfer der neuen deutschen Dichtkunst geworden.

Was Opitz anstrebte, hat sein Freund, der Wittenberger Professor Buchner, in seinem Wegweiser zur deutschen Dichtkunst (1661) in ein förmliches System gebracht. Der Inhalt dieses poetischen Kanons läßt sich, trotz aller seiner Weitschweifigkeit, einfach in der Souveränetätserklärung des Verstandes zusammenfassen: die Dichter sollen Philosophen sein und ergötzend belehren. Es ist daher nicht gar so erstaunlich, daß er allen Ernstes einen gewissen Kistenmacher über den Homer setzt. Wohin aber dieser Wegweiser führen mußte, zeigt außer dem nüchternen Tscherning und einer zahllosen Menge anderer Opitzianer, deren nähere Bekanntschaft ebenso unnütz wäre als sie selbst, besonders der übermäßig fruchtbare Pastor Johann Rist (1607–67) zu Wedel an der Elbe, welchem nur als ein guter Dichter gilt, wer »auf eine vorgenommene Materie die poetischen figmenta der Alten fein mythologice zu akkommodieren und nach Art derselben, auch der jetzt lebenden rechtschaffenen Poeten, in einer kontinuierenden Allegorie zu schreiben, die Gemüter der Menschen mit zierlichen exclamationen, artlichen prosopopoeien u. dergl. rhetorischen Figuren zu bewegen weiß«. Auch das bezeichnende Vornehmtun gegen die Liebe teilt dieser zu seiner Zeit hochgefeierte Vielschreiber, wenngleich nicht in so feiner Art, mit seinem Meister Opitz. Er schrieb einen Haufen herzloser Liebeslieder, um sie dann, »als sein Verstand kam«, ebenso herzlos zu desavouieren; er stellte die »vermaledeite Fastnachtfeier« ab und enthielt sich der daktylischen und anapästischen Maße, da die andächtige Seele sich nicht mit Hüpfen und Springen, sondern mit Sehnen und Seufzen nach dem himmlischen Jerusalem wenden solle. – Man sieht, die deutsche Lyrik wurde nun teils von einer engbrüstigen theologischen Moral, teils von einer stupiden Gelehrsamkeit, also von einem doppelten Purismus gedrückt, der sie von aller Poesie purifizierte.

Wie aber ein rechter und gesunder Sinn von solchem Unsinn zwar gehindert und beirrt, aber nicht gebrochen werden kann, sehen wir an den beiden einzigen wirklichen Dichtern dieser Schule, an Fleming und Gryphius. Der Sachse Paul Fleming (1609–1640), der durch seine Reise nach Persien seinen Gesichtskreis weit über die Studierstube hinaus erweitert hatte, kehrt aus der gelehrten Fiktion fröhlich zu Natur und Leben zurück, das prätiose Vornehmtun gegen die Poesie verwandelt sich bei ihm in elegische Wehmut über die Unzulänglichkeit des Worts, das auszutönen, was er fühlt; die Liebe, da sie wahr und rein und daher ihrer selbst sich nicht zu schämen braucht, ist innig und oft wahrhaft hinreißend. Er »setzt in vollem Bügel auf das schöne Wesen ein, von dem ihm Daphnes edle Zweige dreimal um sein braunes Haar geschossen«, und erkennt in seiner Poesie den Teil in sich, »der ewig bleibe und frisch, wenn das andere mit dem Besen zusammengekehrt werde«. Fleming hat zuerst das von Opitz künstlich und mühsam gestimmte Instrument wirklich tönend gemacht und schied singend wie ein sterbender Schwan mit seinem schönen Todeslied vom Leben.

Diesem durchaus liebenswürdigen Weltkinde steht der finstere Ernst des Schlesiers Andreas Gryphius († 1664) ergänzend gegenüber. In seinen Oden und den berühmten »Kirchhofsgedanken« hat die geächtete Phantasie plötzlich alle Gelehrsamkeit, Schäferei und fade Zierat vonon sich geworfen und steht fast gespenstisch in der steifleinenen Zeit. Seine ganze Lyrik zieht wie ein Gewitter über die lachenden Gefilde Flemings hinweg; die schöne Erde ist in bleifarbenes Dunkel versenkt und der Himmel darüber drohend und schreckhaft in greller Beleuchtung. Es ist ein religiöses Gemüt, dem die neue Lehre allen milden Trost und Segen der Kirche genommen und das daher nun zürnend an den Fesseln dieses Erdenlebens rüttelt, aus dem es sich ungestüm heraussehnt. Wir haben schon oben beim Drama dieses einsamen Dichters und namentlich seiner bedeutenden Lustspiele gedacht, die hiernach freilich mehr wie ein Werk der tiefen Weltverachtung als der Heiterkeit erscheinen. Und so bewährt sich an ihm wieder die alte Erfahrung, daß in solchen heftigen melancholischen Gemütern Groll und Spott, Zorn und Lachen, Licht und Schatten dicht nebeneinander liegen.

Dieser Charakter führt uns von selbst zu einer zahmeren und abgeblaßten Spielart jener Weltverachtung: zu dem Königsberger Dichtervereine. Simon Dach (1605–1659) ist hier als der eigentliche Mittelpunkt und fast alleinige Repräsentant zu betrachten. Denn Heinrich Albert, Robert Robertin, G. Mylius, Faber und andere, gruppieren sich mehr nur als ein dilettantischer Freundeskreis um ihn her. Bei allen aber ist es mehr oder minder eine Poesie von Kirchhofgedanken, die an pietistischer Hypochondrie dahinsiecht. Sie sangen einander mit Grabesliedern an und glaubten die Zeit ihres Todes vorauszuwissen. Daß Dach wegen seines fast einzigen völlig herzensfreudigen Liedes vom »Annchen von Tharau«, das noch jetzt im Munde des Volkes fortlebt, von den Theologen verketzert und verleumdet wurde, finden wir ganz in der Ordnung oder vielmehr Unordnung der konfusen Ansichten. Verfänglicher aber und schwieriger war die Aufgabe, als er gegen dieselbe sterile Moral die Behauptung verfechten mußte, daß die Poesie überhaupt keine Lüge sei, was sie doch, wenn wir eben Fleming, Gryphius und Dach selbst ausnehmen, damals in der Tat geworden war.

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Wo aber die Naturwahrheit fehlt, verfällt die Poesie notwendig der Willkür, der grillenhaften Mode und einer fortlaufenden Reihe experimentierender Kunststücke, um die innere Lüge zu verdecken und zu beschönigen, gleich wie ja auch in der moralischen Welt eine Sünde die andere erzeugt. Und so war es denn auch der ersten schlesischen Schule ergangen. Ihre einzige Tugend zwar: die Reinlichkeit der Sprache ist geblieben und hat diese Schule nach mannigfachen bösen Rückfällen, Irrungen und Mühsalen glücklich überlebt. Aber ihre Gelehrsamkeit, da sie anfing, dumpfig zu werden, mußte durch immer höhere Schichten frischen Vorrats, ihr falscher Schmuck beständig durch neuen Brillantschliff ergänzt werden, und beides zusammen gab den weltberühmten Schwulst der zweiten schlesischen Schule. In das Restaurationsgeschäft hatten vorzüglich zwei Schlesier, Hofmannswaldau und Lohenstein sich geteilt. Hofmannswaldau, eigentlich nur Lyriker, übernahm es in seinen Madrigalen, Sonetten und Epigrammen, sowie in seinen »erotischen Heldenbriefen«, die alte Muse mit Pariser Schminkpflästerchen und dem Flitterstaat »verschärfter« Beiwörter lieblich herauszuputzen; während Lohenstein, den wir schon als Tragiker kennengelernt, unter Stöhnen, Flüchen und wütenden Exklamationen seinen sprichwörtlich gewordenen Bombast uns als Erhabenheit andonnern will, so daß schon Breitinger treffend von ihm sagte: »Der Dichter zankt bald in lauter Gleichnissen und Metaphern mit sich selbst, bald buhlt er um eine Schöne in Schwulst und Wahnwitz, bald erklärt er die Wunder der Natur in einem doktormäßigen Ernste, plötzlich gerät er in Verzückung außer sich und fliegt über die Wolken, und im Augenblick fällt er wieder so tief, daß er mit kindischen Sprichwörtern, mit spitzfindigen Spielen und schiefen Gleichnissen ohne Maß um sich wirft. Die höchste Hitze und der höchste Frost wechseln bei ihm ab, das Zeichen einer äußerst verderbten Schreibart wie der schwersten Krankheit im menschlichen Körper.«

Beide mußten indes, um die Sache einigermaßen pikant zu machen, noch ein drittes Ingredienz, das Opitz, Fleming und http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0657.pngGryphius noch nicht gekannt, zu Hülfe nehmen: das Obszöne in seiner unglaublichsten Roheit und Nacktheit. Das plötzliche Umsichgreifen dieser Pariser Hofpest, die überdies hier noch plump und karikiert erscheint, gibt uns einen schlimmen Begriff von der krankhaften Disposition der damaligen Bildung in den höheren Regionen der Gesellschaft, von denen beide Poeten fast abgöttisch verehrt wurden. Die große Lüge dieser Poesie überhaupt aber bezeugt der Umstand, daß Hofmannswaldau wie Lohenstein mitten in diesem Kloak von Unsittlichkeit ganz unangefochten einen sehr ehrbaren Lebenswandel führten und daß z.B. in der Hofmannswaldauschen Gedichtsammlung sich Schmutz und Geistliches dicht nebeneinander vertragen. Die Poesie war eben nur eine gelegentliche Spieluhr, die nach Belieben weggesetzt oder wieder aufgezogen wurde, um bald ein Zotenlied, bald ein Kirchenlied künstlich abzuflöten.

So konnte es natürlicherweise nicht dauernd bleiben. Schon die vier Schlesier, Johann von Assig, Hans Aßmann von Abschatz, Benjamin Neukirch und der jüngere (Christian) Gryphius, setzten einen merklichen Dämpfer auf die Lohensteinische Phrasenposaune, brachten es aber damit eben nicht weiter als zur bloßen Negation, zu einer fatalen nüchternen Art von juste milieu, das nun weder bombastisch noch poetisch war. Entschiedener dagegen machte, wie im Roman, so auch hier Weise wieder Reaktion, indem er sein »Naturelles« der Hofmannswaldau-Lohensteinschen Unnatur keck entgegenstemmte. Hier wie dort aber führte dieses Ungenierte sehr bald zur Plattheit und zu einem vagen Dilettantismus, der einer Flut von handwerksmäßigen Gelegenheitsdichterlingen, wie Wentzel, Neumeister, Postel, Hunold etc., unaufhaltsam alle Schleusen auftat. Darüber entstand nun zwischen diesen und den Altschlesiern ein heftiges Gezänk, das indes doch wenigstens die gelehrte Welt einigermaßen stutzig machte, und einen geistreichen Mann, Christian Wernicke, veranlaßte, in seinen Epigrammen (Poetische Versuche in Überschriften, 1697) beide Parteien unbarmherzig zu geißeln. Seine folgenden Verse geben noch immer die treffendste Überschrift jener ganzen Periode:

»Der Abschnitt? gut. Der Vers? fließt wohl. Der Reim? geschickt.Die Wort? in Ordnung. Nichts als der Verstand verrückt.«

Von jenen elenden Reimern sind, nebst Wernicke, nur noch Canitz und Günther auszunehmen. Friedrich Rudolf Ludwig Freiherr von Canitz (1654–1699) war ein nobler Charakter; dabei sprachenkundig, vielgereist, welterfahren, höfisch-gewandt, eleganter Dilettant in allem gelehrten Wissen, in Frankreich geschult und am Berliner Hofe wohlgelitten, kurz ein vollkommener Kavalier der damaligen Zeit. Als solcher konnte er weder den bausbäckigen Bombast Lohensteins noch die Unsauberkeiten Hofmannswaldaus und am wenigsten die Weisesche Ungeschliffenheit brauchen. Er hielt sich daher ans Ausland, an Boileaus Poetik, die er zuerst praktisch in Deutschland eingeführt. Er machte durch würdigere Haltung in Stil und Stoff die Poesie wieder courfähig, und auch für Damen lesbar, und galt lange für ein unübertreffbares Muster. Diese sprachliche und sittliche Reinheit ist aber auch sein einziges und höchstes Verdienst, und Gervinus bemerkt ganz richtig, daß selbst sein berühmtestes Gedicht auf den Tod seiner Doris, in welchem noch die Schweizer heftige und ungestüme Leidenschaften fanden, uns jetzt nur als ein trockenes Verstandeswerk mit gezirkelten und überlegten Reimen erscheine.

Ein entschiedenes und schroffes Gegenbild von Canitz ist der studentisch wilde Schlesier Christian Günther, ein verfrühter Vorläufer der späteren Kraftgenies. Sein kurzer Lebenslauf (1695–1723) war ein beständiger Kampf gegen das Philistertum jeglicher Farbe, in welchem er endlich verblutend erlag. Wie ein Renommist haut er in seinen Gedichten nach allen Seiten um sich, auf Hofschranzen, aufgeblasene Gelehrte, pedantische Pastoren und schlechte Poeten. »O lächerliche Zeit«, ruft er aus, »nimm zwei Peitschen in die Hand, sechs Schellen auf den Kopf und einen Fuchsschwanz, so zeigst du, was du bist: der andere Eulenspiegel.« Er hatte das Recht, diese Zeit also anzufahren, denn er war aufrichtig, empfand, was er sang, und hatte ein tiefes Gefühl für Freiheit und Recht. Aber seine Stimme verhallte, da sein eigenes Leben wüst und ungezügelt war; er blieb weit über die akademischen Jahre hinaus ein Wittenberger Student nach damaliger roher Weise bis zu seinem frühen Tode. Er hat darin Ähnlichkeit mit dem Romantiker Zacharias Werner, daß er, wie dieser, überall sich selbst, seine Sünde und Reue, oft mit erschütternder Wahrheit zum Gegenstande seiner Dichtungen macht. Es ist wahrhaft tragisch, wie dieser verlorene Sohn reumütig zu seinem Vater zurückkehrt und immer wiederkehrt, bei seinem ewigen Seelenheil nur um Versöhnung flehend. Aber sein Vater war nicht der Vater des Evangeliums, der Sohn »sollte den Bettel (die Poesie) liegenlassen und den Brotkorb anhängen«, das konnte dieser nicht, und so verstieß er ihn ungehört in seiner höchsten Not; da gab er verzweifelt sich selber auf und ging zugrunde. Günther ist ein abschreckendes Bild jener ratlosen Poesie, die ihren rechten religiösen Mittelpunkt verloren. Er erinnert daher allerdings häufig auch an unsere neuesten Genialitäten: er will die Welt reformieren, er will sich und die Frauen vom gemeinen Sittenzwang befreien. Aber er tut es nicht aus borniertem Hochmut, er erkennt noch überall den bösen Dämon in ihm selbst und ringt mit ihm; und dieser durchaus ehrliche, aber glaubenlose und mithin vergebliche Kampf macht seine Poesie, wenn nicht ästhetisch, doch psychologisch denkwürdig.

Es gibt einige Erscheinungen der Poesie, welche, wenngleich keine Erfindung der Reformation, doch in ihrer vorzugsweisen Aufnahme und künstlerischen Vollendung der Reformation eigentümlich sind. Dahin rechnen wir das Lehrgedicht und die Satire sowie die Sagen vom ewigen Juden und vom Faust.

Wir haben schon wiederholt das Übergewicht des Verstandes über die Phantasie als das allgemein Charakteristische der reformatorischen Bewegung hervorgehoben und daß die natürliche Tätigkeit des Verstandes nicht produktiv, sondern ordnend, mithin wesentlich erklärend und lehrhaft sei. Das Lehrhafte hat allerdings auch schon im Mittelalter sich häufig geltend gemacht. Im Grunde ist selbst Wolfram von Eschenbachs Parzival ein Lehrgedicht im höheren Sinne, indem es die geistige und religiöse Bedeutung des Rittertums darzustellen strebt, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß hier das religiöse Geheimnis von der Phantasie aufgefaßt und, wunderbar wie es ist, auch als ein Wunder gestaltet wird. Nachdem aber das Wunderbare der Religion in dem neuen Geschlecht immer mehr verblaßt und fast nur die moralische Seite derselben zurückgeblieben war, so entstand aus dieser vorherrschend verständigen Religionsansicht jetzt die modern didaktische Poesie.

Wir übergehen natürlicherweise gänzlich die schon oben berührte täppische Lehrhaftigkeit, welche die Poesie zu einer Trivialschule der sogenannten Realien zu machen beflissen war, wie z.B. Lohenstein in seinem Arminius und dessen redselig gelehrte Zeitgenossen zu allgemeinerer Belustigung der Nachwelt getan; wir meinen hier lediglich das moralische Eingehen auf Seelenzustände, auf Sitten, Mißbräuche und Gebrechen des geselligen Lebens. Es versteht sich jedoch von selbst, daß ein solcher Übergang vom Wunderbaren zum Praktischen, wie die Reformation selbst, nicht plötzlich eingetreten, sondern schon längst allmählich verbreitet war. Bereits aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts besitzen wir den hierhergehörigen welschen Gast des Thomasin von Zirclaere, und vom Jahre 1229 die vermutlich von Walther von der Vogelweide verfaßte Bescheidenheit des Freidank, eine Sammlung didaktischer Sprüche, welche damals die weltliche Bibel genannt wurde, sowie den Windsbeke und die Windsbekia, Unterweisungen eines Vaters an seinen Sohn und einer Mutter an ihre Tochter. Am schärfsten aber wird jener Übergang durch den 1300 verfaßten Renner des Hugo von Trimberg, eines bambergischen Schullehrers, bezeichnet. Hier fühlen wir in der moralischen Krank heit der Welt, welche belehrend geheilt werden soll, schon immer deutlicher alle Symptome der nahenden Reformation. Das Hauptthema dieses ziemlich willkürlich und verworren, wie ein durchgehender »Renner«, hin und her fahrenden Gedichts ist nämlich der »Fraß«, d.h. die Unersättlichkeit, Maßlosigkeit und Hoffart der Zeit. Jeder fühlt sich beengt und unzufrieden, jeder will über seinen Stand, Beruf, mit einem Wort: über sich selbst hinaus, weil mit dem weichenden religiösen Glauben die Demut und innere Genüge abhanden gekommen. Da gibt es keine Autorität mehr als den subjektiven Eigenwillen, das Kind ist schon altklug, der Schüler will den Lehrer, der Laie die Kirche meistern. Als Arkanum dagegen aber wird einzig und allein die Bibel, und zwar lediglich die praktische Moral derselben, verordnet, und dabei auf den allerdings mitverderbten Klerus schon weidlich geschimpft. Kein Wunder daher, daß dieser Renner während der Reformation der beliebteste Tummelgaul des Volkes wurde und noch lange nachher geblieben ist. Wie sehr indes bei dieser bloß praktischen Weltansicht die Poesie zu kurz kam, zeigt schon eine gelegentliche Äußerung Trimbergs selbst: »daß ja doch der Esel mehr nutze als die schön singende Nachtigall.« – Denselben Charakter hat eine Menge anderer didaktischer Dichtungen jener Zeit, als: das Buch der Tugend von Hans Vintler, die Gestirne, das Schachzabelbuch und die weisen Meister. Überall ist es vorzüglich der Hochmut der Zeit, welcher bekämpft wird, aber nicht mit den blanken Waffen der Religion, sondern durch menschliche Vernunft und eine gewisse moralische Lebensklugheit bekämpft wird.

Alle diese Schriften waren weit verbreitet und wurden vom Volke wahrhaft verschlungen. Fragen wir aber nun nach der eigentlichen Wirksamkeit dieser Volksschule, so gibt uns darauf der nicht allzu fern liegende Bauernkrieg, die sittliche Fäulnis und Zerfallenheit, die uns Hans v. Schweinichen in seinen Denkwürdigkeiten schildert, und endlich die Bestialität des Dreißigjährigen Krieges eine furchtbare Antwort. Und das konnte auch nicht anders sein; denn es ist nur ein bequemer und daher sehr beliebter Quietismus, von solcher verständig moralisierenden Richtung mehr Heil erwarten zu wollen als von den Schrecken der alten asketischen Ansicht der Kirche. Ohne Zweifel wurde durch jene Schriften die moralische Intelligenz im Volke gesteigert. Aber die Intelligenz für sich, und wo ihr nicht eine gleichstarke Willenskraft zur Seite steht, ist gar nichts wert, weil sie nirgend lebendig an die Tiefe des Gewissens reicht. Das tut allein die Gottesfurcht, die ohne Demut und Liebe, diesen rechten Werkmeisterinnen der Tugend, undenkbar ist.

Es ist natürlich, daß mit jener laxeren Betrachtungsweise allmählich an die Stelle des Gewissens die bloße moralische Scham treten mußte, eine Art geistiger Polizei, mit der man sich gelegentlich vor der Welt wohl abzufinden weiß; und ebenso natürlich, daß hiernach die Sünde nicht als absolutes Übel, sondern vielmehr nur als vor der Welt verächtlich und lächerlich dargestellt wurde, welches letztere aber, eben die eigentümliche Aufgabe der Satire ist. Nur bei bedeutenden Störungen der ursprünglichen harmonischen Bildung durch tiefgreifende Gegensätze des gesamten inneren Lebens wird die Satire und in höherer Potenz der Humor erzeugt. Denn wenn das Leben in seinen Fundamenten erschüttert, hier ein Pfeiler, dort eine Klammer willkürlich herausgerissen ist, da sinkt das ganze Gebäude nach, wird windschief und folglich lächerlich. Die Satire ist daher immer komisch, das Komische, sehr verschieden von harmloser Lust, immer auch satirisch, gleich wie ja auch schon bei den Alten die komische Maske eine Satire des menschlichen Angesichts war. Hiernach ist es aber sehr begreiflich, wie grade zur Zeit der Reformation die Satire zur höchsten Blüte und fast ausschließlichen Herrschaft gelangen mußte. Denn die Reformation hatte eigentlich das ganze Leben gegensätzlich gemacht und ein Chaos miteinander ringender Elemente entbunden: geistige Ansprüche, denen die menschlichen Kräfte nie und nirgend gewachsen sind, und übermütige Kräfte, die den rechten Mittelpunkt und mithin ihr Ziel verloren; höhere Intelligenz bei tiefster sittlicher Verwilderung und altnationale Erinnerungen mitten im verwüstenden Sturm der Neuerung. Alle diese schroffen und an sich unversöhnlichen Gegensätze hat die damalige Satire mit oft ergreifender Wahrheit treu und scharf erkannt und gezüchtiget, und sie hatte ein vollkommenes Recht daran. Anders dagegen verhält es sich mit ihren bis zum Überdruß und Ekel wiederholten Angriffen gegen die Kirche. Die heiligen Dome waren im Laufe der Jahrhunderte vom gemeinen Markt des Lebens mannigfach umbaut und verunziert; aber die Kirche war und blieb unerschüttert in ihren ewigen Pfeilern. Nur der Augenpunkt, die ganze Weise, sie anzusehen, war ein anderer und schief geworden. Diese Satiren schildern daher wider Wissen und Willen in der Tat nur ihre eigene Ohnmacht des Glaubens, nicht die Kirche, wie sie wirklich war und noch heute ist, sondern wie sie unter dem verschobenen Gesichtswinkel ihrer Zeit erscheint. Diese bittere Selbsttäuschung wird z.B. bei dem größten deutschen Satiriker jener Zeit, bei Fischart, auch in anderer Beziehung klar. Die alten Heldenlieder und nationalen Epen sind ohne Zweifel für alle Zeiten groß und schön; und dennoch, bei der gänzlich veränderten Weltansicht, findet sie Fischart nur lächerlich und spottwürdig. Ähnliches sehen wir in des unsterblichen Cervantes Don Quichotte, nur daß hier das scheidende Rittertum als der eigentliche und unverwüstlich poetische Hintergrund noch überall tragisch hindurchleuchtet.

Wir wollen versuchen, diese allgemeine Charakteristik nun an den hervorragendsten Repräsentanten mit wenigen Worten etwas spezieller auszuführen.

Bei Sebastian Brant (1458 – 1521) ist die Satire gleichsam noch nicht fertig, sie ringt hier noch mit ihren ursprünglichen und ungeschiedenen Grundelementen; das Didaktische ist vorwaltend und daher die Komik noch etwas trocken und knapp. Aber auch der Humor taucht bereits auf, wenn der Dichter, nachdem er in seinem berühmten »Narrenschiff« die Geiznarren, Putznarren, Ehrnarren und alten Narren etc. glücklich untergebracht und jedem seine Kappe zugeschnitten hat, sich selbst nun als Büchernarr an die Spitze der Schiffsgesellschaft stellt. Brant steht noch wesentlich auf dem alten asketischen Boden; ja er trifft recht eigentlich den Nagel auf den Kopf, wenn er von seiner Zeit sagt: »Jeder dünkt sich nur allein weise und allein gut, trachtet wohl bei andern zu löschen, da es bei ihm selber brennt, stößt sich, selbst ein Narr, an andern; strebt eigenrichtig immer nach etwas Besonderem und sucht alleinklug Wege, wo keine sind. Rat hören ist jetzt verschmäht, unbedacht stürzt sich jeder – und das ist aller Narren Gebrauch – nach dem Neuen und immer Neuen.« – Geiler von Kaisersberg trug daher auch kein Bedenken, das »Narrenschiff« als Text seiner berühmten Predigten aufzunehmen. Dabei ist aber dennoch Brant selber dem Neuen verfallen: er baut zur Vergebung der Sünden nicht mehr auf die Barmherzigkeit Gottes und die Fürbitte Marias, sondern setzt alles auf eine vernünftige Selbsterkenntnis, die sich allein selbst helfen soll, und weist zu diesem Zweck gelehrt von den Heiligen auf die Beispiele der alten Heiden, auf Penelope, Lucretia, Plato und Sokrates.

Bei weitem schärfer, rücksichtsloser, ja häufig roh und grausam, schneidet Brants Zeitgenosse, der Franziskanermönch Thomas Murner, in das wilde Fleisch seiner Zeit, deren echter Sohn er doch selber in seiner Maßlosigkeit, in seinem Trotz, hochmütigem Selbstgefühl und unstetem Wesen sein Leben lang geblieben ist. Aber man würde sehr irren, wenn man – wie aus oberflächlicher Unkenntnis oder Parteivorurteil häufig geschehen – in der Gewaltsamkeit dieser wilden Natur nichts als rohe Klopffechterei erkennen wollte. Denn ganz abgesehen von seinem für alle Zeiten eminenten satirischen Talent, womit er an schlagendem Witz und Unmittelbarkeit lebendiger Darstellung, kurz in allem, was die Satire poetisch macht, Brant hoch überragt, so geht auch durch sein ganzes Treiben und Übertreiben ein fast tragisch-finsterer Zug ernster Überzeugungen. Erst wird sein ungestümer Charakter von den neuen Ansichten, die reine Weltverbesserung in Aussicht stellen, unwiderstehlich mit fortgerissen; er ficht in seiner »Narrenbeschwörung«, in seiner »Badenfahrt«, »Gäuchmatte«, »Schelmenzunft« und »Mühle von Schwindelsheim« gegen alles Verrottete, er wird insbesondere mit der Scheinheiligkeit der falschen Mönche handgemein, ja, er übersetzt sogar Luthers Schrift von der babylonischen Gefangenschaft ins Deutsche. Als er aber nach und nach erkannt, wo das alles eigentlich hinauswill, schreibt er 1522 sein Buch: »Von dem großen lutherischen Narren, wie ihn Dr. Murner beschworen hat«, das speziell gegen Huttens destruktives Gebahren gerichtet ist, und welches Vilmar mit Recht die bedeutendste satirische Schrift auf die Reformation überhaupt nennt, die jemals erschienen sei. So zieht dieser ruhelose Geist mitten in der großen Revolution überall ingrimmig die Sturmglocke der Gegenrevolution.

Mit Johann Fischart (gest. 1589) tritt endlich die Satire selbständig und in einer seitdem noch unübertroffenen Vollendung auf. Auch Fischart beginnt, um sich nach damaligem Brauch die Sporen zu verdienen, mit einem Ritterzuge gegen die Kirche. Dahin gehören namentlich sein »Nachtrabe«, »der Barfüßer Kuttenstreit«, »der Bienenkorb des heiligen römischen Immenschwarms, seiner Hummelszellen oder Himmelszellen, Hurnaußnester, Brämengeschwür und Wespengetös« und »das vierhörnige Jesuitenhütlein« wider die »Jesuwider, die Schüler des Ignatz Lugiovoll, die Sauiter, Götzsuiter« usw. – Immer deutlicher erweist sich hier überall die Satire als die eigentliche Poesie des Verstandes; ja, seine »Flohhatz« ist ein Rechtshandel zwischen den Flöhen und Weibern in vollständig prozessualischer Form. In seinem wichtigsten Werke aber, in dem durch Rabelais' Vorgang veranlaßten »Gargantua und Pantagruel« sehen wir das seltsame Ringen jener einstürmenden Gegensätze des Lebens, das wir vorhin als den eigentlichen Grund der Satire hervorgehoben: Altes und Neues, Zorn und ausgelassene Lustigkeit, Härte und Zartsinn, Wahrheit und trotzige Selbstverblendung. Es ist eine Weltausstellung, ein ungeheuerer Mummenschanz menschlicher Charaktermasken, wo die auf das abenteuerlichste verkappten Gedanken und Wortlaute bunt durcheinanderwirren; ein fast betäubendes Summen, Zischen, Schnarren, Flüstern, Necken, Stoßen und Drängen, in welchem der Meister wie ein Magier waltet, der die Kobolde, die er heraufbeschworen, mit seiner heiteren Zauberformel gar wohl zu beherrschen weiß. Auch versäumt der Dichter nicht, selbst zuweilen auf den Ernst zu deuten, der hinter diesem tollen Spuke lauert. »Wohin meinst du aber«, sagt er, »du mein kurzweiliges Geschöpf, daß dies Vorgespielte, Vorgetrabte, Vorgelaufene an- und vorgebaut werde? Gewiß zu nichts anderem, als du, mein Jünger, und etliche andere deiner Mitnarren nicht gleich nach dem äußeren betrüglichen Schein urteilen lernet – so will sich auch gebühren, daß man hie dies Büchlein recht eröffne und dem Inhalt gründlich nachsinne, so wird sich befinden, daß die Spezerei darin von mehrerem und höherem Werte ist, als die Büchse von außen anzeigt und verheißet, das ist, daß die fürgetragene Materie nicht so närrisch und auf der Abweise geschaffen, wie die Überschrift vielleicht möcht fürwenden.« – Fischart dürfte wohl vor allen auf sich selber anwenden, was Brant von den satirischen Schriftstellern überhaupt gesagt: »Der Schreiber ist wie der Reiter, er nimmt heimlich, wie jener öffentlich, mit der Feder, was jener mit der Lanze; der eine wagt seinen Leib ins Trockene und Nasse, der andere seine Seele ins Dintenfaß.«

Was Fischart künstlerisch zu einer Weltsatire verarbeitet, hat Hans Michael Moscherosch in seinen »Gesichten Philander's von Sittewald« eigentlich nur beschrieben. Denn was darin Satire heißen soll, erstickt größtenteils in einem Wust von lateinischen Versen, ausländischen Phrasen und einer á la mode Gelehrsamkeit, gegen die er seltsamerweise doch selbst zu Felde zu ziehen vorgibt. Dagegen ist die in demselben Buch enthaltene und später von Arnim in seinem Wintergarten zu einer Novelle benutzte, überaus lebendige Schilderung des »Soldatenlebens« im Dreißigjährigen Kriege von grauenhafter Naturwahrheit und ein unvergängliches Denkmal menschlicher Verwilderung.

Goethe sagt irgendwo, daß sich unsere Zeiten mehr und mehr zur Wiederbelebung der Verhältnisse in Huttens Zeiten schicken – und der alte Seher hatte recht. Ulrich von Hutten (1488–1523) ist ein Vorbild unserer heutigen jugendlichen Weltverbesserer, denen nur seine Kraft und sein Talent fehlen, um es ihm gleichzutun. Hutten stand vollkommen auf der Höhe der Bildung seiner Zeit; und doch blieb er, weil dieser Bildung trotz aller christlichen Phrasen das Christentum mangelte, sein ganzes Leben hindurch ruhe – und ratlos, ein verlorener Schiffer, ohne Steuer und Kompaß ins Ungewisse treibend. Die Gelehrsamkeit befriedigte ihn nicht, die Poesie freute ihn nicht, seine Religion war die Politik und die Politik seine Poesie; er griff mit ungestümer Hast nach den Zügeln des Weltlaufs, ohne jemals sich selber zügeln zu können. Als Jüngling der stillen Klosterzucht eigenmächtig entronnen, dann von Armut, Not und Elend von Land zu Land verfolgt, endlich durch einen Herzog von Württemberg, der seinen Vetter ermordet, auf das äußerste gereizt, atmet er in seiner ersten Polemik nur Haß und Rache. Der geistreichste und großartigste Demagog Deutschlands, stachelt er nun mit allen damals noch unverbrauchten Künsten das Volk und identifiziert seine persönliche Schmach mit der Schmach der Nation, die Genugtuung verschaffen soll. Er stellt sich überall als Märtyrer dar, während ihm doch die gemeine Meinung als sichere Leibgarde beständig zur Seite stand; er gibt vor, alles nur um Gottes und des Volkes willen zu tun, sich überall von dem brennenden Ehrgeiz, der ihn verheerte, reinwaschend; und wußte doch recht gut, daß in jener Zeit nur auf diesem Wege Weltruhm zu erwerben war. Da sich jedoch dieser Gaul, trotz aller Sporen, dem Ungeduldigen sehr bald noch zu flau und träge erwies, so schlägt er sich jetzt plötzlich zu dem bisher von ihm tiefverachteten Adel. Ritter und Städte sollen als ein Mann zusammenstehen, Abfall von Kaiser und Reich und Tyrannenmord sollen unter so dringenden Umständen erlaubt sein und die Gebildeten mit dem Schwerte Wahrheit und Freiheit erzwingen. Aber wahr soll nur sein, was er und seine gelehrten Gesellen als Wahrheit oktroyiert, und Freiheit nur die blutige Zertrümmerung der Kirche. So wühlte Hutten unablässig den Abgrund auf, in welchem er selbst zuletzt einsam und tatenlos untergehen sollte; denn es ist die Art solcher Zeit, daß sie, wie Kronos, ihre eigenen Kinder verschlingt. Hinter ihm aber kam die Anarchie; sein glänzend kriegerischer Vorgang hatte die Leidenschaften entfesselt, und durch den einmal geöffneten Damm brach nun eine trübe Flut von Pasquillen, Spottliedern, Pamphleten und Flugschriften ins Land, die sämtlich die Kirche mit Kot bewarfen und von deren Schmutz und Roheit sich jeder Unbefangene nur mit Entrüstung und Ekel abwenden kann.

Auch ein uraltes Gedicht mußte dem neuen Zuge folgen; der ursprünglich deutsche Reinhart oder Reginhart (der kluge Ratgeber), nachdem er lange in Frankreich umhergeschweift und endlich über die Niederlande wieder zu uns heimgekehrt ist, hat sich allmählich in den modernen Reineke Fuchs verwandelt. In dem alten Tiergedicht ist es das deutsche Naturgefühl, die Freude an Wald und Feld und ihren Bewohnern, Reinhart, Isengrim und Brun; der geheimnisvolle Geisterblick der Tierwelt, der unwillkürlich an das verborgene Tier im Menschen mahnt. Im Reineke Fuchs dagegen meistert der Verstand die phantastische Sage und kehrt, fast wie die prosaische Auflösung einer Gespenstergeschichte, das alte Verhältnis gradezu um. Die geselligen Zustände der Menschen treten aus der Wildnis immer deutlicher und aufdringlicher in den Vordergrund und werden mit Absicht und Bewußtsein in der Tierwelt abgespiegelt, und das alte harmlose Epos macht zeitgemäß Opposition gegen Hof und Kirche. Hier ist die Lebensklugheit des alleinseligmachenden Subjekts, ein Machiavellismus der Revolution der eigentliche Nerv des Ganzen.

Man sieht, bei dieser Wendung der Anschauungen mußte notwendig das Epische immer mehr in Allegorie übergehen, und so entstand nun das allegorisch-satirische Tiergedicht und die Fabel, wo die Tiere eben nur noch maskierte Menschen sind. Unter diesen neuen Tiergedichten behauptet, außer der schon erwähnten »Flohhatz« des Fischart, der Froschmäuseler von Georg Rollenhagen, unter den Fabeln die des Erasmus Alberus und des Burkard Waldis durch Frische und Lebendigkeit der Darstellung bei weitem den ersten Rang. Endlich aber fällt dieser kecke Heereszug gegen die Narrheit der Welt, da er immer matter und kurzatmiger wird, in bloße Anekdoten und Sittensprüche auseinander, wie bei Zinkgref, oder er spitzt sich zu einzelnen Epigrammenpfeilen, wie bei dem in seiner Art vortrefflichen Logau.

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Wir haben oben, außer der Satire, noch zwei andere poetische Gestalten, den ewigen Juden und den Faust, als eigentümliche Geistererscheinungen der Reformation bezeichnet. Der ewige Jude geht zwar sagenhaft schon im 13. Jahrhundert um, aber erst jetzt wurde er persönlich in den engeren Kreis der Dichtung aufgenommen; ja man will den unheimlichen Gesellen in der Mitte des 16. Jahrhunderts im nördlichen Deutschland und namentlich in Hamburg leibhaftig gesehen haben. Ein solches Wiederbeleben und Fixieren eines so ungewöhnlichen Stoffes ist aber nirgend bloß zufällig, sondern jederzeit das Produkt der herrschenden Volksstimmung. Es konnte nicht fehlen, das eigenwillige Lossagen von der Kirche mit seinen Ausschweifungen, seinem Hohn und Frevel, mußte in ernsten Gemütern, wie trotzig sie sich auch äußerlich stellen mochten, ein Gefühl der Schuld erwecken und unwillkürlich an den Hartherzigen erinnern, der einst gegen das Kreuz protestiert, es verspottet und verspien hatte, und nun von der rächenden Hand Gottes ewig ruhelos bis zum jüngsten Tage von Land zu Land getrieben wurde. In dieser Bedeutung ist unverkennbar der düstere alte Mahner mit dem feurigen Kreuzeszeichen an der Stirn aufgefaßt und ein Symbol jener heimlichen Volksschauer geworden.

Noch unmittelbarer aber hängt die Sage vom Faust mit dem reformatorischen Geistesumschwunge zusammen, ja, sie ist bekanntlich erst in dieser Zeit entstanden. Mag immerhin, was nicht mehr zu bezweifeln, ein Schwarzkünstler Faust wirklich gelebt und die Nachwelt ihn, wie den Eulenspiegel mit allen Volksschwänken, nachträglich mit allen früheren Zauberkunststücken des Albertus Magnus, Teutonicus, Scotus usw. ausgestattet haben; der Faust der Sage ist dennoch der eigentliche Typus der damaligen Seelenzustände. Es ist fast unglaublich, wie diese Sage neuerdings von manchem sonst so verständigen Literarhistoriker als Polemik gegen den Papismus und dessen »zu großen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen« bezeichnet werden konnte. Der Faust ist vielmehr grade der Repräsentant der reformatorischen Heiligsprechung der menschlichen Vernunft, des schon in den Satiren als Signalement der Zeit bezeichneten »Fraßes«, jenes unersättlichen Hochmuts des Verstandes, der, nur an seine eigene Unfehlbarkeit glaubend, sich mäkelnd und willkürlich meisternd über die Offenbarung stellt und sich selbst erlösen will; dem der in solchen Katastrophen doppelt geschäftige Lügengeist unbedingte göttliche Freiheit vorspiegelt und der endlich, da der strenge Himmel verschlossen und die falsche Erdenlust vergänglich ist, sich in dämonischer Ungenüge mit seinem Herzblut dem Teufel verschrieben. Es ist ganz charakteristisch und treffend, daß der Faust hier als vagabondierender Hofnarr allerlei lächerliche Zauberpossen treibt, die ihn im Grunde als einen törichten Fant erscheinen lassen, durch ihren Gegensatz aber den dunklen Hintergrund des Ganzen nur um so schauerlicher hervorheben. Erst später, nachdem man jenen noch etwas kindischen »Fraß« philosophisch aufgefüttert und ausgebildet hat, ist die volle Bedeutung der Sage, die ganze furchtbare Tiefe dieses Seelenabgrunds mit seinen gespenstischen Zacken und Spitzen und schadenfroh neckenden Irrgeistern wahrhaft künstlerisch beleuchtet worden. Doch dies spielt schon in eine andere Phase unserer Poesie hinüber, wo wir noch einmal auf den Faust zurückkommen wollen.

Ein anderer Zweig der poetischen Literatur, der ebenfalls dem inneren Bedürfnis der Reformation seine besondere Pflege und Verbreitung zu verdanken hat, ist das neuere Kirchenlied. Daß die Poesie, nicht nur als allgemeine Weltkraft, sondern auch als spezielle Kunst, sich, gleich der Baukunst, Plastik und Malerei, mit der Religion sehr wohl verträgt, bezeugen die epischen Dichtungen Wolframs von Eschenbach, und in engeren, mehr kirchlichen Kreisen die wundervollen und unvergänglichen Hymnen der alten Kirche, wie: Dies irae, Stabat mater etc. Allein das eigentliche Kirchenlied ist, seinem Wesen nach, durchaus populär, es ist das auf die göttlichen Wahrheiten und die christliche Gemeinde angewandte Volkslied. Es muß daher, um wahrhaft wirksam zu sein, gleich dem weltlichen Volksliede, auf dem allgemeinen Bewußtsein des Volkes ruhen und von diesem selbst, nicht von Gelehrten und Theologen für das Volk gedichtet werden. So sehen wir denn auch wirklich schon sehr früh aus dem kirchlichen Kyrie eleison die sogenannten »Leisen« entstehen: deutsche geistliche Lieder, die bei Bittgängen, Kirchweihen, Prozessionen und Wallfahrten vom Volke gesungen wurden; und den heiligen Bernhard begrüßten und begleiteten auf seiner Reise durch Deutschland überall jubelnde Volkslieder. Ja, selbst jene lateinischen Kirchengesänge waren, gleich dem heiligen Meßopfer, ihrer Bedeutung nach allen verständlich und mit dem Volksglauben lebendig verwachsen. Und an diese organischen Vorgänge hatte denn auch das protestantische Kirchenlied, zum Teil durch Übersetzungen oder Umarbeitungen der alten Hymnen, sich ursprünglich angeschlossen.

Zwischen beiden war und blieb jedoch auch hier der durch die Reformation bedingte Grundunterschied von objektiver und subjektiver Auffassung. Die alte Hymnik ist ganz objektiv, sie feiert, wie Vilmar richtig bemerkt, die Taten Gottes, die Schöpfung, Erlösung und Heiligung an und für sich, ohne auf die Wirkung dieser göttlichen Taten im Herzen der Menschen einzugehen. Das protestantische Kirchenlied dagegen wählt grade diese Wirkung, die Empfindungen des menschlichen Herzens bei jenen göttlichen Geheimnissen zu seinem Hauptgegenstande, indem es dieselben auf die individuelle Erfahrung der Gnade bezieht. Man könnte in formeller Hinsicht die großen, kühnen und allgemeinen Züge der Hymnik mit dem Freskogemälde, das neue Kirchenlied mit dem Genrebild vergleichen. Die mehr häusliche Innerlichkeit des letzteren machte die geistliche Dichtung allerdings lyrischer und folglich volksmäßiger, baute aber auch notwendig die Brücke zur subjektiven, mehr oder minder willkürlichen Abweichung und Profanation.

Jeder Krieg, weil er das Haupthemmnis aller Poesie, die Gleichgültigkeit bricht, hat etwas Aufregendes, jugendlich Frisches; und die Reformation war in ihrem Ursprunge ein Krieg gegen die Kirche. In jedem Kampfe aber ist der angreifende Teil bei weitem im Vorteil über den angegriffenen. Daher sehen wir bei den Neugläubigen die stürmische Begeisterung des Eroberers, bei den Katholischen dagegen plötzlich einen momentanen Stillstand und die bloße Abwehr der Verteidigung, die niemals populär ist. Die ersten protestantischen Kirchenlieder sind schöne Kriegslieder, mitten im Getümmel der Geisterschlacht oder in Zeiten der Not auf nächtlicher Runde und Feldwacht erfunden, voll männlicher Zuversicht im Glück und Unglück, und alle ohne Gesang kaum denkbar. Auch hier hat Luthers heldenhafte, durchaus volksmäßige Persönlichkeit und hinreißende Sprachgewalt mit seinem: »Eine feste Burg ist unser Gott« die Bahn gebrochen. Er selbst fügte seinen Liedern die Melodien bei; und wie in prophetischer Ahnung der unmelodischen Zukunft sagt er: »Ich bin nicht der Meinung, daß durchs Evangelium alle Künste zu Boden geschlagen werden und vergehen, wie etliche Abergeistliche vorgeben, sondern ich wollte alle Künste, sonderlich die Musica, gern sehen im Dienste des, der sie gegeben und geschaffen hat.«

Schon außerhalb des unmittelbaren Kampfplatzes stehen Paul Gerhardt und der ihm nahverwandte Johann Franke. Der Grundton von Gerhardts Liedern ist die Siegesfreudigkeit. Kein Dichter vor oder nach ihm hat mit solcher einfachen und tiefen Innigkeit eben das ausgedrückt, was wir vorhin als die eigentliche Bedeutung und Aufgabe des protestantischen Kirchenliedes bezeichneten: die subjektive Wirkung der göttlichen Wahrheiten auf das menschliche Gemüt, die stille Einkehr in sich selbst, und er durfte wohl von sich sagen: »fröhlich ist, was in mir ist.« Aber diese liebenswürdige Frömmigkeit beruht lediglich auf der Intensität der gläubigen Empfindung, die überall nur eine individuelle Gabe ist. Wir sehen daher die in sich begnügte Sicherheit und Heiterkeit Gerhardts schon bei Simon Dach in leise Wehmut und elegische Klagen über den schroffen Gegensatz des irdischen Lebens ausgehen. Bei heftigeren Gemütern endlich bricht diese innere Ungenüge in finstere Schwermut, ja erschütternde Verzweiflung aus. So will Andreas Gryphius wie mit feurigem Schwert den Himmel stürmen. In seinen »Kirchhofsgedanken« und »geistlichen Oden« ringt er fast grauenvoll mit der Welt, aus Sturm und Schiffbruch, Todesangst und Sterbenot nach der Sonne der göttlichen Erlösung, und preist die schmerzenreichen Streiter glückselig, die, ihre Brüste schlagend und ihr Haar raufend, hienieden Tränen säen, um dereinst, wenn der Frost wird schwinden und die Felder prangen, in höchster Lust und ohne Trübsal zu lachen und nach der Flucht der Jammertage die Frucht der Saat zu ernten.

Allein die Reformation war keine von den Jahrhunderten getragene Tradition, sie appellierte an ein angebliches reines Urchristentum, das jedenfalls so weit über alle lebendige Volkserinnerung hinaus lag, daß die ganze neue Errungenschaft erst schriftmäßig beglaubigt und systematisiert werden mußte. Überdies wußte das Volk, das, je nach der Laune seiner weltlichen Herrschaften, bald katholisch bleiben, bald protestantisch, bald wieder katholisch werden sollte, am Ende gar nicht mehr, woran es war. So kam die Sache notwendig immer mehr in die Hände der Theologen und Gelehrten, die jederzeit die besondere Gabe haben, alles unpopulär zu machen. Die protestantische Theologie geriet nun ihrerseits selbst in die anfängliche ungünstige Lage der katholischen Partei, in die ängstliche Absperrung und Abwehr nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen ihre eigenen abgezweigten Sekten der Reformierten, Wiedertäufer usw., und mußte in dieser Isolierung um so gewisser und rascher verknöchern, da sie wesentlich auf der Negation beruhte, welche in sich kein Organ lebendiger Regeneration besitzt. Aus demselben Grunde mußte auch die geistliche Dichtung dasselbe Schicksal teilen, je sorgfältiger und eigensinniger sie alles Poetische der Kirche: die Legende, die Verehrung Marias und der Heiligen, die Schrecken des Fegefeuers etc. als abergläubische Greuel von sich ausschied. Da kamen die langweiligen Evangeliendichtungen, Reimereien von Bibelstellen, Psalter und gereimte Sonntagsepisteln, von Michael Weiß bis Lobwasser. Man eiferte zelotisch gegen den frommen Gerhardt, weil er seine Lieder bei einer Pfeife Tabak gedichtet, und verketzerte Simon Dach wegen seines schönen Liedchens auf »Annchen von Tharau«. Alles wurde jetzt unsingbar, http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0672.png gereimte Theologie, mehr oder minder eine orthodoxe Tendenzpoesie, welche sich, wie alle vorwaltende Tendenz, am allerwenigsten mit dem Volksliede verträgt. Aber außerdem war grade diese Tendenz auch mit dem Gange der Zeit überhaupt unvereinbar. Man wollte einerseits die göttlichen Geheimnisse mit dem Verstande beweisen, was an sich unmöglich ist und jedenfalls allen Glauben als einen überflüssigen Luxus aufhebt, da man nicht glauben kann, was man schon weiß. Oder man sollte andererseits blindlings auf den Buchstaben der Bibel schwören, was wiederum dem ganzen Sinne der Reformation offenbar widersprach. Denn »der wahre Lutheraner«, sagt Lessing, »will nicht bloß bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen hindern muß.«

Das Kirchenlied aber, dem man auf diese Weise die Theologie untergeschoben hatte, bei der es nichts mehr zu singen fand, ging daher lieber ganz aus der Kirche ins Haus, von der Religion zur bloßen Moral über. Es entstand nun eine Unzahl von Morgenliedern und Abendsegen, Lieder beim Trunk, Lieder für Schwangere, für Reiter, für Mägde beim Schüsselwaschen, für die Handwerker auf der Wanderschaft und in der Werkstatt, worunter z.B. eine einzige dieser Sammlungen: »Des geistlichen und evangelischen Zion's neue Standeslieder«, nicht weniger als einhundertsiebenundvierzig Lieder für Amtsschreiber, Barbiere und Bauern enthält. Diese Lieder, da sie sich so populär machten, entlehnten denn auch häufig vom weltlichen Volksliede nicht nur Melodie und Liederanfänge, wie: »O Welt, ich muß dich lassen«, »herzlich tut mich verlangen«, »Ach Gott, wem soll ich's klagen«, »Ein Fräulein zart« u.a., sondern selbst einen großen Teil des Textes; z.B.: »Gassenhauer, Reuter- und Bergliedlein, christlich moraliter und sittlich verändert durch Herm. Heinrich Knausten. 1571«, oder: »Nye christlike Gesenge unde Lede up allerlei ardt Melodien der besten olden dudeschen Leder dorch Herm. Vespasium, Prediger tho Stade. 1572«. Ja, einer von ihnen, Bartholomäus Ringwaldt aus Frankfurt a. O., wird so kordial, daß er in einem seiner Lieder Gott fragt, warum er denn sein Angesicht so mit Plundern bedecken wolle und ihn als ein Mann mit schrecklichen Gebärden anlaufen, er solle doch die Nebelkappe abnehmen usw. http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0673.png

Gegen diese Verweltlichung sowie gegen jene Starrsucht der Orthodoxen erfolgte nun die Reaktion des Pietismus, der vor allem den toten Buchstabenglauben durch eine Steigerung des Gefühls neu zu beleben suchte. Die Pietisten lenkten allerdings mehr als die zuletzt erwähnte Gruppe wieder auf das Objektive des Christentums ein, aber nur, um es in der luftigen Wandelbarkeit einer bloß subjektiven Auffassung ebenso schnell wieder zu verflüchtigen. Sie waren, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, im Eifer des Gefechts von einem Extrem zum andern, aus der abgeschlossenen Enge der Orthodoxie in das Grenzenlose individueller Empfindung geraten; sie hatten freilich den Buchstabenglauben flüssig gemacht, aber kein sicheres Bett bereit für den plötzlich losgebundenen Strom, der nun in tausend Bächlein das Land überrieselte und bedeutend unter Wasser setzte. Es war weniger eine Religion als eine häusliche Privatandacht, die endlich in der Gemeinde der Herrnhuter ihren Mittelpunkt fand. Aus dieser Individualisierung des Christentums aber entstand einerseits der verhätschelnde Kultus des menschlichen Herzens, und daher das läppisch Tändelnde und Süßliche eines gottselig schwelgerischen Selbstgenusses, dem, wie Homburg in seinen geistlichen Liedern versichert, der Seelenbräutigam Christus wie ein himmelsüßer Bissen schmeckt, wie Balsam riecht und süßer ist als kandierten Zuckers Kraft. Andererseits erzeugte die Einbildung einer solchen persönlichen Liebschaft mit Christus sehr natürlich auch jene Art von hochmütiger Zerknirschung, die sich für ein ganz absonderlich auserwähltes und begnadigtes Werkzeug Gottes hält; und Ziegler z.B. in seinen Elegien über das Leben Christi weiß seinen eigenen Wert nicht hoch genug herauszustreichen, da Gott sich zum Knecht gemacht, um ihn zu erlösen.

Inzwischen hatte Opitz der geistlichen Dichtung bereits nach zweierlei Seiten hin eine gelehrte Richtung gegeben: teils nach der Antike und heidnischen Mythologie, teils zum italienischen Schäferspiel; und an das letztere lehnten die Pietisten mit ihrem Religionsidyll sich an. Hirten singen Schäferlieder beim Kripplein Jesu, Christus wird als Daphnis gefeiert; da sind lauter honigsüße Wiegengesänglein und Sonntagsseufzerlein. Ein Hauptmann Basse bringt einen »andächtigen Seelenspaziergang«, Mitternacht »feuerheiße Liebesflammen einer in Jesu verliebten Seele«, Benjamin Prätorius eine »spielende Myrtenau« und ein »jauchzendes Libanon«, Johannssen »sulamitische Freudenküsse einer gläubigen Seele«, und Johann Georg Albinus windet in seiner brünstigen Verzückung einen Zypressenkranz aus den fünf Wunden Jesu »mit über die Nacht emporgehobenem Sinn aber krankem Haupt, gehemmten Lebenslichtern, knackenden Gliedern, einem wie gebackenen Leib und schlotternden Zähnen«. Graf Zinzendorf endlich, sonst ein bedeutender und ehrenwerter Charakter, pflegt von Gott nur als von dem »Papächen« oder »süßem Mamächen« zu reden und gibt, wider Wissen und Willen, den Kern des ganzen kindischen Wesens in seinem albernen Liede:

»Ich liebe mein Papächen,Ich liebe mein MamächenUnd Bruder Lämmelein;Ich lieb die lieben Engel,Ich lieb den obern Sprengel,Das Kirchlein und mein Herzelein.«

Hoch über ihnen, wie Meister über schülerhaften Stümpern, stehen dagegen die gleichzeitigen katholischen Mystiker: Balde, Scheffler und Friedrich von Spee, sie alle an Gehalt und Form weit überragend. An Gehalt, weil sie von den bloßen Aufwallungen des »Herzeleins« auf deren Urgrund, auf die ewigen Wahrheiten der Religion selbst, unmittelbar zurückgriffen und daher jederzeit wußten, was sie wollten; und an poetischem Ausdruck, weil ein großer Inhalt alles kleinliche Geschwätz darüber von selbst unmöglich macht. Die moralische Prüderie der Pietisten, ihr weichliches Schöntun mit den wunden Stellen der Seele, die lügenhafte Affektion jener schlotternden Zerknirschung: das alles wird bei Jakob Balde auf einmal furchtbarer Ernst in einer heldenhaften Asketik, welche die Krankheit des Menschengeschlechts nicht durch überzuckerte Palliativmittelchen beschwichtigen, sondern vielmehr schonungslos ihre Krise herbeiführen und durch eine totale innere Umkehr heilen will. Und diesem strengen Geiste entspricht auch vollkommen die streng klassische Form seiner, meist lateinischen, Gedichte. – Ebenso entschieden hat Johann Scheffler (oder Angelus Silesius, wie er sich nach dem spanischen Mystiker Joh. ab Angelis gewöhnlich nannte) die tändelnde Spielerei mit der Brautschaft Christi in die ganze Tiefe ihrer eigentlichen Bedeutung versenkt, indem er in seiner »Psyche« und insbesondere in den Sinnsprüchen seines »cherubinischen Wandersmannes« auf die Gottwerdung der menschlichen Seele mit einer Kühnheit hinweist, die schon häufig als Pantheismus gedeutet worden, obgleich er selbst ausdrücklich sagt: daß durch diese Vergötterung die Seele nicht in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen verwandelt, sondern nur mit dem göttlichen Wesen überformt, vereiniget und eins werden soll. – Bei Friedrich von Spee dagegen wird die pietistische Liebelei zum wahrhaften Minnegesang, in dessen tiefster und schönster Bedeutung. Kein Dichter hat wohl so innig, wie Spee im »güldenen Tugendbuch« und in seiner »Trutz-Nachtigall«, die verborgenen Stimmen der Natur belauscht und verstanden: wie die Ströme und Wälder und Bächlein emsig zu Gottes Lobe rauschen und die Vögel von Ihm singen und die geheimnisvolle Sommernacht von Ihm träumt; als ob der Finger Gottes leise über die unsichtbaren Saiten der Schöpfung glitte. Es ist daher nur durch Mangel an lebendigem Naturgefühl erklärlich, daß diese herzlichen Naturlaute jemals mit der faden Lämmelei, das Kindliche mit dem Kindischen der Pietisten verwechselt werden konnte. Und dieselbe Liebe, die in seinen Liedern in der Tat trotz Nachtigallen tönt, hat der Dichter auch durch sein Leben bewährt. Er war der erste, der mit seiner »Cautio criminalis« mutig die grausamen Hexenprozesse bekämpfte, und starb 1635 in Folge der geistlichen und leiblichen Pflege, welche er den verwundeten Soldaten in Trier menschenfreundlich zugewendet.

Endlich müssen wir auch noch den ausgemachtesten Antipoden der Pietisten, den Wiener Hofprediger Abraham a Santa Clara (Ulrich Megerle, 1642–1709) hier anreihen. Nicht, als ob etwa Abraham jene wissentlich parodiert hätte; aber es läßt sich kaum ein entschiedenerer Gegensatz des reimelichen Pietismus denken als diese herzhafte Volksfrömmigkeit, die, weil sie ihrer innerlich sicher ist, sich mit Scherz und Lachen gar wohl verträgt und erwiesenermaßen unendlich tiefere Gewalt auf die Gemüter geübt hat, als es die schäferlichen Tränodisten jemals vermochten. Abrahams humoristische Satiren, die er Predigten nennt, sind wie ein wunderbares Kaleidoskop, wo der Dichter die Gebrechen der Welt zwischen Spott, Scherz, Witz und schneidendem Ernst unermüdlich immer anders wendet, so daß sie in dem scharfen Lichte seines Geistes stets neue und überraschende Klangfiguren bilden. Auch die deutsche Sprache hat dieser verschwenderisch begabte Dichter mit einem wahren Schatz kühner und unmittelbar schlagender Wortfügungen bereichert, und es ist eine Schande und ein unersetzlicher Verlust für unsere Literatur, daß die sauertöpfische Altklugheit Norddeutschlands es vornehm verschmähte, damit ihrer Armut aufzuhelfen. Überhaupt haben die Protestanten, mit der schon damals beliebten Taktik, alle diese bedeutenden Dichter fast gänzlich ignoriert; denn Spee und Balde waren Jesuiten, Abraham gar Kapuziner, und Scheffler war zur Kirche zurückgekehrt. Nur in neuester Zeit erst ist Spees Trutznachtigall durch Clemens Brentano der Vergessenheit entrissen und Schefflers cherubinischer Wandersmann sowie Abrahams a St. Clara berühmtestes Werk: »Judas, der Erzschelm«, von neuem abgedruckt worden.

Auf protestantischer Seite aber hatte der von Opitz angeschlagene Gelehrtenton auch in der geistlichen Dichtung sich immer weiter verbreitet. Den Übergang machen hier Rist, Heermann, Neumark und Buchholtz, obgleich bei ihnen noch immer der einfache Goldgrund des älteren Kirchenliedes durch die neue Kunstdichtung hindurchschimmert, welche, nach mancherlei nicht erwähnenswerten Wendungen und Verwandlungen, endlich in Klopstock kulminiert. Klopstocks geistliche Lieder sind nicht mehr singbare Volkslieder für die Gemeinde, sondern Oden für die Vornehmen, und könnten etwa nur noch in Oratorien als Bravourarien abgesungen werden. Auf demselben Wege suchten J. A. Cramer, Adolf Schlegel, Funk u.a. das Christentum durch angespannte Poesie nobel zu machen; aber der stolze Pegasus machte Miene, mit der alterschwachen Religion durchzugehen. Darüber erschrak der gottesfürchtige Gellert, dem überdies zu so hohem Schwung der Atem fehlte, er ließ die geheimnisvolle Schönheit des Christentums, zu der sich jene verstiegen, auf sich beruhen und verlegte sich auf die Prosa der Moral. Gellert mit seinen nüchternen Liedern gehört, um mit Shakespeare zu reden, zu den guten Leuten und schlechten Musikanten, die das Erhabene wie ein löbliches Handwerk treiben; einem wohlwollenden Arzte vergleichbar, der, um den Patienten nicht anzugreifen, ihn durch Zureden und bloße Diät kurieren will. Und von jetzt ab erblicken wir eine seltsame Bewegung und Rührsamkeit unter den theologischen Doktoren. Spalding, Zollikofer u.a. suchen eifrigst das Christentum dem gebildeten Zeitgeiste, mit dem sie heimlich längst fraternisiert, zu akkommodieren und darnach auch den Kirchengesang zurechtzumachen, indem sie ihn von allem Positiven säubern. In ihren sogenannten Kirchenliedern ist daher keine Spur des alten gläubigen Herzensklanges, vielmehr nur eine gewisse mitleidige, diplomatische Herablassung zu dem dummen Volke bemerkbar. Lessing schrieb über die Klopstockschen geistlichen Lieder an Gleim: »Wenn Sie schlecht davon urteilen, so werde ich an Ihrem Christentum zweifeln, und urteilen Sie gut davon, an Ihrem Geschmack.« Jetzt aber paßte der Zweifel auf beiden Seiten: auf das Christentum und auf den Geschmack.

Doch wir wollen gegen diese Liederkünstler nicht ungerecht sein. Die Zeit war eine andere und das Kirchenlied eigentlich unmöglich geworden; es fehlte weniger der Gemeinde das Lied als dem Liede die Gemeinde, denn diese hatte den alten Glauben schon verloren und die neue Vernunftreligion noch nicht begriffen. So hatten denn in diesem Interregnum die Poeten freies Spiel; das Lied wurde erst unkirchlich, dann antikirchlich, bis endlich die Poesie in neuester Zeit die längst vom Rost zerfressenen Fesseln der Religion, und die der Moral hinterdrein, völlig abgestreift und sich in heidnischer Nacktheit gegen das Christentum gewendet hat.

Und was machten unterdes die katholischen Dichter gegen diese liederliche Rebellion der Poesie? Wenige vereinzelte schüchterne Klänge abgerechnet, lange Zeit hindurch – nichts und am Ende noch etwas Schlimmeres: »Die Stunden der Andacht«, einer zimperlichen Andacht, die sich, dem philosophischen Indifferentismus zu Gefallen, alles Katholischen entäußert. Soll denn auch unsere Frömmigkeit bei dem Protestantismus betteln gehn? Wir lassen ihren religiösen Dichtungen, wenn sie es verdienen, gern und unumwunden volle Gerechtigkeit widerfahren; ja wir würden keinen Anstand nehmen, einige der besten Kirchenlieder von Dach, Gerhardt, Novalis oder Schenkendorf freudig als die unseren anzuerkennen, aber wir haben oben gesehen, wohin die geistliche Poesie der Protestanten unaufhaltsam geraten, da sie, sich selbst überlassen, frei waltete. Wo sie aber von den Konsistorien und Synoden zum liturgischen Gebrauch eingefangen wurde, ist sie unter der allgemeinen Zensur der fanatisch verschlimmbessernden Vernunftreligion ganz altklug und prosaisch geworden und daraus endlich die Gesangsbuchnot entstanden, die, der allgemeinen http://www.zeno.org/Literatur/K/Eichendorff-W+Bd.+3-0679.png Konfusion verfallen und eine wahre literarhistorische Musterkarte aufweisend, noch bis heute zwischen dem ästhetisch-religiösen, historisch-antiquarischen und kirchlich-praktischen Standpunkte ratlos hin und her schwankt und nichts Geringeres als »ein Gesangbuch der unsichtbaren Kirche, die nicht da oder dort, sondern Gott allein bewußt ist«, im Schilde führt.

Da ist also für uns nichts nachzuahmen noch abzulernen als etwa, wie wir es nicht machen sollen. Ebenso töricht, ja widersinnig aber wäre es, sich allzu schreckhaft von dem wüsten antichristlichen Vandalismus drüben zum anderen Extrem hintreiben zu lassen, in der geistlichen Dichtkunst, weil sie des Mißbrauchs empfänglich, die Kunst verwerfen und gleichsam wie eine vom Zeitgeist belagerte Festung hinter dem Bollwerk verbrauchter Formeln sich selber geistig aushungern zu wollen. Solche furchtsame, abschließende, bloß negative Moralität wird von dem geschäftigen Feinde über kurz oder lang notwendig überflügelt; wie der einfältige Vogel Strauß, der beim Anblick des Jägers die Augen zudrückt und meint, es habe keine Gefahr, weil er sie nicht sehen mag. Wohlmeinende Absicht allein ist noch keine Poesie; eine prosaische Poesie aber, wenn man sie so bezeichnen darf, verfehlt ihr Ziel nur um so gewisser, je größer und würdiger ihr Gegenstand ist. Wer diesen daher durch eine ängstlich abwehrende Beschränktheit in Auffassung und Darstellung geltend und populär machen wollte, wäre wie jener ehrliche Deutsche, der sich mit seiner französischen Einquartierung am besten zu verständigen meinte, wenn er das Deutsche wie ein Deutschfranzos gebrochen sprach. Wir haben so viele schöne geistliche Lieder und Sprüche von Friedrich Schlegel, von Werner, Clemens Brentano, von den ungenannten Dichtern in Diepenbrocks geistlichem Blumenstrauß und von Annette von Droste-Hülshoff in ihrem herrlichen geistlichen Jahr; warum werden sie in unseren stereotypen Gebet- und Gesangbüchern nicht zur Erfrischung des religiösen Sinnes benutzt?


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