Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands

Die christliche Poesie

Die alten Mythologien waren, bis auf einige vorgreifende Ahnungen und Lichtblicke, wesentlich auf das Diesseits beschränkt, ihre Götter waren potenzierte Menschen oder Naturkräfte. Daher ist auch die alte Poesie, als der Reflex dieser religiösen Anschauungen, im Homer wie in den altdeutschen Heldenliedern, sinnlich, klar und rein menschlich. Als aber das Christentum das irdische Dasein in geheimnisvollen Rapport mit dem Jenseits gesetzt und jene zerstreuten Ahnungen als Vorzugsweise berechtigt in einen leuchtenden Brennpunkt zusammengefaßt hatte, so entstand auch sofort eine entsprechende Poesie des Unendlichen, die das Irdische nur als Vorbereitung und Symbol des Ewigen darzustellen suchte. Diese christliche Poesie ist daher übersinnlich, wunderbar, mystisch, symbolisch; und das ist eben der unterscheidende Charakter des Romantischen.

Die sogenannte klassische Poesie der Alten verhält sich zu der romantischen ungefähr wie die Plastik zur Malerei. Dort die Schönheit der menschlichen Gestalt versteinert und das tote Auge; hier das rätselhafte Spiel des Lichts in wunderbaren Farben und das lebendige Auge, durch das man in die geheimnisvollen Abgründe der Seele schaut. Wahrheit ist in der alten wie in der romantischen Poesie, aber dort die sinnliche, endliche, hier eine übersinnliche, überirdische Wahrheit. Daher macht die praktische Sicherheit, heitere Genüge und abgeschlossene Vollendung jener alten Poesie überall den befriedigenden Eindruck eines in ihrem beschränkten und klar umschriebenen Kreise fertigen Ganzen, wie denn auch wirklich seit den Griechen weder in der Plastik noch in der antiken Dichtung, trotz aller Vorliebe und Anstrengung, etwas Besseres oder auch nur Neues erfunden worden ist. Das eigentliche Wesen aller romantischen Kunst dagegen ist das tiefe Gefühl der Wehmut über die Unzulänglichkeit und Vergänglichkeit der irdischen Schönheit und daher eine stets unbefriedigte ahnungsreiche Sehnsucht und unendliche Perfektibilität. Ihr ernster Geist ist, wie schon oft bemerkt, am deutlichsten in der sogenannten gotischen Baukunst ausgeprägt, wo die Gedanken mit allem irdischen Blütenschmuck aus der Tiefe sehnsüchtig zum Kreuze emporpfeilern in kühnen Bogen und Münstern, die fast niemals fertig geworden.

Derselbe Geist hat auch das Rittertum geschaffen, auf dem die christliche Poesie des Mittelalters ruft. In gleichem Sinne, wie einst Schlegel die altdeutsche Baukunst eine versteinerte Musik genannt, könnte man das Rittertum die Musik des Heldenlebens nennen, die starre Memnonsäule heidnischer Jugend, die, vom Morgenrot des Christentums berührt, melodischen Klang gab. Der altgermanische Heldensinn hatte sich vor der wachsenden Zivilisation auf die natürlichen Felsenburgen Skandinaviens zurückgezogen und nachdem er dort in der Einsamkeit der freien Gebirge sich neu gestählt, seinen bewaffneten Weltgang angetreten. Als geborene Seekönige umschifften die kühnen Normannen alle Küsten von Norwegen und Island bis nach Italien und Sizilien, überall die schönsten Provinzen Europas sich erobernd, weniger aus Bedürfnis als aus romantischer Lust an Kampf, Gefahr und Abenteuer. Hier nahmen sie indes sehr bald mit aller Herzensfreudigkeit der Jugend das Christentum auf, und das Christentum vergeistigte ihnen dafür das ganze Heldenleben. Denn das altheidnische Heldenleben beruhte im Grunde doch nur auf materiellem Egoismus, auf der Freiheit und Verherrlichung der menschlichen Leidenschaften, der unbedingten Selbsthülfe, der Geschlechtsliebe und der Rache, die jederzeit blutdürstig ist; ein Zustand, der lediglich durch das Riesenhafte der Naturgewalt groß wird und erschüttert, wie Sturm, Gewitter oder Meeresbrandung. Das alles aber verwandelte nun das Christentum, ohne es abzuschwächen, indem es das Heldenleben nur anders motivierte, vorzüglich durch die tiefere Bedeutung, die es der Liebe und der Ehre gab. Die irdische Liebe verklärte sich in dem Bilde der heiligen Jungfrau, deren Himmelsglanz auf die irdischen Frauen zurückstrahlte und den ritterlichen Frauendienst durchaus mystisch gemacht hat. Ebenso wurde die Ehre eine moralische Macht, indem die Kraft und Tapferkeit nicht mehr um materiellen Gewinn oder Weltlob, sondern opferfreudig auf dem Felsen der Armut nur um Gottes willen kämpfen sollte; und Roland, obgleich bei Roncesvalles besiegt und getötet, ward dennoch als Sieger gefeiert, weil er für den Glauben gefallen. Es war eine allgemeine Idealisierung des gesamten Lebens, das sich kühn ein höheres Ziel gesteckt hatte.

So ging das Rittertum, dessen eigentliches Symbol das Kreuzesschwert ist, vorzüglich von Frankreich Über ganz Europa aus, aber nicht von den Franzosen, sondern von den in Frankreich angesiedelten Normannen. Jene höhere Weihe des Rittertums aber in seinen allgemeinen großen Umrissen manifestierte sich in zwei welthistorischen Erscheinungen, in den Kreuzzügen und in den geistlichen Ritterorden, und am glänzendsten und dauerndsten in Spanien, wo in dem beständigen Kampfe gegen die Mauren eigentlich die ganze Nation ein einziger geistlicher Ritterorden war. Und dieser wesentlich tragische Doppelgeist des Rittertums, die gewaltige Naturkraft und die freiwillige Demütigung vor einem Höheren, mit einem Wort: das durch das Christentum verklärte Heldenleben ist denn auch der eigentliche Gegenstand der Poesie des Mittelalters, die fortan jeden weltlichen Kampf mehr oder minder zum Kreuzzuge gestaltet.

Alle Poesie nimmt ihren Ursprung aus der Sage. In der Sage aber sind die produktiven Seelenkräfte eines Volkes, Verstand, Phantasie und Gefühl, alle Blüte künftiger Bildung, wie ein Märchen, noch ungetrennt in einer gemeinsamen Knospe, wunderbar verhüllt und abgeschlossen. Die Sage wird, wie ein Naturprodukt, nicht erfunden, sie ist nur der innerliche Reflex der Erlebnisse eines Volkes, ihre Lapidarschrift sind die Taten dieses Volkes, welches sie poetisch nachträumt. Die Sage ist also ganz objektiv und führt daher einerseits zur Geschichte, die noch halb erdichtet, und andrerseits zum Epos, das noch halb historisch ist. Und gleich wie in der Sage auch die Götter-und die Heldenwelt noch nicht voneinander geschieden sind, so wiederholt sich derselbe Organismus auch im Epos; und in dem ältesten nordischen Heldengedichte, in der Edda, erscheint Odin zugleich als Gott, König, Held und Seher.

Das Epos ist sonach überall die früheste Dichtungsart oder vielmehr die poetisch verklärte Sage selbst. In der altdeutschen Heldenzeit unterscheidet man aber vorzüglich drei verschiedene Sagenströme, die im nationalen Epos ausmünden. In dem ersten und ältesten dieser Ströme vernehmen wir noch deutlich den gewaltigen Wogenschlag der Völkerwanderung, auf ihm kommen noch Heiden und Christen, der mythische Siegfried, die fränkischen, gotischen und burgundischen Helden Dietrich von Bern und die Wölfinge, Gunther, Gernot, Gieselher, Hagen und Volker, der Hunne Etzel, die normännischen Seekönige sowie die langobardischen Recken Rother, Ortnit, Hugdietrich und Wolfdietrich waffenbrüderlich dahergefahren. Exklusiv christlich dagegen und schon in entschiedenem Kampfe mit dem Heidentum begriffen zeigt sich der zweite Sagenkreis, welcher die Geschichten Von Karl dem Großen, seinen Paladinen und deren Heldenfahrten gegen die Mauren umfaßt. In dem dritten Fabelkreise endlich, vom König Artus, von seiner Tafelrunde und dem heiligen Gral, ist das Heidentum schon fast überwunden, auf dessen Trümmern nun das neue christliche Rittertum aufgebaut wird; und der Inhalt dieses merkwürdigen Sagenkreises ist es insbesondere, der mit dem Tiefsinn und der strengen Kühnheit seiner Grundzüge überall an den wunderbaren Geist der altdeutschen Baukunst erinnert.

Aus dem ersten, umfassendsten Sagenkreise treten vorzüglich zwei leuchtende Gestalten, und zwar zu nächst erst einzeln in das Gebiet des Heldenliedes heraus, gleichwie beim wachsenden Morgenrot die höchsten Gebirgsgipfel aus der alten Nacht. Der eine ist der »hürnin« Siegfried, wie er, von dem verräterischen Schmiede in den Wald nach Kohlen geschickt, dort Riesen und Drachen erlegt, die schöne Kriemhild aus dem Drachenstein befreit und den verborgenen Schatz des Königs Nibelung erhebt. Der andere, Dietrich von Bern (Verona), kämpft in »Eckens Ausfahrt« mit dem Riesen Ecke, der in weiten Sprüngen wie ein Leopard durch den dichten Wald hinsetzt, daß sein Helm wie eine Glocke klingt und das Wild und Waldgevögel überall erschrocken auffährt und ihm verwundert nachschaut; und als Dietrich dann in dem endlich Überwundenen den starken Riesenhelden erkannt, gräbt er selbst ihm ein ehrlich Grab, dem Toten »Gnad dir Gott, lieber Ecke« nachrufend. Ebenso ficht Dietrich im »Laurin« gegen den durch einen Zauberring geschützten Zwergkönig Laurin, der in Tirol in einem schönen Rosengarten die aus Steiermark von ihm entführte Jungfrau Similde bewacht, und zuletzt, nachdem in einem furchtbaren Kampfe sein ganzes unterirdisches Zwergvolk erschlagen, in Verona die christliche Taufe empfangen oder nach einer andern Erzählung als Gaukler sein Brot verdienen muß.

Der eigentliche Hauptinhalt dieses ganzen Fabelkreises aber ist zusammengefaßt in dem Nibelungen-Epos, das in seiner frühesten, verlorengegangenen Gestalt wahrscheinlich zu den von Karl dem Großen gesammelten Heldenliedern gehörte. Und an diesem wunderbaren Gedicht läßt sich auch der allmähliche Übergang vom Heidnischen zum Christentum, wenngleich nirgends ausdrücklich und absichtlich ausgesprochen, selbst in seiner gegenwärtigen Fassung noch deutlich erkennen. Dieselben Gestalten nämlich, die wir in den vorhin erwähnten zerstreuten Heldenliedern wie einzelne Felsenkuppen hervorragen sahen, Siegfried, Dietrich von Bern, Kriemhild und Brunhilde, finden wir auch im Nibelungenliede wieder, welches jenen altheidnischen Heimatsboden, auf dem es ruht, noch überall stillschweigend als wohlbekannt voraussetzt. Die Verteidigung und Verherrlichung des Christentums ist noch nicht die ausschließliche Aufgabe des Heldenlebens, die christlichen Helden verkehren noch als getreue Waffengenossen am Hofe des heidnischen Königs Etzel, »der jedem nach seinen Taten lohnt«. Aber die Physiognomie der Helden, der Gegend und Kämpfe, die ganze unsichtbare Atmosphäre, ist bereits wesentlich eine andere geworden. So hat der Dietrich der alten Sage noch durchaus etwas Elementarisches, z.B. in dem grausenhaften Kampfe mit Ecke, oder wenn er, vom Zwergkönig Laurin in einer unterirdischen Höhle gefangen, durch seinen zornigen Feueratem Fels und Bande sprengt und endlich im Tode von Geistern in eine unbekannte Wüste entführt wird. Vollkommen mythisch, ja siderisch, erscheint dort auch der ursprüngliche sagenhafte Siegfried als leuchtender Frühlingsgott, der auf prächtiger, aber kurzer Heldenfahrt alle schlummernden oder gebundenen Kräfte von den Ungeheuern und finstern Mächten der alten Nacht befreit; und seine furchtbar schöne Erdenbraut Brunhilde als eine von einem Flammenwalle eingeschlossene Walküre.

Man fühlt schon bei oberflächlicher Vergleichung, das ist derselbe Abgrund, den auch das Nibelungenlied vor uns auftut und aus dem besonders der grimme Hagen noch als starre Felsenzacke hervorragt; nur daß hier schon einzelne Streiflichter des Christentums wie Blitze einer Gewitternacht, alles anders, fast gespensterhaft beleuchten. Die wilde Blutgier, womit z.B. der hürnin Siegfried in seinem Kampfe mit dem Riesen dessen klaffende Wunden mit den Händen auseinanderreißt, ist hier schon an die furchtbare Tugend einer unerschütterlichen Treue geknüpft in dem finstern Hagen, der den Siegfried und seine liebsten Waffengenossen erschlägt, bloß weil er Brunhildens Dienstmann ist. Der schöne Siegfried selbst tritt aus seiner Götterdämmerung, die Walküre Brunhild aus den Lohen ihres Feuerwalles in die menschliche Heldenwelt hervor. Mit einem Wort: die Drachen, Lindwürmer und alle Schrecken der alten Naturgewalten verwandeln sich hier in das Dämonische in der Menschenbrust; aber alles, Tugend, Haß, Eifersucht und Rache, ist noch ungeheuer und riesenhaft, und deutet, wie mit blutigem Finger, auf seinen Ursprung zurück. Und eben an dieser noch ungebändigten Naturkraft, dem hereinbrechenden Christentum gegenüber, geht in der erschütternden Schlußkatastrophe, die vom Anfang an wie ein langsam steigendes Gewitter drohend über allen hängt, das ganze Heldengeschlecht unter, gleichsam der Zusammensturz der alten Heidenwelt. Es ist ein wahrhaftes Weltdrama, die großartigste Tragödie, welche die deutsche, ja die europäische Literatur überhaupt aufzuweisen hat.

Zugleich zeigt dieses Gedicht am deutlichsten den volksmäßigen Gang der alten Poesie. Es ist organisch aus einer allmählichen Gruppierung der einzelnen Heldenlieder, wie sie damals noch von Mund zu Mund gingen und von denen neuerdings Lachmann zwanzig entdeckt und bekanntgemacht hat, wie ein Strom aus seinen Waldquellen entstanden und wahrscheinlich erst zu Anfang des 13. Jahrhunderts von einem unbekannten Meister in seine gegenwärtige Fassung gebracht worden. Leider ist dasselbe auch in dieser Fassung, ohne philologische Vorbereitung, noch immer eine Art Runenschrift und daher dem größeren Publikum unzugänglich. Simrock hat in seiner noch unübertroffenen Übersetzung die schwierige Aufgabe gelöst, das große Freskobild, wo es im Verlauf der Jahrhunderte nachgedunkelt, für unser verwöhntes Auge wahrhaft künstlerisch zu restaurieren, ohne die eigentümlich nationalen Grundzüge zu verwischen.

Bei weitem näher schon steht unserer christlichen Anschauungsweise das Lied von Gudrun, welches Kaiser Maximilian I. in einer Abschrift auf Schloß Ambras der Nachwelt aufbewahrt hat. Was im Nibelungenliede kaum nebenher erst angedeutet ist, wird hier zur Hauptsache. Das christliche Element, das wir dort nur in einzelnen Morgenblitzen erkannten, hat hier bereits über Freud und Leid seinen milden Glanz verbreitet; vor allem durch die ganz veränderte Auffassung des Frauencharakters, der hier die wildschöne Waffenpracht abgelegt hat und zum erstenmal in rührender Demut strahlt. Gudrun ist mit dem Könige Herwig verlobt, wird aber von dem Normannenkönig Hartmut entführt und in der Fremde, weil sie in unwandelbarer Treue dem Räuber ihre Hand verweigert, von dessen Mutter Gerlinde als Magd gehalten und schimpflich mißhandelt. Demungeachtet sucht sie, als sie dann endlich durch ihren Verlobten mit Hülfe ihres Bruders wieder befreit wird, großmütig die Ermordung der bösen Gerlinde auf alle Weise zu verhindern; und ihr Bruder Ortwin, obgleich er sie unbewacht am Meeresstrande gefunden und sofort auf seinem Schiffe zurückführen könnte, sagt ritterlich: »Was mir im Sturm des Kriegs ist abgenommen worden, das will ich heimlich nicht entwenden, und eh ich heimlich stehle, was ich mit Waffenkampf erringen muß, eher mögen, hätte ich hundert Schwestern, sie hier alle sterben!« – Der wunderbare Gesang, womit im Eingange um Gudruns Mutter geworben wird, so wie Gudruns Heimweh am Seegestade des Normannenlandes, gibt fühlbar dem Ganzen schon einen durchaus romantischen Klang; und wenn das Nibelungenlied in eiserner Konsequenz mit den Schrecken der Rache schließt, endigt hier alles in Versöhnung und Frieden.

Zu diesem ersten großen Sagenkreise – wenn wir, wie billig, nicht die dabei beteiligten Volksstämme, sondern Stoff und Geist allein in Betracht ziehen – müssen endlich auch noch König Rother, die Rabenschlacht (Ravennaschlacht), eine versuchte Nachahmung des Nibelungenliedes, sowie Otnit, Hug- und Wolfdietrich und der Rosengarten, auf den wir weiterhin noch einmal zurückkommen, gerechnet werden. Die drei letzteren Gedichte, nebst dem schon oben erwähnten Laurin, bilden das sogenannte Heldenbuch, wo die Recken bereits allmählich von ihren Bergen in die Studierstube herabsteigen und zu Buch gebracht werden. Hier ist nicht mehr das Abenteuer um des Helden willen, sondern der Held um der willkürlichen Abenteuer willen, und immer ferner und verworrener schon verklingt das alte Heldenlied, um endlich in vielfachen Umarbeitungen bis zum Bänkelsängertone herabzusinken.


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