Leben mit dem Krieg. Süddeutschland im Krieg mit und gegen Napoleon.

von Prof. Dr. Ute Planert

Erfahrungsgeschichte des Krieges

Zu kurz kam bei dieser Sichtweise freilich die Frage, wie die epochalen Umbrüche an der Wende vom 18.  zum 19. Jahrhundert von  der breiten Bevölkerung erfahren und verarbeitet wurden. Von einigen wenigen Studien  abgesehen, wissen wir nicht, wie sich Krieg, Herrschaftwechsel und Systemveränderungen in Bewußtsein und Lebenswelt der »kleinen Leute« niederschlugen. Auch über die Haltung der Gebildeten jenseits der Reformbürokratie ist wenig bekannt. Am Beispiel von Süddeutschland habe ich daher die Wahrnehmung der Kriegs- und Krisenzeit um 1800 in der breiten Bevölkerung untersucht. Gefragt wird dabei nicht nur nach konkreten Alltagserfahrungen, sondern auch nach politischer Loyalität, territorialer Integration, psychischer Krisenbewältigung und nach der Politik des Erinnerns. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Frage nach dem Stellenwert von »Heimat«, »Nation« und »Vaterland« zu. Dabei zeigt sich, daß sich aus der Perspektive 'von unten' das Verhältnis von Eigenem und Fremden, von Freund und Feind sehr viel komplexer und differenzierter darstellt, als es die Texte der bürgerlichen Ideologieproduzenten von Arndt bis Fichte nahelegen -  komplexer auch, als es in der Tradition der borussischen Historiographie zum Teil bis heute ungebrochen fortgeschrieben wird.

Wer sich mit der Kriegs- und Krisenzeit um 1800 beschäftigt, muß sich zunächst von der vertrauten Trennung in die Geschichte der Frühen und der Späten Neuzeit verabschieden, die wissenschaftshistorische und institutionsgeschichtliche, vielleicht sogar sachliche Gründe haben mag, hier jedoch den Blick unangemessen verstellt. Die süddeutschen Territorien waren im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vor allem eins: Gesellschaften im Kriegszustand. Seit dem Ende des 30jährigen Krieges, seit Menschengedenken also, war die Bevölkerung nie wieder so lange und mit solcher Intensität den direkten wie indirekten Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen unterworfen gewesen wie in der rund 25jährigen Kriegsphase zwischen den Revolutionskriegen und dem Ende der napoleonischen Epoche auf dem Wiener Kongreß. Den Zeitgenossen galt die langandauernde Kriegsperiode daher als Einheit und als Epoche sui generis, bestimmte sie doch das Leben ganzer Generationen und prägte sich den Nachgeborenen ein als die Katastrophe schlechthin - jedenfalls dort, wo abseits der offiziellen Erinnerungspolitik nicht die glorifizierende Instrumentalisierung der »Befreiungskriege« einsetzte.

Die Untersuchung der »Übergangszeit« vom 18. zum 19. Jahrhundert aus erfahrungsgeschichtlicher Sicht macht deutlich, daß es notwendig ist, sich von einer Reihe unhinterfragter Annahmen zu lösen, die das Bild dieser Epoche bis dato prägen. Das betrifft die unzulässige Generalisierung preußischer Spezifika ebenso wie die Überschätzung der Reichweite und Wirkungsmacht nationaler Ideologeme und die notwendige Differenzierung der Kriegserfahrungen entlang sozialer  und geographischer Trennlinien.


Letzte Änderung der Seite: 06. 03. 2021 - 00:03