Gerhard von Scharnhorst an Carl von Clausewitz

vom 27.11.1807.

Memel, den 27. November 1807.

Mein lieber Clausewitz!

Ihre mir unschätzbaren Briefe habe ich erhalten; ich sehe aus dem letzten, dass Sie die Beantwortung der beiden ersten nicht erhalten haben. So empfangen Sie denn nun hier meinen innigsten und herzlichsten Dank für die Liebe, Freundschaft und Güte, die Sie mir durch Ihre Briefe erzeigt haben. Ihre Urtheile sind die meinigen oder werden es durch Ihre Briefe; Ihre Ansichten geben mir Muth, die meinigen nicht zu verläugnen; nichts könnte mich jetzt glücklicher machen, als mit Ihnen an einem Orte zu sein. Aber recht traurig würden wir dennoch sein; denn unglücklich, ganz unglücklich sind wir. – Wäre es möglich, nach einer Reihe von Drangsalen, nach Leiden ohne Grenzen, aus den Ruinen sich wieder zu erheben, wer würde nicht gerne Alles dran setzen, um den Saamen einer neuen Frucht zu pflanzen, und wer würde nicht gerne sterben, wenn er hoffen könnte, dass sie mit neuer Kraft und Leben hervorginge! – Aber nur auf einem Wege, mein lieber Clausewitz, ist dies möglich. – Man muß der Nation das Gefühl der Selbstständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt, nur erst dann wird sie sich selbst achten und von Andern Achtung zu erzwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, dies ist Alles, was wir können. Die Bande des Vortheils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und sie in ihrem freien Wachsthum nicht hemmen, weiter reicht unser hoher Wirkungskreis nicht. So sehe ich die Sache, so sehe ich unsere Lage an. – Ich ziehe mich sehr wenig bei dieser Lage des Ganzen in Betracht. Ich habe den besten Willen, zu wirken, wo ich kann, ich bin aber nicht dazu gemacht, mir Anhang und Zutrauen durch persönliche Bearbeitung zu verschaffen. – Ohne daß ich es vorher wußte, avancirte mich der König, und übertrug mir die Reorganisation einer aus verschiedenen Offizieren zusammengesetzten Commission. – Freunde habe ich mir nicht zu machen gesucht, und wenn es möglich ist, so wird man mich bei so heterogenen Ansichten, so wenigen persönlichen Rücksichten vom Könige zu entfernen suchen, obgleich dieser mir sehr gnädig ist, und mich bisher mit unverdientem Zutrauen behandelte. Eine ruhige ehrenvolle Existenz steht nach diesen Augenblick mir anderwärts offen (in England). Aber Gefühle der Liebe und Dankbarkeit gegen den König, eine unbeschreibliche Anhänglichkeit an das Schicksal des Staates und der Nation, und Abneigung gegen die ewige Umformung von Verhältnissen hält mich bis jetzt davon ab, und wird es thun, so lange ich glaube, hier nur entfernt nützlich sein zu können. Obgleich es mit unserer Zukunft misslich steht, so haben wir doch auf eine innere Regeneration, das Avancement, die Uebung, als auch insbesondere auf den Geist hingearbeitet; der König hat ohne alle Vorurtheile hier nicht allein sich willig gezeigt, sondern uns sehr viele dem Geist und den neuen Verhältnissen angemessene Ideen selbst gegeben. – Folgt der König dem neuen Entwurfe, den er zum Theil schon sanctionirt hat, erschwert daß Vorurtheil nicht die Ausführung, wird nicht der Hauptzweck durch Abänderungen, durch schlechte Exekutors verfehlt: so wird das neue Militair, so klein und unbedeutend es auch sein mag, in einem andern Gesite sich seiner Bestimmung nähern, und mit den Bürgern des Staates in ein näheres und innigeres Bündniß treten. Die niedrige Krittelei unserer Schriftsteller stellt unsern Egoismus, unsere Eitelkeit, und die niedere Stufe der Gefühle und der Dekungsart, welche bei uns herrschen, am vollkommensten dar. – Ich habe nichts geschrieben, als eine Relation des Rückzuges des Blücherschen Corps von dem General von Blücher, einen Bericht der Schlacht bei Jena und Auerstädt (übersichtlich) in der Königsberger Zeitung, und die Relation der Schlacht bei Eilau, die Sie gelesen. Ich werde aber die Schlacht bei Jena beschreiben, und den Herzog von Braunschweig zwar nicht vertheidigen, aber doch den Gesichtspunkt, aus dem er handelte, darstellen, denn so unentschlossen und charakterlos er war, so fehlte es ihm doch nicht an militairischer Beurtheilung. – Nie werde ich mich aber auf Widerlegungen einlassen, und zu dem Pöbel der Gelehrten mich gesellen. Sie, mein innigster Freund, müssen jetzt die neue Formation abwarten, kommt sie zu Stande, so findet sich für Sie auf mehr als eine Art eine Stelle. Kommt sie nicht zu Stande, so finden Talente, und Kraft sie anzuwenden, immer ihr Unterkommen. So mein lieber Clausewitz denkt ihr Freund über unsere jetzigen Verhältnisse. Er wird nie aufhören Sie zu lieben, welche Veränderungen, welche Schicksale uns Alle auch treffen mögen.

Scharnhorst

Quelle:
Privatarchiv EPOCHE NAPOLEON


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