Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die Poseie der Reformation Teil 4

Die Lyrik, nachdem sie das Rittertum überwunden, ging, ihrem unverwüstlichen Geiste nach, zum Volke, d.i. zum Landvolk, unter Hirten, Jäger, wandernde Handwerksburschen und alle frischen Gesellen, die unter freiem Himmel hantieren. Mit ihrer noch vom alten Minnegesang überkommenen Kunstform aber wandte sie sich zu den Städten, von wo aus zugleich auch die humanistische und klassische Literatur mit eindrang und diesen Übergang noch komplizierter und verwickelter machte. Und so haben wir jetzt einerseits den Meistergesang und andrerseits das Volkslied, ein Geschwisterpaar, dem man jedoch kaum eine Familienähnlichkeit mehr ansieht.

Der Meistergesang ist allerdings aus den letzten halbverschollenen Traditionen des alten Minnegesangs entstanden; doch nur das leere Prachtgerüst ist davon geblieben, alles Ritterliche mit seiner Schönheit und seinen Unarten und Ausschweifungen sorgfältig ausgeschieden. Knapp, ehrbar, nüchtern und pedantisch wie er ist, könnte man den Meistergesang vielmehr eine unbewußte und unfreiwillige Parodie des Minnegesangs, den ins Spießbürgerliche übersetzten Minnegesang nennen. Auch der Meistergesang hat anfangs fast nur religiöse Gegenstände, namentlich den Marienkultus, behandelt, aber grübelnd und karikiert; er sollte die Stelle der alten Asketik vertreten, ohne den alten Heldenmut, der zur wahren Asketik erforderlich, und so wurde er sehr bald lediglich eine Arche der Lutherischen Lehre. Den Gesängen durften durchaus nur Texte aus der Bibel, die bei ihren Hauptsingen jederzeit auf einem Pulte aufgeschlagen lag, untergelegt werden, und jede Abweichung, alle »papistischen« Gedanken und Stellen waren als »falsche Meinungen« auf das strengste verpönt.

Da hiernach das Wesen des Minnegesanges abhandengekommen, so warf man sich nun lediglich auf die Form desselben und übertrieb diese, die ohnehin schon bei den Rittersängern überkünstlich gewesen, bis ins Unglaubliche. Da gab  es zweihundertzweiundzwanzig verschiedene Singstrophen, darunter manche Strophe zu hundert Reimen, es gab einen blauen und roten Ton, eine gelb-Veiglein-Weise, eine gestreift-safranblümleinweis, eine kurze Affenweis, eine Fett-Dachsweis usw.; alles durch die sogenannte Tabulatur in unverbrüchliche Regeln gebracht. Dieses kindische Wesen, wo das Weberschiffchen des Reimes nach vorgeschriebenen Mustern in tausend wechselnden Verschlingungen hin und her läuft, hat die meiste Ähnlichkeit mit der Leinweberei. Und doch, indem es förmlich studiert werden mußte, ist es auch wieder eine Art von Gelehrtenpoesie; um so verkehrter, da die Poeten nicht Gelehrte, sondern Schuster, Schneider, Lohgerber und andere Handwerker sind, die allabendlich vom Schusterschemel ihren hölzernen Pegasus besteigen und nach der Tabulatur zureiten. An den Sonntagen aber nach dem Nachmittagsgottesdienst versammelten sie sich mit Frau und Kindern in der Kirche, im Rathause und zuletzt in den Handwerkerherbergen, um ihr Wochenfabrikat vorzulegen und »Schule zu singen«. Obenan saß da feierlich der Vorstand, das sogenannte Gemerk; die Merker kritisierten und fällten das Endurteil, die besten Gedichte wurden in ein großes Buch zusammengeschrieben, das der Schlüsselmeister aufbewahrte, und wer so glücklich war, einen neuen Ton zu erfinden, ward vom Kronmeister gekrönt oder mit einem Kleinod belohnt.

Manche neueren Literarhistoriker halten dem Meistergesange, wenigstens vom moralischen Standpunkte, eine auffallend warme Lobrede. Wir aber können bloß deshalb, weil er allerdings eine Erfindung der Reformation war, die Philisterei, d.i. das ernste Wichtigtun mit Lappalien, unter welchem Namen es auch erscheine, durchaus nicht als eine würdige und angemessene Abenderholung abgearbeiteter Handwerker anerkennen. Und philisterhaft war dieser Meistergesang, wir mögen ihn nun von seiten des Inhalts oder seitens der Form betrachten. Wir meinen vielmehr, ein Abendgebet, ja selbst eine herzhafte Lustbarkeit nach der Tagesarbeit wäre stärkender und heilsamer gewesen als diese »holdselige« Kunst, die notwendig bei vielen nur ein ganz nutzloses und vergebliches Streben, Autorneid, Eitelkeit und Eigendünkel erwecken mußte. Jedenfalls war es ein schlimmes Zeichen der Zeit, daß diese guten Leute und schlechten Poeten, die doch jeden Pfuscher ihres Handwerks entrüstet aus ihren Zünften stießen, nicht einmal eine Ahnung davon hatten, daß sie selbst die echten Bönhasen der Poesie waren. Der einzige wirkliche Dichter unter ihnen, Hans Sachs, soll freilich selbst eine Unzahl von Meistergesängen verfertiget haben, hütete sich aber wohl, sie in die Sammlung seiner Poesien aufzunehmen.

Diesen poetisierenden Handwerkervereinen stehen die Sprachgesellschaften der höheren Stände ziemlich gleichartig gegenüber. Wie bei den Meistersängern handelt es sich auch in diesen Gesellschaften um die bloße Form; wie jene ihre Töne und Weisen, so haben diese ihre künstlich verschlungenen Beiwörter und eine (wenngleich nicht so benannte) Tabulatur von prosaischen Zwangsregeln und Schäferlichkeiten. Ihr gemeinsamer und sehr zeitgemäßer Hauptzweck war, die verwilderte deutsche Sprache zu reinigen und vom Latein, das allen Ausdruck der Gebildeten an sich gerissen, zu emanzipieren; ihr Vorbild die in Italien zur Veredelung der Vulgarspache bereits seit geraumer Zeit bestehenden sogenannten Akademien. Allein die Italiener griffen dabei auf ihr nationales klassisches Altertum zurück, und da unsere Sprachgesellschaften sich auf dasselbe, hier aber volksfremde Element stützen wollten, so schlug bei ihnen alles in eitel Philologie und Purismus um.

Den Reigen eröffnet die 1617 in Nachahmung der italienischen Akademie della Crusca gestiftete fruchtbringende Gesellschaft (auch Palmenorden genannt), welche erst in Köthen, dann in Weimar blühte und deren erster Vorstand der anhaltische Herzog Ludwig war. Jedes Mitglied sollte dafür sorgen, daß die deutsche Sprache, ohne Einmischung fremder Worte, in ihrem rechten Wesen erhalten werde, und empfing bei seinem Eintritt ein Symbol und Beinamen aus dem Pflanzenreich mit dazugehöriger Devise, z.B. der Herzog Ludwig ein Weizenbrot und die Bezeichnung: der Nährende nebst der Devise: »Nichts Besseres«. Unstreitig hat dieser Orden seinen Zweck noch am besten erfüllt, oder doch wenigstens einige Frucht gebracht, und zwar nicht durch seine poetischen Leistungen, sondern dadurch, daß vorschriftsmäßig vorzüglich nur der Adel darin aufgenommen wurde, welcher damals noch die höhere Bildung repräsentierte und beherrschte und daher allerdings am geeignetsten war, die deutsche Sprache und Poesie wieder in Ansehen zu bringen. Denn während seiner sechzigjährigen Dauer zählte der Orden auf einen König, drei Kurfürsten, neunundvierzig Herzöge, vier Markgrafen, zehn Landgrafen, neunzehn Fürsten, sechzig Grafen, fünfunddreißig Freiherren und sechshundert Adlige kaum hundert Bürgerliche. Doch beschränkte sich die Tätigkeit dieser Herren fast nur auf Übersetzungen, und von ihren eigenen Früchten gibt es wenigstens einen schlechten Beischmack, wenn das fleißigste und gefeiertste Mitglied: Dietrich von dem Werder (der Vielgekrönte) vorzüglich mit seinem »Sieg und Krieg Christi« allgemeine Verwunderung erregte, weil er darin durch hundert Sonette in jedem einzelnen Verse die beiden Worte Sieg und Krieg angebracht.

Wie weitgreifend indes der Impuls dieser Gesellschaft gewesen, zeigt schon der Eifer, womit sehr bald mehrere ähnliche Orden dem aristokratischen Beispiele folgten. So entstand in Straßburg eine aufrichtige Tannengesellschaft, ein Schwanenorden in Holstein durch den Dichter Rist und die deutschgesinnte Genossenschaft in Niedersachsen durch Philipp von Zesen, der so deutschgesinnt war, daß er mit zelotischem Purismus die Natur zur »Zeugemutter«, das Theater zur »Schauburg«, den Vers zum »Dichtlinge«, die Venus zur »Lustinne« oder »Schauminne«, Pallas zur »Kluginne«, das Fenster zum »Tageleuchter«, den Affekt zur »Gemütstrift«, ja sogar die Nase zum »Löschhorn« machte.

Die meiste Ähnlichkeit aber mit den Meistersängern, mit ihrer Formseligkeit, ihrem Bibelpedantismus und der durchaus protestantischen Färbung, hatte der 1644 von Klaj und Harsdörffer gleichfalls in Nürnberg gegründete Blumenorden der Pegnitzschäfer. Auch hier haben wir wieder die alte Kinderei des Nürnberger Spielzeuges, eine ganze Tabulatur von Springreimen, Echos, Bilderreimen, Rückreimläufer, Reimfolgerungen, Menglingsreden, Letterhäufungen und onomatopoetischen Gedichten, die den Gesang der Vögel sowie die Laute der Tiere nachahmen und zeigen sollen, daß selbst die Tiere und Elemente deutsch reden; und Harsdörffer schreibt eine Poetik: den »poetischen Trichter«, um den lernbegierigen Zeitgenossen in sechs Stunden diese deutsche Dicht-und Reimkunst beizubringen. Auch hier hielt man sich, gleich den Meistersängern, an die Bibel, suchte aber dabei, wie in der Religion das Urchristentum, einen angeblichen Urzustand der Gesellschaft herzustellen und die ganze Bibel in eine Schäferei umzuwandeln. Denn die goldgüldene Zeit war: als Adam und Eva alles Vieh der Erde geweidet, die Erzväter waren Hirten, die im kühlen Schatten der Bäume den »wolkenfliegenden Luftpsaltern und Schnabelharfen« den Gesang ablauschten, und David, da er zugleich Schäfer und Poet und gekrönt war, wurde zu ihrem Gesellschafter aufgenommen. Die Gemütlichkeit dieser goldgüldenen Zeit mußte natürlich auch eine Menge poetischer Frauenzimmer in ihren Kreis ziehen, und so gehen denn diese Pegnitzschäfer vergnüglich »durch von der Vögel hellzwitschernden und zitschernden Stimmlein erhallende Wiesen, bei hellquellenden Springbrunnen hin, die durch das spielende Überspielen ihres glattschlüpferigen Lagers lieblich platscherten und klatscherten«. Wie aber diesen Springbrunnen, Vögeln und Lustwandelnden nicht der Atem vergangen, ist schwer zu begreifen, wenn man bedenkt, daß z.B. Birken zum Lobe des Hauses Österreich eine Schäferei von vierhundert Seiten verfaßt, und in seiner »Guelfis« die Ehre des Hauses Braunschweig-Lüneburg nebst der Dannenbergischen Heldenbrut etc. in ein Schäfergedicht verarbeitet hat.

Alle diese Gesellschaften aber hatten, ganz abgesehen von ihren Abgeschmacktheiten, vorzüglich dreierlei eigentümliche Nachteile in ihrem Gefolge. Erstens hatten sie das natürliche Verhältnis von Poesie und Sprache völlig umgekehrt, indem sie die erste lediglich zur Dienerin der letzteren machten. Sodann wurden sie durch die Schonung und Lobhudelei der einzelnen Mitglieder untereinander eine offenbare Schule der Mittelmäßigkeit und brachten endlich das gemeine Sklaventum der Adelsprotektion in die freie Dichtkunst, so daß es das ausdrücklich ausgesprochene Ideal dieser Poeten war, »großer Herren Gunst zu erreichen«.

Und dies führt uns am natürlichsten auf die damalige Hofpoesie, welche jenes Ideal in der Tat glücklich erreicht hat. Das Charakteristische dieser Hofpoeten ist das Hündische, womit sie nach unten bellen und nach oben wedeln. Denn während sie auf die plebejische Schulmeisterpoesie, vor der sie doch nichts als die stärkere Anmaßung voraushaben, voll Verachtung herabblicken, richten sie die ihrige, wie sie selbst sich ausdrücklich rühmen, lediglich zum Dienste hoher Gönner ab, »um deren Verdienste gegen den Neid zu verteidigen und deren Fehler zu beschönigen«. Das Kunststück besteht einfach darin, daß sie die Alltäglichkeiten und verschwenderischen Spielereien der hohen Gönner, ihre Hochzeiten, Hoffeste, Jagden oder militärische Paraden ohne weiteres sehr ernsthaft für Heldentaten ausgeben und ihre fürstlichen Lobgedichte, damals ganz passend »fürstliche Wirtschaftsgedichte« genannt, feierlichst in heroische Gedichte umstempeln. Das sehr unlöbliche Handwerk dieser vornehmen Bettelmuse wird vorzüglich durch drei Koryphäen repräsentiert. Johann von Besser aus Kurland (1654–1729), der als der einzige heroische Dichter Deutschlands bewundert wurde, eroberte durch seinen Heroismus erst in Berlin, dann in Dresden ein ganzes Füllhorn von Gunstbezeugungen, Beförderungen und Dukaten und zuletzt noch, nebst dem Adelsstande, sehr bezeichnend die Stelle eines Zeremonienrates. Sein Nachfolger, der Dresdner Hof- und Zeremonienrat Ulrich von König (1688–1744), den wir bei seinem »August im Lager« schon kennen, setzte das rentable Geschäft fort; und ebenso dichtete sich Karl Gustav Heräus in Wien zu gleichen Ehren und Würden herauf und führte, um die Sache noch feierlicher zu machen, dabei den heroischen Hexameter ein. – Diese ganze Poesie ist eben nichts als Zeremonie. Goethe sagt irgendwo: um mit Erfolg vornehm zu tun, müsse man wirklich vornehm sein; das war aber die feile Gesinnung dieser Poeten keineswegs. Und so waren sie denn überall bloß eine neue Art von Hofnarren und von diesen nur durch gänzlichen Mangel an Witz, durch ihre Perücke und ihren Servilismus unterschieden.

Das Volk selbst wurde von all dieser Poeterei entweder gar nicht berührt, oder wo es zufällig geschah, nur aufs äußerste gelangweilt und nahm sich daher die Freiheit, es besser zu machen und auf seine eigene Weise fortzusingen. Das Volkslied hat allerdings den Grundcharakter aller Lyrik überhaupt; es stellt nicht die Tatsachen, sondern den Eindruck dar, den die vorausgesetzte oder kurz bezeichnete Tatsache auf den Sänger gemacht. Von der Kunstlyrik aber unterscheidet es sich durch das Unmittelbare und scheinbar Unzusammenhängende, womit es die empfangene Empfindung weder erklärt noch betrachtet oder schildernd ausschmückt, sondern sprunghaft und blitzartig, wie sie es erhalten, wiedergibt, und gleichsam im Fluge plötzlich und ohne Übergang, wo man es am wenigsten gedacht, die wunderbarsten Aussichten eröffnet. Das Volkslied mit dieser hieroglyphischen Bildersprache ist daher durchaus musikalisch, rhapsodisch und geheimnisvoll wie die Musik, es lebt nur im Gesange, ja viele dieser Volksliedertexte sind gradezu erst aus und nach dem Klange irgendeiner älteren Melodie entstanden. Hier gibt es keine einzelnen berühmten Dichter; die einmal angeschlagene Empfindung, weil sie wahr und natürlich und allgemeinverständlich ist, tönt durch mehrere Generationen fort; jeder Berufene und Angeregte bildet, moduliert und ändert daran, verkürzt oder ergänzt, wie es Lust und Leid in glücklicher Stunde ihm eingibt. So ist das Volkslied, in seiner unausgesetzt lebendigen Fortentwickelung, recht eigentlich das poetische Signalement der Völkerindividuen. Gleichwie aber Kraft und Ausdruck der Empfindung nicht bei allen Individuen überhaupt derselbe sein kann, so erhält auch das Volkslied bei den verschiedenen Volksstämmen, je nach ihrer klimatischen und geistigen Struktur, seine besondere Physiognomie und Eigentümlichkeit. Wir sind nun zwar keineswegs der Meinung, daß der Volksgesang jemals den ganzen Umfang und Reichtum der Dichtkunst zu umfassen und zu erschöpfen vermöchte; jedenfalls aber ist er der Grundstock aller nationalen Poesie, die in der Naturwahrheit des Volksliedes ihre Wurzel hat. Selbst in ihrer vollendetsten Kunstform, im Drama, klingt bei Calderon die Volksromanze, bei Shakespeare das Volkslied Altenglands fühlbar hindurch.

Die bedeutendste Anzahl der deutschen Volkslieder fällt in das 15. und 16. Jahrhundert, wo die Anfänge der Reformation und die Türkenkriege eine ungewöhnliche Bewegung und somit auch eine erhöhte poetische Stimmung anregten. Ihren Hauptinhalt bilden Natur und Liebe. Ihre Liebe, ohne alle sentimentale Bleichsucht, ist kerngesund, oft derb oder koboldartig neckend, noch öfter fromm und immer treu. Goethe, dessen eigene Jugendlieder durchaus volkstümlich sind, trifft es am besten, wenn er sagt: »Hangen und Bangen in schwebender Pein – himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt, glücklich allein ist die Seele, die liebt!« – Im Naturliede, zu dem wir die zahllosen Jagd-, Hirten-, Räuber- und Wanderlieder rechnen, überrascht uns häufig, wie bei der Kindheit, ein innig vertrauliches Verständnis der äußeren Natur und ihrer Symbolik und der tiefe Blick in die geheimnisvolle Geisterwelt der Tiere. Die Wälder rauschen wunderbar herein, die Quellen weinen mit, wenn der wandernde Handwerksbursch vom Liebchen scheidet, die Wolken bestellen Grüße aus der Fremde in die Heimat, die Nachtigall singt das Unaussprechliche, und das Reh in seiner Einsamkeit hebt die klugen Augen und  lauscht der nächtlichen Klage; alles märchenhaft wie in Träumen. – Die Kriegslieder dagegen, meist »von einem, der dabei gewesen«, schildern nicht die Großtaten einzelner Helden, sondern den frischen Waffenklang der Schlacht und dessen Widerhall im Volke, wie die Schweizerlieder auf die Sempacher und Murtenschlacht; oder sie tönen, gleich Trompetenstößen, die wilde Lust am Soldatenhandwerk aus, wie die zahlreichen Landsknechtslieder. – Ihre Zechlieder endlich, die Weingrüße und Weinsegen, sind weit entfernt sowohl von der forcierten Lustigkeit der modernen Trinklieder als von der feierlichen Ressourcenseligkeit, die das Trinken pedantisch wie ein hochwichtiges Geschäft betreibt. Sie haben vielmehr fast alle etwas »Schwartenhalsiges« und »Schwarakisches«, das mitten im tollsten Jubel keck und ironisch über sich selber lacht; wie z.B. »der liebste Buhle, den ich han, der liegt beim Wirt im Keller, der hat ein hölzin Röcklein an und heißt der Muskateller«, oder: »Behüt dich Gott vor St. Urbans Plag (Podagra), und beschirm mich auch vor dem Strauchen, wenn ich die Stiege hinab muß tauchen, daß ich auf meinen Füßen bleib und fröhlich heimgeh zu meinem Weib und alles das wisse, was sie mich frag. Nun behüt mich Gott vor Niederlag.«

Auch auf dieses reiche Besitztum der Nation kat die protestantische Literarhistorie für ihre Partei ihre breite Hand gelegt, indem sie die Sache so darzustellen sucht, als sei das deutsche Volkslied eigentlich erst durch die Reformation und durch die Ausrottung des »entstellten papistischen Christentums« entstanden oder wenigstens in den rechten Flor gebracht worden. Gewiß hat der erste Beginn der Reformation, wir haben es oben selbst gesagt, eine bedeutende geistige Revolution und diese Revolution eine unverhältnismäßige Menge von Liedern angeregt, gleich wie die Kanarienvögel um desto eifriger singen, je größer der Lärm um sie her ist. So viel sollte indes doch billigerweise jeder Unbefangene wissen, daß grade die älteren Volkslieder, wo also noch die Klänge und Erinnerungen aus der katholischen Vorzeit herüberreichen, die reinsten, harmlosesten, keuschesten und kräftigsten, mit einem Wort: die besten sind, und daß namentlich die Liebeslieder des 15. Jahrhunderts noch häufig an das Minnelied erinnern. Wie aber hat nun die Reformation in ihrem wachsenden Fortgange darauf eingewirkt? Das Volkslied, als unmittelbarer Naturlaut, geht notwendig überall vom Idealen auf das wirkliche Leben, es ist wesentlich plastisch. Die Zeit aber, wie sie durch die fortschreitende Reformation charakterisiert wurde, war vom lebendigen Glauben und von sinnlicher Anschauung gleichmäßig abgewendet und auf theologisch-politische Grübelei oder bloße Moral gewiesen, die durchaus nicht plastisch ist und sich daher nirgend zum Liede eignet. – Das Volkslied bedarf ferner einer allgemeinen Teilnahme der Nation, um durchs ganze Land belebend von Mund zu Mund zu gehn und so durch die Generationen gleichsam immer neu sich selber fortzudichten, wie die englischen Balladen von den Bürgerkriegen und die Romanzen von den Glaubenskämpfen in Spanien. In Deutschland dagegen hatte die Reformation die große Vergangenheit in Verruf getan, sie hatte dem Gottesdienste den Marienkultus, die Heldengestalten der Heiligen, den äußeren Schmuck, kurz: alles poetisch Darstellbare genommen, sie hatte endlich das Volk in zweierlei Nationen zerklüftet, die auf einmal einander fremd, ja feindselig gegenüberstanden. Welche schönen Romanzenstoffe z.B. bot dazumal der Türkenkrieg! Er ließ das fortgrübelnde protestantische Deutschland völlig kalt. Vergebens rüttelte Soliman furchtbar mahnend an den Toren des Reichs und drohte den ganzen Westen in Barbarei zu begraben, vergebens suchte Karl V. Hülfe in dieser entsetzlichen Gefahr; der Reichstag hatte anderes zu tun und formulierte Sittenzensuren gegen Kleider-, Trink- und Spielnarren, als hätte es niemals eine höhere Moral und Sittlichkeit gegeben; man wollte lieber türkisch als katholisch sein. Soll dies die gerühmte damalige Einkehr zur Innerlichkeit sein, so war es wenigstens eine erbärmliche Umkehr von Lieb und Eintracht zu eitel Haß und Eifersucht und Mißgunst.

Wir sagten vorhin, das Volkslied lebe wesentlich in der Gegenwart; wie aber möchte eine Gegenwart, der jene höhere Sittlichkeit und die Nationaltugenden, die allein des Singens wert, abhanden gekommen waren, dem Volksliede ferner herzhaften Klang und Atem geben? Und so verwandelte das letztere, namentlich in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhunderts seine jugendlichlichfrische Physiognomie immer mehr ins Grobe, Platte, Greuliche und Gemeine. Die schönen Hirten-, Wander- und Jägerlieder, die fühlbar nur ein Widerhall des Waldhorns waren, kehren nun altersmüde von den grünen Bergen in die schmutzigen Handwerksstuben und Zechen ein. »Jede Zunft«, sagt Gräter im Bragur, »hat ihr eigenes Ruhm- und Preislied. Man findet der Weißgerber Ruhmlied, der Rotgerber Preislied, das Loblied der Schmiede, der Barbiere und Bader, der Hafner Loblied, der Bäcker Ehrenlied, der Metzger, Weber, Küfner, Wagner und Schneider Ruhmlied, ja sogar die Bauern haben ein solches Ehrenlied ihres Standes. Jedes dieser Lieder fängt mit einer Art von Aufruf an, geht dann in das Lob, die Geschäfte und die widerfahrenen Ehren des Standes über und schließt mit einem allgemeinen Segen für die Zunft oder den Stand, worin die Wohlfahrt in diesem Leben, Gesundheit alle Stund, jedem die schönste Frau auf der Welt, die tausend Gulden hat usw., angewünscht wird.« Hiernach wurde denn auch sehr bald das freie Singen ein Handwerk »professionierter Dichter und Komponisten«, die das Volkslied machen wollten. Es wiederholt sich hier im kleinen der jetzige Gang der deutschen Lyrik überhaupt: wie unter den Gebildeten in die hohe Gelehrtenschule, so wird sie hier in die Trivialschule des Verstandes genommen. Die Phantasie wird vom Verstande korrigiert, das unmittelbare Gefühl redselig eingeleitet und erklärt; anstatt der alten Berggeister, Kobolde und Nixen kommt die wunderlich entstellte lateinische Mythologie, statt des überraschend kühnen und sicheren Wurfs die Allegorie, das Halbwissen und die lehrhafte Altklugheit. Bei dem allmählichen Aufsteigen der neuen Sonne der Aufklärung schwand der wunderbare Morgenduft, die Vögel ließen ihr Singen, die Quellen und Wälder ihr Rauschen, und das Volk schwieg wie blödsinnig vom Sonnenstich. So war in der brütenden Mittagsschwüle das deutsche Volkslied fast überall verhallt, so daß es erst durch Herder in seinen Völkerstimmen von neuem entdeckt und von Görres, Arnim und Brentano wieder national gemacht werden mußte. Nur in den von der Reformation unberührten Landschaften: in Kärnten, Vorarlberg, in Tirol und im deutschen Kuhländchen Mährens hat es sich noch bis heut lebendig erhalten.

Da es nun der Reformation mit dem Volksliede nicht gelingen wollte und konnte, das vielmehr unaufhaltsam immer roher und obszöner wurde, da ferner die Reformation beständig vom Leben auf das Buch, die Bibel, hinwies und zu deren Interpretation der Philologie bedurfte, so trat die letztere jetzt als eine Weltmacht in die Literatur. Es begannen die humanistischen Studien des Altertums, die lateinische Sprache [⇐650][651⇒] wurde die Sprache der Poesie. Dazu kamen die Nachwehen des Dreißigjährigen Krieges, der, als ein eigentlicher Bürgerkrieg, den bloßen Haß zum Feldherrn eingesetzt, mit den Sitten die Sprache verwildert und allmählich die katholische und protestantische Literatur voneinander isoliert hatte; zum großen Nachteile beider. Denn während die katholische Literatur in dem allgemeinen Getümmel sich scheu verbarrikadierte und abschloß, den Protestanten draußen fast gänzlich das Feld überlassend, gingen diese, im Rausch der neuen Ungebundenheit, mit ihren Siebenmeilenstiefeln weit über das vernünftige Ziel hinaus.

Allerdings waren diesmal, was ihnen selten begegnet, die Gelehrten vollkommen in ihrem Recht und Berufe. So konnte es unmöglich bleiben. Der in Unfläterei und Welschtum toll gewordenen Sprache mußte vor allem andern nur erst die Zwangsjacke angelegt werden, wozu der gediegene Panzer der lateinischen Grammatik und Prosodie ohne Zweifel gar wohl geeignet war. Aber die Einführung des Altklassischen ging schulmäßig und schwerfällig vonstatten, während in den Nachbarländern, in Italien, Frankreich und in den Niederlanden schon die emanzipierte Vulgarsprache blühte. Nach deren Beispiele und in dem ganz richtigen Gefühl, daß eine Poesie in toter Sprache totgeboren sei, trat daher nun auch in Deutschland zunächst der Palmenorden nebst seinen Tochtergesellschaften jener lateinischen Pegasusreiterei entgegen; jedoch, wie wir oben gesehen, fast ohne allen Erfolg. Bei weitem wirksamer dagegen zeigte sich, wie immer in solchen Fällen, ein freier Verein einzelner, nur durch gemeinsamen Geist verbundener Männer, den man, von seinem ursprünglichen Vaterlande, die erste schlesische Schule benannt hat, obgleich dieselbe erobernd sich über mehrere benachbarte Provinzen erstreckte.

Die Wirksamkeit dieser Schule war wesentlich eine vorbereitende, ohne selbständigen Inhalt, und daher bloß formell. Der wüste Garten der Poesie sollte zunächst nur von dem überwuchernden Unkraut gereinigt, und da es an einheimischen Blüten fehlte und überdies manche wilde Blume mit dem Unkraut zugleich weggeworfen wurde, einstweilen mit fremden Zierpflanzen bestellt werden. Zu dieser Ordnungsmacherei bedurfte es eines selbstgeordneten Geistes, den kein übermächtiger Trieb verlockte, neue weitaussehende Wege einzuschlagen, für welche die Zeit doch keineswegs schon reisefertig war; es gehörte dazu ein gelehrter Mann mit großer, nach allen Seiten hin [⇐651][652⇒] flexibler Empfänglichkeit und wenig eigener Schöpfungskraft, sorgsam und mittelmäßig genug, um überall vermittelnd aufzutreten und die Mittelmäßigen an seine Fersen zu bannen. Und ein solcher Mann war Martin Opitz, der berühmte Gründer und Führer dieser Schule.

Opitz war ganz und gar ein protestantischer Dichter. Seine außerordentlichen Erfolge verdankt er eben dem zeitgemäßen Unternehmen, die beiden Grundelemente der Reformation, Verstand und Moral, gegen die Phantasie auf die Dichtkunst anzuwenden und sich hierzu der humanistischen Studien zu bedienen, für welche grade der Boden seines speziellen Vaterlandes durch Melanchthons Schüler, Trotzendorf, vorzüglich vorbereitet war, so daß damals mit Recht gerühmt wurde, daß kein deutscher Stamm so viele Gelehrten habe als die Schlesier, und nirgend so viele aus dem Volke die Wissenschaften lernten und verständen. Wer, sagt Opitz selbst:

»nicht scharf und geistig ist, nicht auf die Alten zielt, nicht ihre Schriften kennt, der Griechen und Lateiner, als seine Finger selbst, und schaut daß ihm kaum einer von ihnen außen bleibt, wer die gemeine Bahn nicht zu verlassen weiß, ist zwar ein guter Mann, doch nicht auch ein Poet.«

Wir müssen freilich grade umgekehrt behaupten, daß der gute Mann, und wenn er auch alle Griechen und Lateiner wie seine eigenen Finger kennte, darum doch noch kein Poet wäre. Auch jene Reformation der Poesie durch Verstand und Moral nützt nichts; der Verstand kann ordnen, aber nicht dichten, und die bloße Moral ist kein poetischer Stoff. Es bleibt sonach von aller Poesie nichts als die Form. Und diese war denn auch das Steuer, das Opitz ergriff, um die Poesie aus ihrem bisherigen seichten Fahrwasser wieder auf die hohe See hinauszulenken. Sein von Natur sauberes und delikates Talent führte ihn auf die »Reinlichkeit der Verse und Reime«; er machte zuerst die neue Prosodie: das Gesetz, aus dem Akzent das Maß der Silben zu erkennen, allgemein und für alle Folgezeiten geltend. Ja er gängelte und schulte förmlich die ungeschickte deutsche Sprache an den Mustern der Alten und des modernen Auslandes, indem er Sophokles' Antigone, Senecas Trojanerinnen und mehrere holländische, französische und italienische Dichtungen mit einer für jene Zeit bewundernswerten Meisterschaft übersetzte.

Sein eigentlicher und erfolgreichster Beruf aber war der eines geistigen Vermittlers. Wenn er von den Dichtern verlangte, im Deutschen zu Verfahren »wie die Lateiner mit den Griechen, und die neuen Skribenten (des Auslandes) mit den Alten«, so nötigte er da durch die lateinischen Skribenten Deutschlands, künftig das Altklassische, wie die Holländer, Italiener etc., in ihrer Muttersprache nachzubilden und also eine geistige Durchdringung beider anzubahnen. Indem er ferner die lehrhafte Moral als einen Hauptbestandteil in die Poesie einführte, gelang es ihm, die letztere mit der eifersüchtigen und unduldsamen Theologie sowie mit den praktischen Prosaköpfen zu Versöhnen. Noch wirksamer endlich zeigte sich hier, fast wie bei Goethe, eine gewisse Vornehmigkeit seines ganzen Wesens. Denn er verfertigte zwar ebenfalls eine Unzahl von Gelegenheitsgedichten, aber er verkaufte sie nie, wie die Dichterlinge seiner Zeit, sondern legte vielmehr, wie wir sogleich sehen werden, mit seiner Poesie nach grandioserem Maßstabe einen Großhandel an. Und hiermit stimmt auch vollkommen seine allerdings würdige und höhere Auffassung der Dichtkunst überhaupt, wonach der Dichter mit unverzagtem Gemüt uns das Große und Starke singen soll:

»Poeten sollen mir Bericht von Weisheit geben,
und sagen, wie ich doch in diesem armen Leben
die bösen Lüste fliehn, das Kreuze tragen soll –
O weg mit solcher Kunst, weg, weg mit solchen Sachen,
so die Gemüter nur verzagt und weibisch machen,
die leichtlich, wie man will, durch der Gedichte Schein
und äußerlichen Glanz, zu überreden sein.«

Und so vermittelte er in der Tat durch seinen persönlichen Vorgang den ganz verachteten Dichtern eine neue und würdigere Stellung zur allgemeinen Meinung, die damals eben nur ihre feilen Bettelpoeten kannte.

Diesem nach allen Seiten umblickenden und biegsamen Vermittlertalente entspricht denn auch der moralische Charakter des Dichters, dessen diplomatische Wendungen wir leider nicht, wie wir gern möchten, seinen konziliatorischen Absichten allein zuschreiben können. So läßt er sein schönes, aber stark protestantisch gefärbtes »Trostgedicht in Widerwärtigkeiten des Krieges« über ein Dezennium ungedruckt, um bei Kaiser Ferdinand II. vorher die Lorbeerkrone und den Adelstand zu erwerben. Während er, um nach Wien empfohlen zu werden, für den Grafen von Dohna das zur Katholisierung der Schlesier geschriebene »manuale des Jesuiten Martin Becarus« anonym ins Deutsche überträgt, übersetzt er zugleich für den katholikenfressenden Rat zu Breslau des Hugo Grotius Gedicht »von der Wahrheit der christlichen Religion«; und wendet sich unermüdlich an alle Großen der entgegengesetztesten Parteien, an den Pfalzgrafen Friedrich V. und an Kaiser Ferdinand II., an den Grafen Dohna und an Oxenstierna, an den König von Polen und die Bürgermeister von Danzig, Thorn und Elbing mit überall gleichtönenden Lobgedichten, Dedikationen usw.

Kein Wunder daher, daß auch seine Poesien selbst eigentlich nur ein diplomatisches Werk sind: künstlich, tendenziös, konventionell und geziert. Er dichtete mit dem bloßen Verstande; daher war alles Form und Nachahmung, daher der Bruch mit der Musik, dieser Seele der Lyrik. Am empfindlichsten rächte sich dies natürlicherweise an den beiden lyrischen Polen: in seinem geistlichen und in seinem Liebesliede. In seinen Kirchenliedern, wenn man sie so nennen will, quält sich der Verstand trostlos ab, aus lauter Antithesen, Witz, heidnischer Mythologie und Reinlichkeit der Verse eine fingierte Andacht aufzubauen, die »bei kalter Gottesfurcht sich brennend anstellt«; und es wäre geradezu komisch, sie singen zu wollen. Seine Liebe aber, z.B. in der Schäferei Daphne, ist eben nur ein marmorner Cupido, der aus künstlich verschnittenen Hecken nach gelehrten Herzen zielt und niemals trifft. Er empfand nicht, wenn er sang, und verachtete daher selber, was er sang. Und so zeigt sich bei ihm schon deutlich der Keim jener falschen, selbstmörderischen Theorie, die, um sich vor der gebildeten Welt nicht bloßzustellen, immer das scheinbar ernstlich Gemeinte vornehm wieder desavouiert und endlich bei uns alle Innigkeit und Wahrheit aufzuzehren droht. Hierdurch aber sowie durch seine angebahnte Poetisierung der humanistischen Studien und die übersetzungsfertige Universalität, womit er alles Ausländische zu nationalisieren strebte, ist Opitz in der Tat, zwar nicht der Vater, aber der wichtigste Geburtshelfer der neuen deutschen Dichtkunst geworden.

Was Opitz anstrebte, hat sein Freund, der Wittenberger Professor Buchner, in seinem Wegweiser zur deutschen Dichtkunst (1661) in ein förmliches System gebracht. Der Inhalt dieses poetischen Kanons läßt sich, trotz aller seiner Weitschweifigkeit, einfach in der Souveränetätserklärung des Verstandes zusammenfassen: die Dichter sollen Philosophen sein und ergötzend belehren. Es ist daher nicht gar so erstaunlich, daß er allen Ernstes einen gewissen Kistenmacher über den Homer setzt. Wohin aber dieser Wegweiser führen mußte, zeigt außer dem nüchternen Tscherning und einer zahllosen Menge anderer Opitzianer, deren nähere Bekanntschaft ebenso unnütz wäre als sie selbst, besonders der übermäßig fruchtbare Pastor Johann Rist (1607–67) zu Wedel an der Elbe, welchem nur als ein guter Dichter gilt, wer »auf eine vorgenommene Materie die poetischen figmenta der Alten fein mythologice zu akkommodieren und nach Art derselben, auch der jetzt lebenden rechtschaffenen Poeten, in einer kontinuierenden Allegorie zu schreiben, die Gemüter der Menschen mit zierlichen exclamationen, artlichen prosopopoeien u. dergl. rhetorischen Figuren zu bewegen weiß«. Auch das bezeichnende Vornehmtun gegen die Liebe teilt dieser zu seiner Zeit hochgefeierte Vielschreiber, wenngleich nicht in so feiner Art, mit seinem Meister Opitz. Er schrieb einen Haufen herzloser Liebeslieder, um sie dann, »als sein Verstand kam«, ebenso herzlos zu desavouieren; er stellte die »vermaledeite Fastnachtfeier« ab und enthielt sich der daktylischen und anapästischen Maße, da die andächtige Seele sich nicht mit Hüpfen und Springen, sondern mit Sehnen und Seufzen nach dem himmlischen Jerusalem wenden solle. – Man sieht, die deutsche Lyrik wurde nun teils von einer engbrüstigen theologischen Moral, teils von einer stupiden Gelehrsamkeit, also von einem doppelten Purismus gedrückt, der sie von aller Poesie purifizierte.

Wie aber ein rechter und gesunder Sinn von solchem Unsinn zwar gehindert und beirrt, aber nicht gebrochen werden kann, sehen wir an den beiden einzigen wirklichen Dichtern dieser Schule, an Fleming und Gryphius. Der Sachse Paul Fleming (1609–1640), der durch seine Reise nach Persien seinen Gesichtskreis weit über die Studierstube hinaus erweitert hatte, kehrt aus der gelehrten Fiktion fröhlich zu Natur und Leben zurück, das prätiose Vornehmtun gegen die Poesie verwandelt sich bei ihm in elegische Wehmut über die Unzulänglichkeit des Worts, das auszutönen, was er fühlt; die Liebe, da sie wahr und rein und daher ihrer selbst sich nicht zu schämen braucht, ist innig und oft wahrhaft hinreißend. Er »setzt in vollem Bügel auf das schöne Wesen ein, von dem ihm Daphnes edle Zweige dreimal um sein braunes Haar geschossen«, und erkennt in seiner Poesie den Teil in sich, »der ewig bleibe und frisch, wenn das andere mit dem Besen zusammengekehrt werde«. Fleming hat zuerst das von Opitz künstlich und mühsam gestimmte Instrument wirklich tönend gemacht und schied singend wie ein sterbender Schwan mit seinem schönen Todeslied vom Leben.

Diesem durchaus liebenswürdigen Weltkinde steht der finstere Ernst des Schlesiers Andreas Gryphius († 1664) ergänzend gegenüber. In seinen Oden und den berühmten »Kirchhofsgedanken« hat die geächtete Phantasie plötzlich alle Gelehrsamkeit, Schäferei und fade Zierat vonon sich geworfen und steht fast gespenstisch in der steifleinenen Zeit. Seine ganze Lyrik zieht wie ein Gewitter über die lachenden Gefilde Flemings hinweg; die schöne Erde ist in bleifarbenes Dunkel versenkt und der Himmel darüber drohend und schreckhaft in greller Beleuchtung. Es ist ein religiöses Gemüt, dem die neue Lehre allen milden Trost und Segen der Kirche genommen und das daher nun zürnend an den Fesseln dieses Erdenlebens rüttelt, aus dem es sich ungestüm heraussehnt. Wir haben schon oben beim Drama dieses einsamen Dichters und namentlich seiner bedeutenden Lustspiele gedacht, die hiernach freilich mehr wie ein Werk der tiefen Weltverachtung als der Heiterkeit erscheinen. Und so bewährt sich an ihm wieder die alte Erfahrung, daß in solchen heftigen melancholischen Gemütern Groll und Spott, Zorn und Lachen, Licht und Schatten dicht nebeneinander liegen.

Dieser Charakter führt uns von selbst zu einer zahmeren und abgeblaßten Spielart jener Weltverachtung: zu dem Königsberger Dichtervereine. Simon Dach (1605–1659) ist hier als der eigentliche Mittelpunkt und fast alleinige Repräsentant zu betrachten. Denn Heinrich Albert, Robert Robertin, G. Mylius, Faber und andere, gruppieren sich mehr nur als ein dilettantischer Freundeskreis um ihn her. Bei allen aber ist es mehr oder minder eine Poesie von Kirchhofgedanken, die an pietistischer Hypochondrie dahinsiecht. Sie sangen einander mit Grabesliedern an und glaubten die Zeit ihres Todes vorauszuwissen. Daß Dach wegen seines fast einzigen völlig herzensfreudigen Liedes vom »Annchen von Tharau«, das noch jetzt im Munde des Volkes fortlebt, von den Theologen verketzert und verleumdet wurde, finden wir ganz in der Ordnung oder vielmehr Unordnung der konfusen Ansichten. Verfänglicher aber und schwieriger war die Aufgabe, als er gegen dieselbe sterile Moral die Behauptung verfechten mußte, daß die Poesie überhaupt keine Lüge sei, was sie doch, wenn wir eben Fleming, Gryphius und Dach selbst ausnehmen, damals in der Tat geworden war.


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