Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Kampf und Übergang

Die alte Welt war allmählich eine Lüge geworden; Götter, an die niemand mehr glaubte, Staatseinrichtungen für Tugenden, die man nicht mehr verstand oder verlachte, und dabei noch immer die fortgeerbte römische Prätention einer Weltherrschaft, die doch nur von den sogenannten Barbaren noch gehalten wurde. Der Schutt der Jahrhunderte, auf dem nur üppige Giftblumen wucherten, mußte hinweggeräumt, das ganze trügerisch morsche Prachtgerüst erst gebrochen werden, damit es das neue Leben nicht weiter hindere. Und dies eben war die welthistorische Bedeutung der Völkerwanderung, jener rätselhaften Völkerströme, die erfrischend von Norden und Osten über den todmüden Süden hereinbrachen; und eben deshalb ist das einzige Wandervolk, welches diese Mission nicht begriffen und dem Lichte des neuen Lebens sich störrig verschlossen hatte, das wilde Heer der Hunnen, nachdem es die untergeordnete Aufgabe des bloßen Niederwerfens erfüllt, auch spurlos von dem großen Schauplatze wieder verschwunden.

Das deutsche Volk ist irgendwo mit Recht der Riese Christophorus genannt worden, der das Christkind durch die Fluten einer wildempörten Zeit getragen. Denn allerdings hatten die südlichen Nationen schon lange vor den Deutschen sich zum Christentum bekannt; allein im byzantinischen Kaisertum war dasselbe in eine zweideutige, den weltlichen Staatsinteressen dienstbare Hofsache umgeschlagen, und in Rom hatte teils das ungeheure Gemisch der verschiedensten Nationalitäten und Religionen, teils die Anstrengung der Gelehrten, die alte Mythologie durch den Neuplatonismus philosophisch umzudeuten und wieder zu beleben, einen vielfach störenden und zersetzenden Einfluß ausgeübt. Man darf daher wohl behaupten, daß erst die jugendfrische und tiefere Auffassung der germanischen Völker das Christentum in Europa wirklich einheimisch gemacht hat.

Indem aber das Christentum den Blick von den geheimnisvollen Naturkräften zu dem Urgrund alles Kreatürlichen, von der Sinnenwelt zum Übersinnlichen wandte, mußte es notwendig überall eine totale Umwandlung der Lebensansicht und Gesamtbildung und somit auch ihres poetischen Ausdrucks herbeiführen. Dies konnte jedoch grade bei einem so treu und ernst gestimmten Volke, wie das deutsche, nicht plötzlich und nicht ohne bedeutende Kämpfe geschehen. So rang im nordöstlichen Deutschland das nationale Heidentum noch lange und hartnäckig mit Karl dem Großen und endete nur mit der völligen Unterjochung der Sachsen. Ebenso entzündete sich in England ein ähnlicher Kampf zwischen den eingewanderten heidnischen Angelsachsen und dem christlichen Keltenkönig Artus, den nachher die christliche Ritterdichtung sagenhaft verklärt hat. Und da nun die alte Odinslehre vom deutschen Boden vertrieben war, flüchtete sie zu den gotischen Stämmen in Schweden, wo sie noch lange die bedeutsame Gestalt bewahrte, wie sie uns in der isländischen Edda erhalten worden.

Bei dieser Nachbarschaft von Heiden und Christen und dem nationalen Verkehr derselben konnte es nicht fehlen, daß nun hier zunächst eine Art von Kriegszustand permanent wurde. Nicht nur mußten die gewaltsam bekehrten Sachsen ihre alten Götter ausdrücklich abschwören, auch die alten Heldenlieder, mit denen die heidnischen Traditionen fortwährend noch herüberklangen, wurden von den geistlichen Behörden als Teufelswerk verboten, woraus denn ihr gänzliches Verschwinden einigermaßen erklärlich wird. Ja, selbst die uralte Form dieser Lieder, die Alliteration oder der sogenannte Stabreim, der, wie eine poetische Runenschrift, die bedeutsamsten Worte jedes Verses durch gleiche Anfangsbuchstaben betonte, ward jetzt mit Mißtrauen betrachtet und allmählich außer Gebrauch gesetzt. - Wir können vom poetischen und historischen Standpunkte aus allerdings nur bedauern, daß diese alten Heldengesänge auf diese Weise verlorengegangen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß das, was uns jetzt nur noch als ein schönes und harmloses Spiel der Phantasie erscheint, damals als wirklicher Volksglaube galt und also überwunden werden mußte.

Auch noch eine andere Folge des Christentums griff wenigstens mittelbar in die germanische Geistesentwickelung ein. Die Deutschen hatten nämlich das Christentum von den Römern und mit ihm die lateinische Sprache empfangen, die überdies, da sie bereits eine Weltsprache, auch zur Verbreitung der neuen Weltreligion am geeignetsten war. Die Sprachen der andern sogenannten romanischen Völker waren schon früher allmählich der übermächtigen römischen gewichen, oder sie hatten sich vielmehr, jede in ihrer Art, lateinisch regeneriert. Die deutsche Sprache aber war noch zu kerngesund, um nicht, mit Ausscheidung des fremden Elements, ihre Selbständigkeit und Eigentümlichkeit zu behaupten. Und so erhielten wir schon damals eigentlich zweierlei Sprachen, eine gelehrte und eine Volkssprache, ein Dualismus, den unsere Literatur noch bis jetzt nicht ganz beseitigt hat.

Unter den eingewanderten Völkern ragten ohne Zweifel die Goten an hohem Sinn und Bildung über alle anderen hervor. Weit entfernt daher, die alte Kultur zu zerstören, wie Attila mit seinen Hunnen tat, suchten sie vielmehr alles Große und noch Lebensfähige, das sie vorfanden, auf ihre Weise sich anzueignen. So wissen wir durch gleichzeitige Schriftsteller, daß der Gotenkönig Adolf seinen Ruhm darin suchte, die Herrlichkeit der Römer durch die Kraft der Goten wiederherzustellen und noch zu vergrößern, und daß es schon damals Römer gab, die lieber unter den Deutschen in Freiheit, ob wohl dürftig leben mochten als wie ehemals in steter Angst vor den Erpressungen der alten Regierung. Ihr großer König Theodorich sorgte gleichmäßig für die Erhaltung der römischen wie der gotischen Sprache und Bildung, beide, eine durch die andre wechselseitig ergänzend und neubelebend; und an seinem Hofe wurden die ersten christlichen Heldenlieder gesungen.

Sie sind zwar sämtlich verloren, so wie die Lieder, welche später Karl der Große sammeln ließ, aber dennoch können wir auf diesen Spuren den Strom der deutschen Poesie aus dem alten Sagenwalde bis tief in das Mittelalter hinein verfolgen. Denn jene Gotenlieder, die von lateinischen Schriftstellern als Volksgeschichte in Prosa aufgelöst worden, feierten vorzüglich den Ruhm und die Taten des Heldengeschlechts der Amelungen, später auch Attila, Odoaker und Theodorich selbst in ihren Kreis mit aufnehmend; sie wurzelten also noch in den Nationalerinnerungen der ältesten Vorzeit. Eben diese Lieder aber waren es, wie wir anzunehmen berechtigt sind, welche die erwähnte Sammlung Karls des Großen bildeten, aus welcher dann wiederum vieles und vielleicht das Bedeutendste im Nibelungenliede und Heldenbuche nachgeklungen hat. Und so geben denn auch wirklich die Nibelungen, selbst in ihrer jetzigen kunstmäßigen Gestalt, noch ein lebensvolles Bild jenes allmählichen Überganges vom Heidnischen zum Christlichen. Hier sehen wir noch die starren Zacken des alten Urgebirges drohend hereinragen, aber schon wunderbar beglänzt von dem Morgenrot des Christentums, bei dessen Widerscheinen gleichwohl in den nur erst ungewiß beleuchteten Abgründen noch die alten Ungeheuer und Drachen sich widerwillig ringeln, unzähmbare Kraft, Rache, und alle die entsetzliche Naturgewalt menschlicher Leidenschaften, bis zuletzt die furchtbare alte Heldenwelt, wie im Zorne, vor dem milderen neuen Lichte tragisch zusammenbricht.

Erhalten hat sich von den Goten nur ein einziges schriftliches Denkmal, das aber von dem majestätischen Klange, dem Reichtum, Wohllaut und strengem Bau ihrer Sprache ein überraschendes Zeugnis gibt. Es ist dies die vom gotischen Bischof Ulfila verfaßte Übersetzung der vier Evangelien. Die im 16. Jahrhundert aufgefundene und später in Prag aufbewahrte Handschrift wurde am Schluß des Dreißigjährigen Krieges von den Schweden entführt und befindet sich gegenwärtig in Upsala; während erst im Jahre 1818 durch den Kardinal Mai auch noch die Briefe des Apostels Paulus in Ulfilas Übersetzung im lombardischen Kloster Bobbio entdeckt worden sind. Von Dichtungen aber besitzen wir aus der ältesten Zeit überhaupt, d.i. aus dem 8. oder 9. Jahrhundert, nur noch drei in ihrer damaligen Gestalt: das Hildebrandlied, den Walter von Aquitanien und den Beowulf.

Das Hildebrandlied bekundet auf eine merkwürdige Weise den vorhin behaupteten Zusammenhang der uralten und spätern Sagenwelt, indem es den Inhalt des, also schon damals alten, Nibelungenliedes zum Hintergrunde hat. Denn Hildebrand ist der Waffenmeister Dietrichs von Bern (des Gotenkönigs Theodorich), mit dem er nach der furchtbaren Schlußkatastrophe der Nibelungen vom Hofe Etzels (des Hunnenkönigs Attila) in seine Heimat zurückkehrt. Hier hatte er vor dreißig Jahren seinen Sohn Hadubrand verlassen, der nun selbst seitdem zum Helden herangewachsen ist und dem Vater, den er nicht kennt, den Eingang verwehrt. Vergebens erzählt dieser ihm seine Geschichte, der mißtrauische und trotzige Sohn ist nicht zu überzeugen. Da ruft Hildebrand: »Weh, waltender Gott, jetzt kommt das Wehgeschick! Sechzig Sommer und Winter bin ich außer Landes gewallet, und nun soll mich mein Kind mit dem Schwerte hauen oder ich zum Mörder an ihm werden!« Aber es wäre unerhörte Feigheit, den Sohn vom Kampfe abzuhalten, nach dem ihm so gelüstet. Und so kämpfen sie miteinander auf Tod und Leben. - Man sieht, das ist noch wesentlich heidnische Tugend. Und dieselbe wildfremde Urgebirgsluft weht uns auch aus den beiden andern oben erwähnten Dichtungen an: wie dort Walter von Aquitanien, dem man die aus dem Hunnenlande entführte Braut und Schätze rauben will, in einem Engpasse der Vogesen mit zwölf Helden, und unter ihnen auch mit dem schrecklichen Hagen von Troni, kämpfen muß, wie sie einander Auge, Fuß und Hand abhauen und dann beim Friedensmahle über das Grauenvolle heiter scherzen; während in dem angelsächsischen Beowulf dieser heldenhafte Jütenkönig mit dem Seeungeheuer Grendel und dessen Mutter ficht, und dann in einem mörderischen Kampfe mit einem Drachen seinen Tod findet.

Außerdem blieben zwei große Sagenstoffe, die ein Jahrtausend überdauert haben. Der heidnische Siegfried, der mit seinem Schwert Balmung den goldhütenden Drachen Fafnir erschlägt, die Walküre Brunhild aus der Flammenburg erlöst und durch Verrat umkommt, erscheint demnächst von neuem als Christ im ersten Teile des Nibelungenliedes und macht später als der hörnerne Siegfried durch die Volksbücher die Runde, um uns endlich in Fouqués Sigurd dem Schlangentöter noch einmal zu begrüßen. Und dieselbe poetische Lebenskraft hat der berühmte Fuchs Reinhart bewährt, von seiner ersten Ausfahrt im fünften Jahrhundert, als Reginhart mit den Franken über den Rhein, bis zu Goethes Hexametern vom Reineke Fuchs.

Der durch das Christentum erfolgte Umschwung aber übte einen doppelten Einfluß auf die Poesie aus. Während nämlich, wie wir schon oben angedeutet, mit dem erlöschenden Glauben an die heidnische Mythologie auch die in diesem Glauben wurzelnden Heldenlieder immer mehr verklangen, suchte man zugleich dem wachsenden christlichen Volksbewußtsein poetischen Ausdruck zu geben und die alte weltliche Poesie durch eine geistliche zu ersetzen. So entstand im 9. Jahrhundert das sogenannte Wessobrunner Gebet, das nur noch im Fragment vorhandene Gedicht Muspilli und die unter dem Namen Heliand (Heiland) bekannte altsächsiche Evangelienharmonie. Aber alle diese Gedichte, wiewohl durchaus christlichen Inhalts, können in ihrer ganzen Physiognomie die heidnische Abkunft noch keineswegs verleugnen. Es ist noch immer der Klang der alten Heldenlieder, aus denen sie hervorgegangen, die Form ist noch immer die alliterierende, ja Muspilli sogar noch die heidnische Benennung des Weltendes, von dem dieses Fragment handelt. Im Heliand aber erscheint Christus noch ganz wie ein Heldenfürst der alten Epen, der mit seinem Gefolge eine beglückende Volksfahrt hält und in den Versammlungen der Völkerstämme mit seinen Getreuen tagt. - Näher schon und an den äußersten Grenzen der alten und neueren Welt steht dagegen die oberdeutsche Evangelienharmonie des Benediktinermönches Otfried aus den dreißiger Jahren des neunten Jahrhunderts, indem hier bereits das volksmäßig Epische mehr in den Hintergrund und an die Stelle der Alliteration zum erstenmal der Reim getreten ist.

Allein abgesehen davon, daß zu allen Zeiten das Göttliche an sich undarstellbar ist, so war auch das christliche Leben noch nicht erstarkt genug, um die neue Weltansicht poetisch zu bewältigen. Es entstand daher vom 10. Jahrhundert ab eine momentane Stockung der poetischen Produktion, die sich erst innerlich sammeln und orientieren sollte. Man hatte noch Dringenderes zu tun, nämlich das Christentum erst mit den Sitten, Lebensgewohnheiten und Staatseinrichtungen zu vermitteln.


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