Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Weltliche Poesie Teil 2

Dem sinkenden religiösen Glauben sank das Rittertum, das ihn verteidigen sollte, dem sinkenden Rittertume der Minnegesang nach, der durchaus vom Rittertum lebte und dessen eigentliche Blüte war. Denn wenn die Poesie überhaupt mit den religiösen und sittlichen Zuständen der Nation innig zusammenhängt, so muß für deren Temperaturwechsel grade die Lyrik, als die subjektivste Dichtungsart und Darstellung der Gegenwart, am empfindlichsten sein und, sobald dort die Nation an ihrem Innersten ungewiß und irre wird, hier auch zuerst die Verwirrung eintreten. Um aber in jener Zeit diese Verwirrung vollkommen zu machen, spielt auch noch eine mißverständliche Verwechselung und Vermischung des Neuplatonismus und des wahren Plato mit hinein und erzeugt in der Poesie eine Art heidnisch-christlicher Mythologie, wo, wie in einem nebelhaften Traume, die Heiligen der Legende und die Götter des Olymps einander brüderlich begegnen. Daher sehen wir denn in dieser schwankenden Übergangsperiode auch die Lyrik in alle möglichen Richtungen und Gegensätze ausfahren, Didaktisches, Rhetorik, Mystisches und Schwank bunt ineinander wirrend, so daß eine genauere Grenze kaum mehr zu erkennen ist.

Schon in Ulrich von Lichtensteins »Frauendienst« (1255), wo Lyrisches und Episches konfus durcheinanderläuft: welche widerliche Verzerrung der Minne, welch ein durchaus unsittliches Verhältnis, das ihr zum Grunde liegt! Der verheiratete Sänger wirbt auf Tod und Leben um die Gunst einer gleichfalls verheirateten Dame, weil es Mode ist, und die Dame, obgleich beständig höhnend, duldet es, weil es Mode ist. Er trinkt ihr Waschwasser, schneidet sich ihr zuliebe seine Doppellefze und einen krumm gewordenen Finger ab, und sie bewahrt gerührt den ihr verehrten Finger und betrachtet ihn alle Tage. Er tiostiert ihr zu Ehren als Venus durch neunundzwanzig Tage, besucht sie, als Aussätziger verkleidet, und will, da die Dame denn doch noch klüger ist als der tolle Phantast, sich zuletzt noch gar ersäufen. – Man sieht, hier ist die Minne und der Frauendienst bereits rein konventionell geworden, die Dichter glauben und fühlen selbst nicht mehr, was sie singen, alles wird gemacht und affektiert, und das ist überall der Tod der Lyrik. Kein Wunder daher, daß nun der Minnegesang sehr bald ins Parodische und später immermehr in sein gerades Gegenteil, in das Materielle, Grobsinnliche und Obszöne umschlägt. Ganz den Eindruck wenigstens einer absichtslosen und unbewußten Parodie macht es, wenn jetzt Nithart die Szene von den Ritterhöfen in die Dorfschenke und die Minne unter die Knechte und Mägde verpflanzt, dabei aber, da er selbst noch zu den adeligen Sängern gehört, an die übermütig gewordenen bäurischen [⇐600][601⇒] Knollfinken rechts und links tüchtige Kopfstöße austeilt. Noch tiefer hinab führen dann der Tanhuser und Hadloub, wo der Minnegesang, mit Ausnahme einiger herzhaften Tanzweisen, in lauter Zech- und Schmausliedern austönt.

Aber wer hinkt, greift nach der Krücke; wo die Moral zu Ende geht, fängt das Moralisieren an. Und so folgt auch hier auf die invaliden Minnesänger die Gruppe der gnomischen Dichter, eine Erscheinung, die sich auch bei einzelnen Dichterindividuen wiederholt, wie z.B. bei Goethe, dessen wunderbares Lied zuletzt ebenfalls in Gnomologie ausgeht. Man könnte diesen Übergang die altgewordene Lyrik nennen: grämlich, superklug, grübelnd und lehrhaft in epigrammatischen Spitzen und Sprüchen, weil der innere Lebenshauch zu langatmigen Liedern nicht mehr ausreicht. Bei der versiegenden Produktionskraft lehnen sich nun jene Dichter begreiflicherweise immer mehr an die großen Vorgänger, und zwar vorzüglich an das Realistische Walthers von der Vogelweide, aber ohne dessen herzlichen Klang, und an den Ernst des Wolfram von Eschenbach, aber ohne dessen Tiefsinn; beides jedoch keineswegs entschieden getrennt, sondern wiederum verworren ineinanderlaufend, was oft die seltsamste Mischung von Dogma, Moral, Schwank und ritterlicher Konvenienz gibt. Hierher gehören u.a. Reimar von Zweter, der bei aller Frömmigkeit gleichwohl gegen Papst und Kirche polemisiert, der ältere Meißner, Wernher und Marner. Am schärfsten aber wird die Walthersche Richtung durch den heiteren Regenbogen sowie die Wolframsche durch den mysthischen Frauenlob bezeichnet. Die letzten Rittersänger, wie Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein, schlagen schon einfache volkstümliche Klänge an, während bürgerliche Dichter noch überkünstlich in den alten Minnegesang hineinpfuschen, z.B. Muskatblüt, der noch wirkliche Minnelieder hat, noch an den Herrenhöfen sang und die abenteuerlichsten Marienlieder dichtete. Ja, diese allgemeine Unruhe und Ratlosigkeit zeigt sich selbst in der rastlosen phantastischen Reisewut dieser Epigonen, die nicht mehr singend von Schloß zu Schlosse, sondern, wie mit Siebenmeilenstiefeln, von Weltteil zu Weltteil schweifen. So erblicken wir den Hugo von Montfort bald als Troßbube mit den deutschen Rittern in Preußen, bald in Rußland, Norwegen, England und Schottland, dann als Koch und Ruderknecht auf dem Schwarzen Meer, als Pilger in Jerusalem, als Sänger und Possenspieler am Hofe des maurischen Königs von Granada und in Paris, wo ihm die Königin von Frankreich einen kostbaren Diamanten in seinen weißen Bart einband.

Weil aber jetzt der rechte Mittelpunkt, aus welchem allein bisher der Umkreis des irdischen Daseins bis zu seinen fernsten Stadien so scharf und klar beleuchtet worden, nach und nach abhanden gekommen war, so vermochte auch die am Gleichgültigen ermattende poetische Produktionskraft nicht mehr, die Erscheinungen des Lebens unmittelbar zu individualisieren, und nahm daher zu dem abstrakten Abbild desselben ihre Zuflucht. Und so sehen wir nun die Allegorie in das Lied einziehn und es bald gänzlich überwältigen. Eine der beliebtesten Allegorien war die Darstellung des Liebenden als Jäger, wie z.B. in der Jagd des Hadamar von Laber, wo das Herz des Jägers als rastlos umherspürender Hund und der Merker als Wolf erscheint, der den Hund zu zerreißen droht. Im Spiegel wird die Treue von ihrer Kaiserin Frau Abenteuer ausgesandt, um Liebestreue zu finden. In dem Gedicht von der Liebe und dem Pfennig streitet die Liebe gegen den Weltbeherrscher Pfennig, der am Ende die Liebe ins Wasser stößt. Die Minne selbst tritt nun als bloße allegorische Figur auf und wird – nachdem sie bei der allmählichen Herabstimmung sinnlich geworden, ganz konsequent – erst zur heidnischen Frau Venus, wie in der Mohrin, und endlich gar zur Teufelin, wie in dem Gedicht vom treuen Eckart. Ja, in dem vom Kaiser Maximilian 1517 entworfenen und von seinem Geheimschreiber Melchior Pfinzing ausgeführten Theuerdank werden nicht mehr die Minne, Gedanken und Gefühle, sondern die gewöhnlichsten Jagd-, Krieges- und Brautfahrten pomphaft allegorisiert; ein Werk, das nicht seine Poesie, sondern seine vornehme Herkunft und prachtvolle Ausstattung berühmt gemacht.

Diese Entartung des Minnegesanges aber war nicht geeignet, die Lyrik in der Höhe und allgemeinen Achtung zu erhalten die sie so lange behauptet hatte. Das Dichten hörte auf, eine freie ritterliche Kunst zu sein, und wurde ein besonderes Metier, das Lied war nicht mehr singbar, der Dichter nicht mehr ein Sänger, sondern ein »Sprecher«. Sehr natürlich daher, daß diese Poeten, wie sie so häufig klagen, nun als Bänkelsänger an den Höfen »hinausgeworfen« wurden und sich immer mehr zu den Städten wandten, von deren realistischem Zunftgeist die wachsende Opposition gegen das Rittertum ausging.

Im Epos geht das Subjektive im Objekt, in der Lyrik das Objekt in der subjektiven Empfindung auf. Dort verschwindet der Dichter, die Ereignisse sprechen, wie in der Geschichte, für sich selbst; hier wird der Dichter zum alleinigen Sprecher, indem er uns nur den Nachhall gibt, den das Ereignis in seinem Herzen geweckt. Das Drama dagegen ist, wie wir schon oben angedeutet, die Durchdringung und Wiederversöhnung beider getrennten Elemente; eine Vereinigung, die jederzeit erst spät und nur dann mit Erfolg versucht wird, wenn beide Elemente selbständig ausgebildet und stark genug geworden, um sich aneinander messen zu können. Das Objekt ist hier entweder die Sage und historische Vergangenheit oder die unmittelbare Gegenwart oder der Konflikt der letzteren mit der jedem Zeitalter eigentümlichen idealen Gedankenwelt, wonach das Drama sich in Lustspiel, Schauspiel oder Tragödie verteilt. In allen diesen Verzweigungen aber wird Auffassung und Darstellung notwendig den subjektiven Farbenton des Dichters annehmen und, da der Dichter, er stelle sich, wie er wolle, selbst in seinen Idealen, immerdar ein Kind seiner Zeit bleibt, zu gleich in dem jedesmaligen besonderen Schliff des Zeitgeistes sich abspiegeln. Daher gibt das Drama, wo es sich wahrhaft volksmäßig ausgebildet hat, unter allen Dichtungsarten die schärfste Signatur der wechselnden Bildung, Gesinnung und Sitte einer Nation; daher erscheinen dieselben dramatischen Gegenstände verschieden in den verschiedenen Zeiten und Völkern, und die Jungfrau von Orleans, die bei Shakespeare eine Hexe ist, fährt bei Schiller visionär auf romantischem Gewölke gen Himmel.

Hiernach sehen wir denn auch unser Drama, obgleich es niemals zu nationaler Entwickelung gelangt ist, genau dieselben Bildungsphasen des Zeitgeistes durchmachen, die wir vorhin auch beim Epos und bei der Lyrik bemerkt haben. Auf das christliche Dogma gestellt, geht in den ursprünglichen Mysterien und Moralitäten noch alles Subjektive in den religiösen Geheimnissen auf, noch scheu und unbeholfen mit dem übermächtigen Stoffe ringend. Zwar werden schon früh komödienhafte Zwischenspiele mit eingeschoben, anfänglich jedoch nur in gewissenhaftem Dienst der Kirche, um die biblischen Texte volksmäßig zu paraphrasieren und durch den Kontrast noch mehr zu heben. Bei der wachsenden Verweltlichung des Lebens aber verweltlicht auch das Zwischenspiel immer mehr; einheimische und fremde Volksnarren, wie der Bott Jan Posset, Pickelhäring, Stockfisch und der französische Jean Potage, laufen immer bunter, lauter und kecker dazwischen, so daß endlich die Kirche zögernd und ungern sich gedrungen sah, dieser Profanation durch Verbote entgegenzutreten. Allein zu offenbarem Nachteile beider. Denn jetzt vereinsamte das Mysterium, da das mit der Welt vermittelnde Zwischenspiel wegfiel, und das Zwischenspiel, leichtsinnig und trotzig, sagte sich von seiner ursprünglichen Bedeutung völlig los, ging aus der Kirche in die Schenke und verwilderte dort zum possenhaften Fastnachtsspiele; das Mysterium wurde langweilig und das Fastnachtsspiel gemein.

Aber die Scheidung von ursprünglich Verwandtem geschieht nirgends, ohne einen nachhaltigen moralischen Stachel im Innern zurückzulassen. Auch das exkommunizierte Zwischenspiel vergalt den geistlichen Bann mit heimlichem Groll. Dieser Groll war zwar anfangs noch keineswegs unmittelbar gegen den Glauben und die Kirche, um so schlagfertiger aber gegen alles Höhere im äußeren Leben gerichtet, das sich im Mittelalter auf der Grundlage der Kirche aufgebaut hatte. Und so sehen wir denn in dieser Übergangsperiode auch beim Drama dieselbe Erscheinung wie bei dem Epischen und Lyrischen: eine vorerst noch kaum sich selbst bewußte und daher harmlos lustige und ergötzliche Negation des Rittertums, seiner Tugenden, seiner Tapferkeit, seiner Minne und seiner Übertreibungen; nur daß hier die Stelle des Eulenspiegels und seiner Gesellen durch den Hanswurst vertreten wird, dessen Charakter weder polemisch noch satirisch, sondern durchaus parodisch ist.

Mit dem Wesen der Poesie mußte sich notwendig auch die Form nach und nach verwandeln, die ja selbst hier ein Teil des Wesens ist. In der allgemeinen Herabstimmung entstand aus dem singbaren Liede das gesprochene Gedicht, und aus der Rhetorik des gesprochenen: die poetische Prosa, ein zwitterhaftes Mittelding, das man auch wohl prosaische Poesie nennen könnte. Die Phantasie, welche alles Gewöhnliche und Wirkliche in eine höhere Region emporzuheben strebt und daher auch in ihrem Ausdruck luftig und ungewöhnlich ist, hatte wegen zunehmender Alterschwäche ihre Herrschaft allmählich an den Verstand abgetreten, dessen massiver Boden eben die praktische Wirklichkeit ist. Die Sprache der Phantasie aber ist die geheimnisvolle Musik des Verses, die Sprache des Verstandes die Prosa.

Schon früher hatten die Reimchroniken hart und mühsam die schwerfälligen Fundamente zu der Übergangsbrücke gelegt, welche dann von den Volksbüchern, die wir in anderer Beziehung schon oben erwähnt, anmutig überbaut und vollendet wurde, indem sie die alten Gedichte für das neue Bedürfnis in Prosa auflösten. Wir müssen hier noch immer die unzerstörbare Gewalt des Inhalts bewundern, können aber nur bedauern, daß die schöne Form zertrümmert ward. Wie aber auf diesem tonlosen Wege die poetische Prosa zuletzt unvermeidlich bei der völlig prosaischen Poesie anlangen mußte, bezeugt am deutlichsten der Weißkunig, ein gleich dem Theuerdank vom Kaiser Maximilian I. entworfenes Geschichtswerk, das mit allegorischer Dichterprätention die Regierung dieses Kaisers sowie Kaiser Friedrichs III. verschnörkelt und hölzern schildert.

Den letzten und nicht geringsten Stoß nach der Prosa hin gab endlich auch die Erfindung der Buchdruckerkunst, indem nun gar an die Stelle des lebendigen Worts der Buchstabe, in die Stelle des persönlichen mimischen Sprechers der einsame Leser trat. Das gedruckte Buch hat, wie der Rechenknecht für das Gedächtnis, für den Geist überhaupt etwas Mumienhaftes, Stationäres und Abgemachtes, worauf sich zu jeder Zeit bequem ausruhen läßt, während die lebendige Tradition, solange sie wirklich lebendig, notwendig in einer beständigen Fortbildung begriffen ist. Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: »er lügt wie gedruckt« – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen und ein jeder nach seines Herzens Gelüsten aufs Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre »Jungfrau von Orleans«, die Dame ihre »Mimili«. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation. Der arme Poet, wenn er wenigstens auf ein Dezennium unsterblich werden will, muß unausgesetzt seine Rivalen in der Gunst der chaotischen Menge durch immer neue Knalleffekte auszustechen suchen; und so erzeugt sich fortwährend ein ekelhaft zärtliches Verhältnis und Liebäugeln zwischen Dichterpöbel und Lesepöbel. Nun ist allerdings die Poesie nie und nirgends ausschließliche Sache der Aristokraten, der Gelehrten oder sonst einer Kaste, und wo sie es eine Zeitlang wirklich war, ist sie auch jedesmal schmählich zugrunde gegangen. Aber ebenso verderblich ist jene kommunistische Rebellion gegen die hohe Aristokratie, den Geburtsadel des Genies, der nun einmal auf diesem Gebiet von Gottes Gnaden souverän ist. Denn selbst das freie Volkslied wird nicht von der wüsten Menge, sondern von einzelnen berufenen Hirten und Jägern auf einsamer Alp oder vom Liebenden oder jauchzenden Tänzer und Zecher in glücklicher Stunde weniger erfunden, als vielmehr nur der durchs ganze Volk gehende Klang von Freud und Leid gefunden; und nur in diesem Sinne ist es wahr, daß das Volk dichte.

Die wahre Poesie ist indes glücklicherweise, wenngleich in der äußerlichen Form verwundbar, doch in ihrem Grundwesen unverwüstlich. Mitten in diesem weltlichen Getümmel flüchtete sie sich daher unerwartet aus dem Buche wieder zum lebendigen Worte, indem sie in ihrem neuen Prosa-Gewande noch einmal zu ihrer ursprünglichen Heimat, zur Kirche, zurückkehrte. Es ist nicht bloß der große Inhalt, sondern auch die wunderbare Poesie der Darstellung, welche die Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg so gewaltig machte, daß ihm Tausende folgten, wenn er von Bergen, an einsamen Feldkapellen oder im Walde zum Volke redete. In den Predigten Susos, wie in den Betrachtungen des Thomas von Kempen, steigt die uralte Minne noch einmal in ihrer reinsten Flamme schlank und klar zum Himmel auf. Dieselbe Kraft poetischer Weihe hat in den Predigten Johann Taulers und Geilers von Kaisersberg – obgleich der letztere, um populär zu sein, mit seinen seltsamen Vergleichungen schon öfters wieder ins Weltliche abschweift und gewissermaßen der Vorläufer Abrahams a Santa Clara ist – einen Blick in den Abgrund der göttlichen Geheimnisse eröffnet, von dem die scholastische Theologie nichts ahnte.

Diese großen Männer bewähren am leuchtendsten den ewigen Bund von Religion und Poesie. Wie sehr irren daher diejenigen, welche aus Verstandeshochmut oder vielleicht noch häufiger aus schwächlicher Scheu und Zaghaftigkeit jenen Bund als eine sündhafte Profanation verleugnen möchten, weil sie in ihrer Gemütstrockenheit in der Poesie nur eitel Schmuck und Spiel zu erkennen imstande sind. Die Religion aber nimmt – es kann nicht oft genug wiederholt werden – den ganzen Menschen, mithin auch Gefühl und Phantasie in Anspruch, welches eben die Grundelemente der Poesie sind. Warum denn also dem Menschen grade für seinen höchsten Flug die ihm von Gott verliehenen Schwingen brechen? Alle Religion ist, weil unergründlich, wesentlich zugleich auch mystisch; die Mystik aber kann nicht unmittelbar in Begriffen, sie kann nur in Anschauungen, also nur symbolisch und bildlich zu uns reden; und es wäre daher töricht, ja frevelhaft, der Kirche das Bild und der Wahrheit der Religion ihre Schönheit rauben zu wollen.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03