Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Einleitung [Fortsetzung]

Der unfruchtbarste derselben ist wohl der ästhetische, die Beurteilung nämlich nach einer allgemeinen Theorie der Kunst. Eine poetische Zeit denkt nicht an ihre Schönheit, weil sie dieselbe von selbst besitzt, gleich wie ein Gesunder seine Gesundheit nicht merkt. Erst wenn die Schönheit abhanden gekommen, wird die verlorene absichtlich gesucht oder philosophisch konstruiert, und so entsteht die Ästhetik. Wir hatten allerdings zu jeder Zeit auch eine ästhetische, d.h. nach den eben gangbaren Schönheitsregeln gemachte Poesie. Aber jeder wahre Dichter hat, meist ohne es zu wissen, seine eigene Ästhetik. Jene allgemeinen Theorien sind begreiflicherweise einem beständigen Wechsel unterworfen und zu subjektiv, um als Norm zu gelten, und es wäre ebenso ungerecht als unhistorisch, irgendeine entferntere Periode der Poesie nach der gegenwärtig eben beliebten Theorie abschätzen zu wollen. Man denke hier z.B. nur an die unübersteigliche Kluft zwischen Gottscheds und Lessings Lehre, oder in neuerer Zeit auch zwischen Jean Paul und Solger, von denen jeder in gewissem Sinne recht hat oder doch recht zu haben glaubte.

Ein anderes Verfahren ist das chronologisch-geographische, das wohl auch historisch genannt zu werden pflegt, indem hier die Literatur nach ein für allemal geschichtlich bestimmten Zeitabschnitten, die aber durch ganz andere Ereignisse bedingt sind, zurechtgelegt und innerhalb dieser Abschnitte wieder in eine sächsische, östreichische, schwäbische, niederrheinische usw. eingeteilt und durch Jahreszahlen möglichst genau begrenzt wird. Das gibt allerdings einen bequemen Schematismus für die Schule, allein die dadurch bezweckte Ordnung ist durchaus nur illusorisch. Das poetische Element geht wie ein Frühlingshauch durch die Luft über die Kalenderjahre und provinziellen Marken hinweg und hat seine eigenen imaginären Provinzen; die mühsam gezogenen Grenzen und Abschnitte greifen prophetisch, ergänzend oder verwirrend beständig ineinander, ja oft staut die leichtbewegliche Luftströmung weit zurück, um dann plötzlich wieder Jahrhunderte zu überspringen. Es herrscht also hier ein anderes geheimnisvolleres Gesetz als in der politischen Historie.

Tiefer schon greift der nationale Gesichtspunkt, die Würdigung nämlich einer Literatur nach ihrer Übereinstimmung mit dem Geiste der Nation, welcher sie angehört. Wir haben oben den deutschen Nationalgeist als einen vorzugsweise nach innen gewandten bezeichnet und als natürliche Folge davon die freie Ausbildung individueller Eigentümlichkeiten erkannt, woraus wieder die auffallende Mannigfaltigkeit unserer Literatur sich selbst erklärt. Und in diesem Sinne dürfen wir allerdings, wenn wir von weltlichen Interessen und untergeordneten Parteizwecken absehen, die deutsche Literatur unbedenklich eine nationale nennen. Die italienische Poesie ging schon sehr früh auf die Denkart und Kunstformen ihrer klassischen Vorzeit zurück, die aber, bei der seitdem durch das Christentum völlig veränderten Weltlage, nicht mehr wahrhaft national sein konnte; während in der englischen der Einfluß der heterogensten, einander oft gradezu widersprechenden Völkerelemente, mit einem Wort: die geistige Komposition eines Mischvolkes sich häufig fühlbar macht und bis heut noch nicht vollkommen beendigt und geschlossen scheint. Unter allen ist ohne Zweifel die spanische Poesie die nationalste; aber sie ist es auf eine ganz andere Weise als die unsere. In Spanien ist es die Freude und begeisterte Verherrlichung einer durch Jahrhunderte erkämpften Errungenschaft von Religion, Ehre und Ritterlichkeit, welche ihr prächtiges, aber durchaus einförmiges Zauberlicht über alle Dichtungen und Dichter wirft, die sich daher nur durch die größere oder geringere Kunstvollendung voneinander unterscheiden. In Deutschland dagegen ist eben das Ringen selbst, der sich beständig erneuernde Kampf um jenes Eldorado, und, da jeder einsam für sich kämpft, die totale Verschiedenheit das Charakteristische und Nationale. Betrachten wir aber diesen Kampf genauer, so erkennen wir, daß derselbe, wie wir auch schon aus dem oben angedeuteten Zusammenhange der Dichtkunst mit der Philosophie ersehen, in seinem Grundzuge unausgesetzt grade de höchsten Gütern des Lebens, der Erkenntnis Gottes und der überirdischen Dinge gilt. Der durchgreifende Gesichtspunkt zur Beurteilung der deutschen Literatur, der hiernach zugleich auch den nationalen mit umfaßt, wird also nur der religiöse sein können.

Es geht durch alle Völker und Zeiten ein unabweisbares Gefühl von der Ungenüge des irdischen Daseins und daher das tiefe Bedürfnis, dasselbe an ein Höheres über diesem Leben, das Diesseits an ein Jenseits anzuknüpfen, Vergangenheit und Gegenwart beständig mit der geheimnisvollen Zukunft zu vermitteln. Und dieses Streben, durch welches alle Perfektibilität und der wahre Fortschritt des Menschengeschlechts bedingt wird, ist eben das Wesen der Religion. Wo aber dieses religiöse Gefühl wahrhaft lebendig ist, wird es sich nicht mit müßiger Sehnsucht begnügen, sondern in allen bedeutenderen Erscheinungen des Lebens sich abspiegeln; am entschiedensten in der Poesie, deren Aufgabe, wenngleich auf anderem Gebiet und mit anderen Mitteln, offenbar mit jenem Grundwesen der Religion zusammenfällt, also in ihrem Kern selbst religiös ist.

Und so ist denn auch in der Tat, genau genommen, die Geschichte der poetischen Literatur, dem Kreislaufe des Blutes vom und zum Herzen vergleichbar, eigentlich nichts anderes als das beständig pulsierende Entfernen und wieder Zurückkehren zu jenem religiösen Zentrum. Alle Revolutionen der Poesie sind durch die Religion gemacht worden. Schon im Altertum und namentlich bei dessen poetischstem Volke, den Griechen, ging die Poesie, da der alte Götterglaube, auf dem sie ruhte, verloschen war und philosophisch umgedeutet wurde, von ihrer ursprünglichen strengen Größe zu skeptisch vermittelnder Weltlichkeit, von Äschylus zu Euripides über. Das Christentum sodann, die ganze Weltansicht verwandelnd und wunderbar vertiefend, schuf aus der anarchischen Verwirrung, welche dieser Geisterkatastrophe unmittelbar folgte, an die Stelle der alten Verherrlichung des Endlichen die romantische Poesie des Unendlichen. Späterhin war es abermals der auf demselben Gebiet durch die sogenannte Reformation herbeigeführte Umschwung, welcher unsere Poesie in eine völlig veränderte Bahn mit sich fortriß; und noch in neuester Zeit entstand aus der religiösen Reaktion gegen den Unglauben einer flachen Aufklärung die moderne Romantik, die noch bis heut nicht ganz verklungen ist.

Und das kann auch nicht anders sein. Denn was ist denn überhaupt die Poesie? Doch gewiß nicht bloße Schilderung oder Nachahmung der Gegenwart und Wirklichkeit. Ein solches Übermalen der Natur verwischt vielmehr ihre geheimnisvollen Züge, gleich wie ja auch ein Landschaftsbild nur dadurch zum Kunstwerke wird, daß es die Hieroglyphenschrift, gleichsam das Lied ohne Worte, und den Geisterblick fühlbar macht, womit die verborgene Schönheit jeder bestimmten Gegend zu uns reden möchte. Auch die noch so getreue Darstellung der Vergangenheit gibt an sich noch keine Poesie, wenn der historische Stoff nicht durch überirdische Schlaglichter belebt und gewissermaßen erst wunderbar gemacht wird; und jedenfalls wird sie stets an Genialität der wirklichen Geschichte weit nachstehen müssen, die der göttliche Meister nach ganz anderen ungeheueren Dimensionen und Grundrissen dichtet, wofür wir hienieden keinen Maßstab haben. Aber ebensowenig darf die Poesie auch anderseits eine unmittelbare Darstellung der übersinnlichen Welt unternehmen wollen; denn diese entzieht sich, wie der Abgrund des gestirnten Himmels in unbestimmte Lichtnebel zerfließend, in ihrer unermeßlichen Ferne und Höhe beständig der Kunst und ihren irdischen Organen; wie denn an dieser Auf gabe auch wirklich die größten Dichter, Milton, Klopstock u.a. gescheitert sind. Die Poesie ist demnach vielmehr nur die indirekte, d.h. sinnliche Darstellung des Ewigen und immer und überall Bedeutenden, welches auch jederzeit das Schöne ist, das verhüllt das Irdische durchschimmert. Dieses Ewige, Bedeutende ist aber eben die Religion und das künstlerische Organ dafür das in der Menschenbrust unverwüstliche religiöse Gefühl.

Auch das hat die Poesie mit der Religion gemein, daß sie wie diese den ganzen Menschen, Gefühl, Phantasie und Verstand gleichmäßig in Anspruch nimmt. Denn das Gefühl ist hier nur die Wünschelrute, die wunderbar verschärfte Empfindung für die lebendigen Quellen, welche die geheimnisvolle Tiefe durchranken; die Phantasie ist die Zauberformel, um die erkannten Elementargeister heraufzubeschwören, während der vermittelnde und ordnende Verstand sie erst in die Formen der wirklichen Erscheinung festzubannen vermag. Ein so harmonisches Zusammenwirken finden wir bei allen großen Dichtern, bei Dante, Calderon, Shakespeare und Goethe, wie sehr auch sonst ihre Wege auseinandergehen. Der Unterschied besteht nur in dem Mehr oder Minder jener drei Grundkräfte. Wo aber dieser Dreiklang gestört und eine dieser Kräfte alleinherrschend wird, entsteht die Dissonanz, die Krankheit, die Karikatur. So entsteht die sentimentale, die phantastische und die Verstandespoesie, die eben bloße Symptome der Krankheit sind.

Es geht, wie durch die physische Welt, so auch durch das Reich der Geister, eine geheimnisvolle Zentripetal- und Zentrifugalkraft, ein beständiger Kampf zwischen himmlischer Ahnung und irdischer Schwere, welcher in dem großen Ringe, der die Geister wie die Planeten umfaßt, je nach den engeren oder weiteren Kreisen, die sie um den ewigen Mittelpunkt beschreiben, Licht oder Schatten, belebende Wärme oder erstarrende Kälte, sehr verschieden verteilt. Aber das, was in dem Sonnensystem als unvermeidliches Naturgesetz erscheint, ist im Geisterreich ein Akt der Freiheit, die Notwendigkeit dort wird hier durch freie Wahl zur Tugend oder Sünde, je nachdem die natürliche Harmonie bewahrt oder willkürlich gebrochen wird. Wir scheuen uns daher nicht, diesen höchsten Maßstab alles Lebens auch an die bedeutendste Manifestation des Geisterreichs, an die Literatur, anzulegen. Und diesen großen Weltgang, namentlich in den einzelnen Zweigen und Evolutionen unserer Poesie, näher nachzuweisen, ist eben die Aufgabe, die wir nachstehend zu lösen versuchen wollen, auf die Gefahr hin, daß dann vielleicht manches Hochgepriesene klein, manches Geringgeachtete groß erscheinen dürfte.

Schließlich nur noch die Bemerkung, daß wir in dem Abschnitt von der neueren Romantik den Inhalt unserer früheren Schrift über denselben Gegenstand mit wenigen Zusätzen wieder aufgenommen haben, weil dieses Werkchen im Buchhandel vergriffen ist, weil unsere dort ausgesprochenen Ansichten und Überzeugungen seitdem unverändert geblieben sind, und weil es hiernach jedenfalls eine ebenso unnütze als unerträgliche Arbeit wäre, dasselbe mit anderen Worten sagen zu wollen.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03