Bey Frankreichs Feier

den 14ten Junius 1790.

Von Demoiselle.

    Genius der Freiheit! Du der glühend
sich ins Herz der Nationen taucht,
wo ein Strahl von Menschenwürde schlummert,
schnell den Strahl in lohe Flammen haucht,

    Wo, an welchem Himmelsfeuer zündest
du die Fackel? – Welche Sonne leiht
ihren Strahl dir, daß von ihm erwärmet
jede Zone dir Altäre weiht? –

    Mächtig zwar rührt auch der liebe Zauber
Menschenseelen, adelt Herz und Muth,
aber selbst der Flammenhauch der Liebe
wird verschlungen von der Freiheit Gluth.

    Wo dein hoher, kühner Flügel rauschet
stehn entschlossen Nationen auf,
fühlen ihre Kräfte, richten muthig
zu des Ruhmes Tempel ihren Lauf.

    Wo du fern bist, ach! Da sinken nieder
zu der Knechtschaft tödendem Gefühl
alle Tugenden der Künste Adel
wird erniedrigt zu des Schwelgers Spiel.

    Gallien, von Dankgefühl durchglühet
bringt dir heut der Huldigungen viel –
Dir o Geist der Freiheit, ihrem Schöpfer
rührt die Freude dort ihr goldnes Spiel.
    
Dort, wo unter dem verhaßten Drucke
weniger Tyrannen, denen nie
Menschlichkeit im Busen schlug, vergebens
nach Gerechtigkeit die Unschuld schrie.

    Dort hebt endlich – so bewegt des Meeres
stillen Spiegel zürnend der Orkan –
die verstummte Menschheit ihre Stimme
hält der Willkühr stolzen Zügel an.

    Freiheit adelt! Und nach ihr zu ringen
ist der Kräfte jedes Edlen werth,
ist auch jedem nicht die Siegespalme
von des Schicksals hoher Hand beschert.

    Sinkt ihr rückwärts vom erstiegnen Gipfel
in der Knechtschaft fürchterlichen Schooß,
jeder Edle wird euch Thränen weihen!
– doch auch dann bleibt, was ihr thatet, groß! –

    Doch hinweg die schwarze Ahndung heute,
wo der Freude süße Thräne rinnt,
wo von hohem Selbstgenosse trunken
dreimal glücklich Frankreichs Bürger sind.

    Unbekümmert ob die Sein’, der Ganges,
ob der Nil durch seine Länder fließt,
nehm ich Theil an jedes Volkes Freude,
das der Freiheit goldnes Glück genießt


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