Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die christliche Poesie Teil 3

Das Wesentliche der geistlichen Erzählungen, die wir oben als die dritte legendarische Gruppe unterschieden, ist, wie bereits erwähnt, die versuchte Vermittelung oder wohl auch willkürliche Vermischung des Weltlichen mit dem Göttlichen, indem sie entweder Novelle und Profanhistorie unmittelbar an das Kirchliche anknüpfen oder ihre Geschichten, auch ohne solchen kirchlichen Boden, nur durch großartige Züge christlicher Tugenden beseelen. So ist z.B. in dem aus dem 13. Jahrhunderte herrührenden Gedichte »Heraklius« eine ziemlich zweideutige Liebesgeschichte, welche übrigens die Grundlage unserer heutigen Theater-Griseldis bildet, mit dem Feste der Kreuzeserhöhung lediglich dadurch in Verbindung gesetzt, daß Heraklius zu letzt Kaiser wird und als solcher von den Persern das von ihnen geraubte heilige Kreuz wieder erobert. – Das vortreffliche sogenannte »Annolied« (um 1170) enthält, neben dem Lebenslaufe des Erzbischofs Anno von Köln, zugleich auch eine bedeutend konfuse Profangeschichte, insbesondere des Julius Cäsar, der mit seinen »guten Helden aus dem deutschen Lande« den Pompejus in die Flucht jagt. – Hiermit nahe verwandt sind die beiden beinah gleichzeitigen großen Reimchroniken: die sogenannte »Kaiserchronik« und die etwas spätere »Weltchronik« des Rudolf von Ems. Die erstere verbindet, im guten alten Stil, die Legende fast aller Heiligen ebenfalls mit einer verworrenen Profanhistorie, während in der Weltchronik die Geschichte des Alten Testaments bis auf Salomo, zugleich aber die Geschichte der heidnischen Völker sehr anmutig erzählt wird, so daß also hier das Göttliche und Weltliche schon immer weiter auseinanderfällt oder doch, fast unvermittelt, nebeneinander her läuft. Geistlicher, obgleich ohne eigentlich kirchlichen Hintergrund, ist die andere, oben erwähnte Art christlicher Erzählungen, wie der arme Heinrich und der gute Gerhard. Im »armen Heinrich« von Hartmann von der Aue (aus den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts) ist es die rührende Gestalt eines armen, kindlichfrommen Mädchens, die freiwillig in den Tod gehen will, um einen reichen Herrn vom Aussatz zu retten, der nach damaliger Sage nur durch das Blut einer reinen Jungfrau geheilt werden konnte. Der Kranke trägt sein Unglück nicht mit Geduld, sondern ingrimmig und unter ungestümen Verwünschungen, wird aber durch die christliche Liebe und Aufopferung der Jungfrau so erschüttert, daß er sich zu Geduld und Gottergebung wendet, sonach auch ohne Blutvergießen geheilt wird und dem frommen Mädchen endlich seine Hand reicht. – Im »guten Gerhard« des Rudolf von Ems dagegen wird Kaiser Otto der Rote, der sich selbstgefällig seiner guten Werke gegen Gott rühmt, durch das Beispiel anspruchloser Bescheidenheit eines Kölner Kaufmanns zu Demut und Buße bekehrt. – Allenfalls könnte zu diesem ganzen Kreise, wenigstens als letzter Ausläufer, auch noch die Erzählung vom »Herzog Ernst« insofern gerechnet werden, als der Held zur Sühne eines verübten Mordes einen Zug nach Jerusalem unternimmt und in diesem Gedichte dieselbe Verwirrung von historischen Personen und Zeiten sich wiederholt, die wir vorhin im Annoliede und in den Reimchroniken bemerkt haben. Außerdem aber bringt dieser abenteuerliche Ritterpilger auch noch alle phantastischen Fabeln und Wunder des Orients, wie sie in den Kreuzzügen umliefen, aus Jerusalem mit nach Hause. Denn er hat auf seiner Irrfahrt das »Schnabelvieh« der Kraniche, die eine indische Jungfrau entführt hatten, geschlagen, für den König der einäugigen Arimaspen gegen die Völker der Plattfüße und Langohren gekämpft, am Magnetberg des Labbermeeres Schiffbruch gelitten und von dort, in ein Seehundsfell eingenäht, sich durch einen Greifen forttragen lassen. Man sieht, er ist der Übergang und erste Hauptanführer nach dem Lande der ungeheuerlichen Reise- und Lügenpoesie, die in ihrer Übertreibung später ins Komische umschlug und deren wir weiterhin noch besonders erwähnen werden. Was insbesondere jene Reimchroniken wohlmeinend, aber ungeschickt und unkünstlerisch und daher vergeblich erstrebten, eine Vermittelung des Kirchlichen mit dem Weltlichen, ist in den alten Gedichten, welche speziell antike Geschichten und Sagen zum Gegenstande haben, wirklich erreicht worden. Es sind vorzüglich dreierlei Stoffe, die sie behandeln: die wunderbaren Taten und Heereszüge Alexanders des Großen, die Geschichte des Aeneas und der Trojanische Krieg. Alle diese Gedichte haben das miteinander gemein, daß sie nicht aus den klassischen Originalen, Homer oder Virgil, sondern aus mannigfach abgeleiteten Quellen und Volkssagen schöpfen, und daß alle ihre griechischen und römischen Helden in Kostüm, Physiognomie und Reden durchaus deutsch sind. Aber ganz abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, welch ein innrer Abstand dieser Gedichte von unserer modernen Auffassung des Altertums! Während in unseren heutigen Nachbildungen das Christentum, gleichsam verlegen, geblendet und beschämt in der heidnischen Schönheit bis zur Abgötterei aufzugehen pflegt, schreitet dort der Glaube noch geharnischt und unangefochten mitten durch die schöne Fremde, die verlockenden Fernen als eine neue Provinz sich erobernd. Die alten Helden und Halbgötter müssen sich der Feuertaufe unterwerfen, und das Charakteristische jener Gedichte ist eben die Christianisierung des Antiken, eine freie Übersetzung ins Christliche. Am leuchtendsten tritt dieser Charakter grade in dem schönsten und bedeutendsten dieser Gedichte, in dem »Alexander« des Pfaffen Lamprecht hervor. Hier haben wir, anstatt der antiken Ruhe und Selbstgenüge, das überall durchtönende Gefühl von der Vergänglichkeit aller irdischen Größe und Schönheit und daher die Wehmut, das immer weiter und höher strebende Sehnen und zuletzt die Demut, die der Kraft so wohl ansteht; mit einem Wort: alle eigentümlichen Züge eines christlichen Ritters ohne Furcht und Tadel. Wie morgenkühl und taufrisch ist da in dem Briefe, in welchem Alexander seinem Lehrer Aristoteles die ihm zugestoßenen Abenteuer beschreibt, der Wunderwald geschildert, wo beim Rauschen der Wipfel zwischen rieselnden Quellen und Vogelsang hohe duftige Blumen stehen, deren halbaufgeschlossenen Knospen wunderschöne Mädchen entsteigen und ihren lieblichen Gesang mit dem der Waldvögel vermischen. Aber der Sommer gehet dahin: »die Blumen all verdarben, die schönen Mägdlein starben, ihr Laub die Bäume ließen, die Brunnen all ihr Fließen, die Vögelein ihr Singen – die Freuden all zergingen.« Man würde indes sehr irren, wenn man glaubte, daß durch solche zarte Wehmut etwa der Kraft irgend Eintrag geschieht. Vielmehr tut Alexander schon als Knabe, »wenn ihm etwas übel wider seinen Sinn fuhr, wie der Wolf tut, wenn er über seinem Raube steht«, und ficht in den späteren Kämpfen »mit grimmigem Mut, wie der zornige Bär tut, wenn ihn die Hunde bestehen, die er mit den Klauen mag fangen, an denen rächet er seinen Zorn«. Und es ist ebenso groß als wahr, wenn der Held sodann, auf die Frage, warum er als ein Sterblicher die Welt so in Bewegung setze und nicht Mäßigung lerne, den zagen Warnern zur Antwort gibt: »Uns ist von der höchsten Gewalt eingepflanzt, zu üben, welche Kraft wir erhalten haben; das Meer ist dem Winde gegeben, es aufzuwühlen.« Als aber Alexander nun bis an das Ende der Welt gekommen, erfaßt ihn auf dem höchsten Gipfel irdischer Macht der menschliche Schwindel; er will auch das Paradies haben und Zins von den englischen Chören. »Hie muget ir tumpheit horen!« ruft da der Dichter aus. Aber der Held pocht vergeblich an das Himmelstor, die Scharen der Engel beachten es nicht, und der Alte am Tore warnt ihn vor Gierigkeit, denn die Gierigkeit sei der unersättliche Schlund der Hölle. So, von der himmlischen Warnung wunderbar getroffen, kehrt Alexander um und wendet sich fortan von Kampf und Habsucht zur Demut. »Da ward ihm vergeben«, – von der ganzen eroberten Welt aber blieb ihm nichts übrig, als »Erde sieben Schuhe lang, wie dem allerärmsten Mann«. Gedankenarm dagegen und im Grunde nur eine neutralisierende Abschwächung der antiken Größe sind die anderen bis auf uns gekommenen Gedichte dieser Gattung. Demungeachtet  zählen sie noch immer zu dieser Reihe, durch eine traditionelle Erbschaft christlicher Gesinnung und ritterlicher Ehrenhaftigkeit. In der »Eneit« (einer Bearbeitung von Virgils Aeneide) von Heinrich von Veldeke entschädigt wenigstens einigermaßen die Unschuld und Reinheit der irdischen Liebe in den eingeflochtenen Episoden; und Herbort von Fritzlar erklärt in seinem »liet von troje« gleich vornweg, daß er nie einen Mann loben werde, der untreu sei, und ob sich auch alle anderen Tugenden in ihm vereinten. Außerdem aber zeichnet sich die Eneit und insbesondere der »trojanische Krieg« von Konrad von Würzburg durch eine Sprach-und Reimgewandtheit und eine Anmut der Formen aus, die gewissermaßen den Übergang zur höfischen Kunstdichtung, vom alten Epos zum Minnegesange bildet. Die Lyrik ist von aller Poesie die subjektiveste, sie geht nicht auf die gewordene Tat, wie das Epos, und nicht auf die werdende Tat, wie das Drama, sondern auf den eigentlichen tieferen Grund von beiden: auf den inneren Menschen; sie hat es mit der Stimmung und nicht mit der äußeren Manifestation dieser Stimmung zu tun. Wie das Epos die Poesie der Vergangenheit, der Sage und traditionellen Heroengeschichte, so ist die Lyrik, da sie an die Individuen gewiesen, wesentlich die Poesie der Gegenwart und folglich unruhig und wandelbar wie diese; von den Wellen der Zeit erweckt und getragen, gleichsam eine unsichtbare geheimnisvolle Äolsharfe, die von den wechselnden Lüften gespielt wird und einer wunderbaren unendlichen Modulation fähig ist. Sie ist daher auch ihrer Natur nach musikalisch und singbar, und ihr eigentliches Organ ist das Lied. Aus dieser ihrer Eigentümlichkeit aber läßt sich die Geschichte der Lyrik leicht erklären und in wenige Hauptzüge zusammenfassen. Sie kann nämlich hiernach nirgend den Anfang einer Nationalpoesie bilden, wo vielmehr das Epos liegt. Denn die poetische Wahrnehmung des äußerlich Gegebenen, es sei nun Mythe oder historische Tatsache, geht naturgemäß überall der subjektiven Verarbeitung dieses Gegebenen voraus, und es bedarf schon einer weiter fortgeschrittenen Zivilisation, um das Innerliche künstlerisch zu verklären. Auch sind in der Tat die ersten lyrischen Versuche aller Völker, wie namentlich die Schlachtlieder der alten Deutschen, eben nur epische Fragmente und Erinnerungen an die sagenhafte Heldenzeit. Sodann hat die Lyrik diesen idealen Zug nach dem Inneren mit dem Wesen des Christentums gemein. Daher tritt sie überall erst durch das Christentum selbständig und vorwaltend auf, während sie bei den Alten stets nur noch episodisch an das Epos oder Drama, wie eine blütenreiche Liane am Hauptstamm, angelehnt erscheint. Als Poesie der Gegenwart mußte ferner die Lyrik immer mehr aus der klösterlichen Beschaulichkeit in das wirkliche Leben hervortreten, von der Geistlichkeit zu den Laien übergehen und grade in der reichsten Gegenwart, in der ungeheuren Bewegung und Anregung der Kreuzzüge, ihre eigentliche Blütenzeit feiern. Aber diese Poesie war eben darum nicht mehr eine halbhistorische, von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbende Tradition, sondern individuell und persönlich geworden. Und so fiel sie denn auch sehr bald den Rittern anheim, als dem Stande, der das äußere Leben am entschiedensten bestimmte und führte. Daher kommen nun die fahrenden Sänger und Harfner allmählich in Verachtung, wir sehen fast nur adelige Dichter; ja Kaiser, Könige und Fürsten, wie Konrad IV., Heinrich VI., Friedrich II., Wenzel II. von Böhmen, Heinrich der Löwe, verschmähen es nicht, sich den zahllosen Sängern anzureihen. Da jedoch die Ritter an Bildung noch hoch über dem anderen Volke standen, so nahm bei ihnen die Poesie einen fast exklusiven höfischen Kunstcharakter an; und so entstand der Minnegesang. Eben durch ihre subjektive Natur aber ist die Lyrik auch bei den verschiedenen Nationen, die ja in der Weltgeschichte mehr oder minder gesonderte Volksindividualitäten darstellen, verschiedener und bezeichnet jeden besonderen Volkscharakter schärfer als andere Zweige der Poesie. Ja, wir möchten sie in diesem Betracht vorzugsweise eine deutsche Kunst nennen, wegen der größeren Innigkeit, die an der Glätte des Liedes romanischer Völker nirgend recht haften will und doch der eigentliche Grundklang aller Lyrik ist. Diese Innigkeit ist allerdings, wie jedes Talent, ursprünglich eine freie Gabe Gottes, steht aber fortwährend in so lebendiger Wechselbeziehung mit der Geschichte der Nation, daß sich hier Ursache und Wirkung schwer voneinander sondern lassen. Schon das erste Auftreten der germanischen Völker mitten zwischen den vom Morgenrot des Christentums wunderbar beleuchteten Trümmern der alten Welt mußte ihrer an sich ernsten Sinnesart eine tiefere, gedankenvollere Richtung geben. Ebenso wirkten weiterhin auch die Kreuzzüge hier anders ein als bei den anderen Nationalitäten. Denn die romanischen Völker – die Spanier in der Heimat, die Franzosen im Orient – streiften gleichsam im Fluge die Blüten der ersten Begeisterung, ja die letzteren gründeten im Siegesjubel neue Königreiche, die freilich ebenso rasch wieder verschwanden, als sie entstanden waren. Die späteren Kreuzzüge der Deutschen dagegen waren unglücklich und endigten tragisch mit dem Tode eines großen Kaisers. Daher drängten hier die gewaltigen Ereignisse zur Entsagung, zur Wehmut über die Vergänglichkeit aller menschlichen Größe, vom äußeren Ruhmesglanz zum Streben nach innerer Weihe. Es ist hiernach schwer begreiflich, wie in neuerer Zeit von namhaften Literarhistorikern die fröhliche Kunst der Troubadours und Provenzalen so hoch über das deutsche Minnelied erhoben werden konnte. Offenbar hat hierbei der politische Historiker dem poetischen Urteil vorgegriffen. Allerdings glänzten die Troubadours an prächtigen Minnehöfen und bildeten selbst an den Höfen der Könige durch Lob und Tadel eine politische Macht, während die meisten deutschen Dichter in der einsamen Freiheit ihrer Berge und Burgen sangen. Allein Politik und Königshöfe sind nie und nirgend die rechte Schule der Poesie, und so mußte auch hier das, was den deutschen Sängern äußerlich fehlte, innerlich ihrem Liede zugute kommen. Der Minnegesang der Troubadours mag daher immerhin reicher, künstlicher, beweglicher und mannigfaltiger sein; der deutsche dagegen ist bei weitem intensiver, keuscher, inniger, natürlicher und gedankenvoller. Wir finden bei den Troubadours im Grunde schon alle Eigenschaften, die uns bei den heutigen Franzosen, je nach der individuellen Ansicht anwidern oder blenden: Nationaleitelkeit, maßlose Ruhmredigkeit, Frivolität, dialektische Virtuosität und sehr viel Politik. Da aber die Lyrik eben die Geschichte der Seele ist, so entscheidet hier nicht die noch so reich auf der Oberfläche glänzende Äußerlichkeit, sondern einzig die Tiefe, und diese ist ohne Zweifel auf deutscher Seite. Der deutsche Minnegesang ist bereits öfters und treffend mit der Frühlingszeit verglichen worden, die mit ihren Blumen und Vogelsang im Schimmer der ersten Jugendliebe wie eine zauberische Feeninsel unversehens auftaucht. Auch nannten die Sänger sich selbst gern Nachtigallen, und schon Gottfried von Straßburg, dessen wir weiter unten noch besonders erwähnen werden, erkannte freudig an, »daß diese Nachtigallen ihres Amtes wohl pflegten und lobwürdig ihre süße Sommerweise mit lauter Stimme sangen, das Herz mit Wonne füllten und der Welt hohen Mut gaben, die alles Reizes entblößt und sich selbst lästig wäre, wenn nicht der liebe Vogelgesang dem Menschen, dem ja nach Liebe sein Herz stand, die Freude und Wonne und die mancherlei Lust ins Gedächtnis riefe, die edle Herzen beseligt; daß es freundlichen Mut und innigliche Gedanken weckt, wenn der süße Gesang der Welt ihre Freuden zu sagen beginnt.« – Dieser Minnegesang aber war eben nur der Widerklang und poetische Ausdruck des damaligen Lebens, seinen Gegenstand bildeten fast ausschließlich dieselben geistigen Elemente, die auch das Rittertum in seiner schönsten Blüte umfaßte: Gottesdienst, unverbrüchliche Treue im Herren- und Frauendienst und endlich dieser Frauendienst selbst. Außer mehreren Liedern, die von Kaiser und Reich und Lebensmannen handeln, besitzen wir nämlich aus jener Zeit auch viele eigentlich geistliche Lieder von den göttlichen Dingen, unter denen sich besonders die des Minnesängers Spervogel durch ungesuchte Erhabenheit auszeichnen. Ja, eine der musikalischsten Liederformen, die Leiche, ist aus der sogenannten Sequenz des Kirchengesanges entstanden; während späterhin die weltlichen Tage- oder Wächterlieder, wo der Wächter von der Zinne den kommenden Tag verkündet und die Liebenden an das Scheiden mahnt, gleichfalls geistlich umgedeutet wurden. Den bei weitem überwiegenden Stoff des Minnegesanges aber bildete, wie schon der Name andeutet, der Frauendienst. Dieser scheint uns indes keinesweges, wie andere wollen, aus dem mit der zunehmenden Zivilisation wachsenden Bedürfnis der durch Erwerb immer mehr belästigten Männer nach häuslichem Trost und Erholung entstanden zu sein. Ja, unsere sogenannte Häuslichkeit, die sich mit dem Stilleben ihrer Krautgärten begnügt, ist grade ein rechtes Gegenspiel jenes phantastischen Kultus, wo der Rittersänger von Land zu Land schweifend und toastierend, die Dame, die er feiert, oft nicht einmal von Angesicht gesehen hat. Wie hätte auch sonst grade späterhin, als die Sorge des Mannes für Haus und Hof doch offenbar immer lästiger geworden, der fromme, freudige Glaube aber gesunken war, jene Verehrung beinah in rohe Verachtung der Frauen umschlagen und der alte Frauendienst allmählich ganz in Verfall geraten können? Der Frauendienst, in seiner ersten ungetrübten Blüte, wuchs vielmehr lediglich aus der christlichen und also idealeren Auffassung der irdischen Schönheit – die Natur mit ihren Bergen, Wäldern und Vogelsang mit eingeschlossen – und aus dem daraus folgenden Gefühle der unsichtbaren Gewalt, welche die Unschuld und Reinheit dieser Schönheit, die im Weibe ihre höchste Blüte hat, über das zerfahrene Treiben und die verworrenen Leidenschaften des Mannes ausübt. Es ist, wie Gervinus richtig bemerkt, mehr die Verehrung des weiblichen Geschlechts als einzelner Frauen. Daher sehen wir diese Verehrung überall kühn an das höchste Ideal geistiger Schönheit, an die Verherrlichung der Jungfrau Maria geknüpft, als des himmlischen Symbols weiblicher Milde und Reinheit, das seinen überirdischen Glanz verklärend auf alle irdischen Frauen herniederstrahlte. Vergeblich suchen wir in allen anderen Sprachen einen Ausdruck für unsere deutsche Minne, für jene höhere Liebe, »die alle Enge und Weite umspannt; die auf Erden und im Himmel thront, die überall, nur in der Hölle nicht, gegenwärtig ist«. Wir bemerkten schon vorhin, daß die Lyrik, als die spezifisch subjektive Poesie, sich von den Massen auf die Individuen zurückzog und natürlicherweise, namentlich im Minnegesange, eine kunstreichere Form annahm. Doch darf man sich hier die Kluft noch keineswegs so bedeutend denken, wie sie etwa in neuerer Zeit die sogenannten Gebildeten vom sogenannten Volke scheidet. Der Adel teilte noch immer das tiefe Naturgefühl des Volkes und stand im Wissen nur wenig über demselben; Wolfram von Eschenbach selbst konnte weder lesen noch schreiben. Daher sind diese ritterlichen Minnelieder noch ganz frei von aller gelehrten Prätention und Pedanterie, und wurden nicht, wie die späteren Kunstgedichte, deklamiert, »gesagt«, oder gar aufgeschrieben, sondern stets, wie das Volkslied, gesungen; und wer nicht selbst singen konnte, hielt sich sein »Singerlein«, einen Knaben oder Jüngling, der die Weise der Geliebten vorsingen mußte. Und welch ein überreicher Frühling mußte das sein, der so plötzlich ganz Deutschland von einem Ende zum andern durchklungen, da wir, ungeachtet so vieles verlorengegangen, dennoch Lieder von hundertsechzig Minnesängern besitzen. Gleichwie aber die Nachtigallen sich gern und dankbar in schattenreichen Gärten niederlassen, wo ihnen liebreicher Schutz und Pflege geboten wird, so gruppierten sich auch diese Sänger sehr bald um die kleineren deutschen Höfe, unter denen besonders der des thüringischen Landgrafen Hermann und die babenbergischen Herzoge von Österreich durch ihre Kunstliebe und ungemessene Gastfreiheit gegen die Dichter sich unsterblich gemacht haben. Wie rein aber die Saiten dieser Sänger gestimmt sein mußten, zeigt schon der Umstand, daß damals die heilige Elisabeth an der Seite ihres Gemahls zu Eisenach Hof hielt, wo sie von den Flügeln dieses melodischen Gesanges zur göttlichen Minne emporgehoben ward und schwerlich einen störenden Mißklang geduldet hätte. Ein Denkmal jener poetisch bewegten Zeit ist uns in dem Wettgesange übriggeblieben, der von einem späteren Dichter unter dem Namen des Sängerkrieges auf der Wartburg in ein Ganzes zusammengefaßt worden. Dieser Wartburgkrieg ist zwar, wenigstens in seinen hier angeführten Nebenumständen, offenbar nur sagenhaft, beruht aber, wie alle Sage, ohne Zweifel ursprünglich auf historischem Boden. Es scheint in der Tat um das Jahr 1207 ein solches poetisches Turnier auf der Wartburg stattgefunden zu haben, bei welchem Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Heinrich von Ofterdingen, ja sogar ein entschieden mythischer Sänger, der Ungar Klingsor, aus dem Stegreif mitgefochten haben sollen. Manches in dem Gedichte mag vielleicht aus diesem Kampfspiel noch wörtlich übernommen sein, das Ganze, wie es uns hier dargestellt wird, mit seinen rätselhaften Spitzfindigkeiten, macht jedoch einen fast wehmütigen Eindruck, als Nachklang einer großen untergegangenen Dichterzeit, die der neuere Sänger nicht mehr verstanden hat. Zu den frühesten Minnesängern gehören, außer dem schon erwähnten Spervogel, der von Kürenberg, Walram von Gresten, Dietmar von Aist und der im Kreuzheere vor Philomelium heldenmütig gefallene Friedrich von Hausen. Auch die eigentlich erzählenden Dichter: Gottfried von Straßburg, Heinrich von Veldeke, Hartmann von der Aue und Wolfram von Eschenbach mit seinen schönen Tage- und Wächterliedern, reihten sich diesem Frühlingschore an. Der ausgezeichnetste unter ihnen aber ist Walther von der Vogelweide, dessen Gedichte von Simrock trefflich übersetzt und von Lachmann und Uhland vielfach besprochen und erläutert worden sind. Manche neuere protestantische Schriftsteller, wieder einmal die heutige Weltansicht um eine Handvoll Jahrhunderte zurückdatierend, haben ihn vergnüglich zu den Ihrigen zählen wollen. Auch hat er allerdings in seinen Gedichten oft an Papst und Geistlichkeit scharf genug gerügt, was zu rügen war, denn »sie bannten, die sie wollten, und nicht den, den sie sollten; da störte man das Gotteshaus«. Aber man übersieht eben hierbei, oder will vielmehr nicht sehen, daß er überall nur das damalige politische Treiben des römischen Hofes rügt um des Heils der Kirche willen, welcher er getreulich anhing, und ohne Zweifel gegen den neuen Protestantismus mit großer Entrüstung protestiert haben würde. Walther steht schon darum an der Spitze jener Sänger, weil er, fern von aller konventionellen Spielerei, am entschiedensten und männlichsten die dreierlei Elemente umfaßt, die wir oben als das Charakteristische des Minnegesanges bezeichnet haben. Kein anderer sang so rein, so süß und wahr wie Walther von der ewigen Schönheit der Frauen, »wenn lieblich lacht in Lieb ihr süßer roter Mund und Pfeil' aus spielenden Augen schießen in Mannes Herzens Grund«. Dieser liebliche Frauendienst aber ruht bei ihm, wie ein Heiligenbild auf Goldgrund, auf einem tiefen religiösen Gefühle. »Da dacht ich mir viel ange (angstvoll), wie man zu Welt hier sollte leben: und keinen Rat ich konnte geben, wie man drei Dinge erwürbe, der keines nicht verdürbe. Die zwei sind Ehre und fahrendes Gut, das oft einander Schaden tut, das dritte ist Gottes Hulde, der zweien Übergulde; die wollt ich gern in einen Schrein. Ja leider, das kann nimmer sein, daß Gut und weltlich Ehre und Gottes Hulde mehre zusammen in ein Herze kommen. Stieg und Wege sind ihnen benommen, Untreue ist in der Saße (Hinterhalt), Gewalt führt auf der Straße, Friede und Recht sind sehre wund. Die drei zusammen haben kein sicheres Geleite, nur zwei, die werden ehe gesund.« – Ebenso ernst wahrt er in Lied und Tat den Herrendienst, indem er mit unwandelbarer Treue in Glück und Not zu seinen rechtmäßigen Kaisern hält. – Wie wahr und ergreifend endlich ist bei ihm die Wehmut und Klage über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge: »O weh, wohin geschwunden sind alle meine Jahr! hat mir mein Leben geträumt oder ist es wahr? Was ich je wähnte, daß es wäre, ist das icht (etwas)? Darnach hab ich geschlafen und ich weiß es nicht. Nun bin ich aufgewacht, und mir ist unbekannt, was einst vertraut mir war wie meine andre Hand. Leut und Lande, da ich von Kindheit bin erzogen, die sind mir fremd geworden, als wär es all erlogen. Die mir Gespielen waren, die sind träge und alt, und öde liegt das Feld, verhauen ist der Wald – nur daß das Wasser fließet, so wie es weiland floß –, wie ich gedenke manchen wonniglichen Tag, der mir zerronnen ist, wie in das Meer ein Schlag: Immer mehr o weh!« Und mit dieser Klage wollen wir von jenem lieblichen Reich der Liederträume Abschied nehmen. Der Frühling ist längst verrauscht, und ein scharfer trockener Herbstwind streift über das verwandelte Land. Aber wem erwecken solche ferne Klänge, wie das Alphorn dem Schweizer, nicht noch heut ein wunderbares Heimweh nach seiner stillen harmlosen Jugendzeit, deren Erinnerung in jedem gesunden Herzen unvergänglich ist. Die Poesie hat, wie jedes geistige Leben, ihren notwendigen Entwickelungsprozeß, der sich, weil er der natürliche ist, bei allen Völkern wiederholt. Die erste jugendlich frische, fast noch kindliche Anschauung der Welt erzeugt das Epos. Diese Anschauung, je lebendiger sie ist, weckt indes sehr bald ein nach den verschiedenen Individualitäten verschiedenes Interesse und Mitgefühl an dem großen Sagenstoff; die Poesie wird eine mehr innerliche und wesentlich lyrisch. Eine solche bloß experimentale und vorbereitende Trennung der beiden ursprünglichen Grundelemente aller Poesie kann aber nirgend von Dauer sein und strebt unablässig nach Wiederversöhnung. Und diese Vermittelung ist eben das Wesen des Dramas, wo das lyrisch Subjektive, ohne sich selbst aufzugeben, in der darzustellenden Handlung wiederum objektiv wird. Man begreift hiernach leicht, daß schon das bloße Bedürfnis solcher Vermittelung einen höheren Grad, wir möchten nicht sagen, menschlicher Bildung, sondern künstlerischer Ausbildung und Reife voraussetzt als jene Vorbereitungszeit. Daher erscheint auch das Drama, gewissermaßen Epos und Lyrik in ein Ganzes zusammenfassend, überall zuletzt. Daher hat das Mittelalter eigentlich noch gar kein Drama; wohl aber schlummern in diesem großen Völkerfrühlinge schon alle verhüllten Keime dazu, welche bei den Völkern des Abendlandes das Christentum allmählich ins Leben rief, nachdem die Alten ihren künstlerischen Zyklus geschlossen hatten, und das klassische Drama in der allgemeinen Fäulnis längst in sich selbst zerfallen war. Das Drama ist überall, bei den Alten wie bei den neueren Völkern, religiösen Ursprungs und aus dem natürlichen Bedürfnis hervorgegangen, den religiösen Kultus durch Wechselgesänge zu feiern, zu beleben und zu erläutern. Das Drama ist ferner, seiner Natur nach, in seinen ersten Anfängen durchaus tragisch, die versuchte Darstellung des Konfliktes zwischen Subjektivem und Objektivem, des unvergänglichen Kampfes der in der Menschenbrust begründeten Sehnsucht und Forderung des Ewigen und Unendlichen gegen die begrenzenden Schranken des Endlichen. Wo aber, auch vom bloß künstlerischen Standpunkt betrachtet, fände wohl die Poesie in der ganzen Weltgeschichte einen so tief tragischen Stoff als im christlichen Glauben? Was waren den Alten ihre wetterwendischen Götter mit ihren menschlichen Launen und Tücken, ihr Ajax und Hektor gegen die einzige Heldengestalt Christi, wie Er, in jenem ungeheueren Kampfe des Unendlichen mit dem Irdischen allen voranschreitend, zuletzt verkannt, verraten und von allen verlassen in furchtbarer Einsamkeit durch alle Grauen und Schrecken des Todes geht, um das arme Menschengeschlecht aus seiner uralten Knechtschaft zu befreien! Und so ist denn diese große Welttragödie auch wirklich der Ausgangspunkt und erste Gegenstand unseres Dramas; ja die Kirche selbst vermittelte den Übergang. Es ist bekannt und von anderen bereits hinreichend nachgewiesen, wie dramatisch bald im Anfange der christliche Gottesdienst sich gestaltete. Die ganze christliche Weltansicht von Erschaffung der Welt bis zu Christus war durch korrespondierende Wechselgesänge und mimisch-plastische Darstellungen schon in der zwölfstündigen Urliturgie angedeutet, deren tiefe Symbolik, in ihre Hauptzüge zusammengedrängt, uns noch bis heute in dem heiligen Meßopfer aufbewahrt ist. Fast ebenso alt war die Sitte, während der Passionszeit die Leidensgeschichte Christi in der Kirche aus den Evangelien vorzulesen, wobei die Reden Christi von dem Priester, dagegen die Reden der Apostel, des Herodes, des Pilatus, der Hohenpriester und des jüdischen Volkes von verschiedenen Personen vorgetragen wurden. Es ist aber natürlich, daß man hierbei in den Text der Evangelien, teils zur Erläuterung, teils zur Verstärkung des Eindrucks, sehr bald Versifikation, kirchliche Traditionen, ja sogar Rezitative und einzelne Gesangstücke mit einwob, während schon im 12. Jahrhundert ein Kostüm der Vortragenden und höchstwahrscheinlich auch eine Art von Aktion hinzukam. Auch diese Anfänge aber nahmen in nächster Folge denselben Gang, den wir oben bei der Legende bemerkten. Erst war Christus, seine Geburt, sein Wandel, sein Leiden und sein Sieg der einzige Gegenstand und alles streng an die Evangelien angeschlossen; später aber wurden allmählich auch einzelne Momente und Gestalten des großen Weltdramas, wie die Jungfrau Maria, die Heiligen und Märtyrer, zum Gegenstande eigener Darstellungen gemacht. So entstanden die ersten christlichen Dramen, die Mysterien; und aus ihnen – da die Aufgabe, das Übersinnliche darzustellen, nur annähernd und sinnbildlich gelöst werden kann – die wesentlich allegorischen Moralitäten, wo Feld und Wald, die einzelnen Seelenkräfte, die biblischen Gedanken, ja der Gedanke selbst, neben historischen Personen, wie eine wunderbare Hieroglyphenschrift, redend und handelnd auftraten. Und so lebenskräftig und unversehrt war damals noch der Glaube, daß es keineswegs zu Ärgernis und Störung, sondern durch den Gegensatz vielmehr nur zur Verstärkung des Eindrucks gereichte, als nach und nach auch derbe Scherze und komische Zwischenspiele eingeschoben wurden, in denen besonders ein Marktschreier, der an die zum Grabe wallenden Frauen Salben und Spezereien verkauft, und der um die falschen Silberlinge schachernde Judas die Lieblingsrollen übernehmen mußten. Die Spur dieser geistlichen Dramen läßt sich mit Sicherheit bis in das 4. Jahrhundert verfolgen, aus welchem ein aus dem Griechischen übersetztes Passionsspiel, angeblich von dem Kirchenvater Gregor von Nazianz, bis auf uns gekommen ist. Auch aus dem 9. Jahrhundert, wo sie wahrscheinlich unter Karls des Großen geistreicher Mitwirkung allgemeiner wurden und wobei besonders der Abt Angilbert tätig war, besitzen wir noch ein lateinisches Drama in Versen über die Geburt Christi, und aus dem 10. die sechs legendarischen Moralitäten der Benediktinernonne Roswitha (Helene von Rostow im Kloster Gandersheim am Harz). Im 12. Jahrhundert aber sehen wir schon in den meisten großen Städten eigene Brüderschaften zur Aufführung von Passionsspielen sich vereinigen; so in Rom die del Gonfaloni, die der Batutti in Treviso, und 1404 die Confrèrie de la Passion in Paris. Während also Mysterium und Moralität hiernach im Süden und Westen Europas, sowie in England, schon einen Zyklus stehender Vorstellungen bildeten, der sich den Festen des Kirchenjahres anschloß, scheinen sie in Deutschland erst im 14. Jahrhundert sich allgemein verbreitet zu haben. Wenigstens erhalten wir wunderlicherweise durch Eulenspiegel die früheste Andeutung davon, welche aber zugleich beweist, wie bald das geistliche Schauspiel hier national geworden, indem dort von einer solchen Vorstellung auf einem Dorfe die Rede ist. Die erste Aufführung dagegen, von der wir bestimmte Kunde haben, ist ein Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen, welches 1322 die Predigermönche in Eisenach gaben und das den Markgrafen Friedrich von Meißen so gewaltig ergriff, daß er in tiefem Hinbrüten vom Schlage gerührt wurde. Dem gottesdienstlichen Ursprunge und Charakter entsprach auch die ganze äußere Erscheinung dieses Schauspiels. Gleich den Liturgien, aus denen sie hervorgegangen, bestanden sie in lateinischen Rezitativen, erst später wurden zur Erklärung und Erweiterung des Bibeltextes gereimte Verse in der Landessprache eingeschoben und gesprochen. Die Schauspieler waren Geistliche, der Schauplatz die Kirchen oder, wenn diese nicht Raum genug boten, die Kirch-und Klosterhöfe. Die Bühne selbst aber hatte gewöhnlich drei Stockwerke übereinander, von denen das obere und untere Himmel und Hölle, das mittlere die Erde vorstellte. Das gesamte Personal stand oder saß im Halbkreise auf der Bühne in der jedesmaligen Tracht der Zeit, nur Gott Vater, die Engel und Apostel in priesterlichen Gewändern, Christus als Bischof. Alle intonierten vor Beginn des Schauspiels das: veni sancte spiritus, worauf der »expositor ludi«, als Heiliger oder wohl auch als der »alte Heidenmann« Virgilius, mit den nötigen Aufklärungen über Zeit, Ort und Gegenstand das Spiel eröffnete und überhaupt die Stelle des Prologs und Chorführers vertrat, während die andern, wenn die Reihe an sie kam, aus jenem Halbkreise vortraten und dann wieder dahin zurückkehrten, die Chorknaben aber die geistlichen Zwischengesänge ausführten. Die Vorstellung, meist an den Nachmittagen, dauerte oft mehrere Tage (Tagewerke) und bedurfte besonders in der späteren Zeit eines sehr zahlreichen Personals; ja ein im Jahre 1498 zu Frankfurt gegebenes Passionsspiel hat nicht weniger als zweihundertfünfundsechzig Personen. Wie volksmäßig aber diese Stücke geworden, bezeugt schon der Umstand, daß sie, gleich dem alten Epos, nicht aufgeschrieben wurden, sondern als Nationalgut traditionell von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbten. Daher sind auch, außer einigen Oster- und Heiligenspielen, grade von den gangbarsten, den Passionsspielen, bis jetzt nur drei vollständige Texte aufgefunden, während wir von anderen lediglich einige sogenannte Spielbücher besitzen, welche bloß im allgemeinen den Gang des Stückes und die Anfänge und Stichworte der Reden angeben. So waren denn also auch auf diesem Gebiet schon früher die Fundamente zu einem kühnen Münsterbau gelegt, der alle mannigfaltigen Erscheinungen des Lebens symbolisch erfassen und sehnsüchtig bis zum Kreuze emporranken sollte. Allein der Bau blieb unvollendet, wie die meisten Münster. Nur in dem tiefernsten Spanien, das bis in die neuere Zeit für seinen Glauben ritterlich gefochten, hat das Mysterium in Calderons Autos seine künstlerische Vollendung und Verklärung erlebt. Warum es aber in Deutschland sich nicht ebenso naturgemäß fortentwickeln konnte, sondern mit seinem ersten, fast rätselhaften Rohbau abschloß, werden wir weiterhin Gelegenheit genug finden, näher nachzuweisen.


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