Frau von Sarverne

1817.

Der amerikanische Krieg hatte England gedemütigt und den Ruhm der französischen Waffen hergestellt, ganz Frankreich jubelte und besang die Weisheit seines Königs Ludwig des Sechzehnten. Weil das weibliche Geschlecht dort etwas mehr als in andern Ländern an den öffentlichen Angelegenheiten teilnahm, so wurde auch manche Frau von der Begeisterung für den König ergriffen, nur hielt sich diese mehr an die Gestalt und Person als an die Weisheit, die nur eine allegorische Figur sein kann. Es war nichts Seltenes in Frankreich, des Königs Brustbild, mit Blumen geschmückt, wie einen Hausgott in den Schlafzimmern reicher Frauen zu finden, wo sonst nur Haubenstöcke und Modepuppen gesehen wurden. Allmählich war dieser Enthusiasmus, wie alles in der unruhigen, tadelsüchtigen Hauptstadt verschwunden; der König wurde um schlechtes Wetter, verdorbenes Mittagessen und langweilige Liebhaber verlästert, erst schwanden die Blumen, dann wurden die Brustbilder als Haubenstöcke gebraucht, bald erschienen Karikaturen, während entferntere Provinzen noch in Ehrfurcht und Bewunderung zu dem fernen Könige verharrten. Niemand war so eifrig in ihrer Verehrung wie Frau von Saverne, die reiche Witwe eines päpstlichen Beamten zu Avignon. Als eine geborne Französin – sie war Tochter des reichen Seidenfabrikanten Lonny in Lyon – hatte sie das Recht, in dem Könige den Landesvater zu ehren; sein Brustbild war ihr höchster Schatz, zum Ärger des Beichtvaters, der lieber das Bild ihres Schutzpatrons an die Stelle gesetzt hätte. Sie vergaß alle Freunde und Verehrer bei dem Wunsche, in Paris die Strahlen der königlichen Huld in der Nähe mitzugenießen. Vergebens suchte ihr Beichtvater diesen Entschluß zu hindern, er sprach zu ihr von der Neigung seines damals abwesenden Bruders, des päpstlichen Hauptmanns, aber Frau von Saverne wollte wenigstens einmal den König sehen, sie glaubte sonst nicht ruhig leben zu können und meinte, der Wunsch sei so unschuldig, so natürlich, und wenn sich andre Frauen der Gegend nach Paris begäben, um dort ungezwungen mit Liebhabern zu schwärmen, so sei es wohl ihr vergönnt, der reinsten Schwärmerei etwas zu erlauben, welche die Anhänglichkeit an den Vater ihres Vaterlandes erzeugt habe. Der Beichtvater aber blieb dabei: kein Mensch müsse in guter Absicht nach Paris gehen, sonst werde er betrogen; habe einer etwas Böses vor, nun, so fände er da seinen Spielraum.

Unterwegs erinnerte sie sich oft des Gesprächs und mußte des Erbfeindes von Paris lachen, der, ohne sie zu kennen, eine halbe Million Menschen verdammte; aber unangenehm blieb ihr immer sein letztes Wort, als sie des Königs Büste sauber einpackte: «Jetzt beschweren Sie ihren Wagen mit dem Bilde, und werden die Kiste sorgsam wie ein Kind auf ihrem Schoß wiegen, aber wenn Sie zurückkommen, nehmen Sie kein Geldstück mit dem Bilde ohne Schauder in die Hand; so werden Sie Ihre Lust büßen.» Aber sie schob das alles auf den Ärger, den der Mann empfunden, daß sie ihr dortiges Vermögen einkassiert habe, statt es dem Kloster zu vermachen, noch mehr auf den Verlust des guten Tisches in ihrem Hause. Am verdrießlichsten war es ihr, daß er ihrem Mädchen abgeredet hatte, sie nach der Frevelstadt zu begleiten; sie mußte nun eine Pariserin mitnehmen, welche gleichfalls den Wunsch gehegt hatte, dahin zurückzukehren. Dies Mädchen hieß Manon, war längst über die Jugend hinaus und hatte im Auslande die Kinderlehrerin gespielt; sie wußte viel von ihren Schicksalen zu erzählen, aber es war immer, als ob der Faden fehlte, der all das Seltsame verbinden sollte; Frau von Saverne konnte ihr nicht recht vertrauen. Übrigens wußte das Mädchen in Paris Bescheid, nannte die Straße, durch welche sie einfuhren, ließ den Wagen bei einem Hotel stillehalten, wo die Wirtin sie freundlich bewillkommte, auch sogleich die gewünschte Wohnung einräumte. Ehe noch die schwere Schatulle und die Büste, auch alle andre mitgebrachten Sachen aufgestellt worden, wollte Frau von Saverne nach den Tuilerien eilen, unter Führung ihrer Wirtin, um keinen Augenblick zu verlieren, wo sie vielleicht den geliebten König erblicken könne. Als die Wirtin diesen Grund ihrer Reise herausgebracht hatte, schüttelte sie mit dem Kopfe und versicherte, bei ihnen stände kein Mensch mehr auf, wenn er warm säße, um den König zu sehen; er hätte dies und jenes getan, könne auch wohl noch dies und jenes tun. Frau von Saverne verstand keinen Scherz über so etwas, sie gebot ihr zu schweigen, aber die Frau lachte höhnisch und versicherte, sie werde den König doch nicht sehen, denn er sei in Versailles. Kaum hatte die gute Saverne das gehört, so eilte sie mit Ungeduld, Pferde zu bestellen, und trotz dem Verdruß ihrer Kammerjungfer reiste sie nach Versailles noch an demselben Tage, nachdem sie eine Monatsmiete der Wirtin geschenkt hatte. Sonderbar war es ihr, daß ein Reiter den Wagen bis nach Versailles begleitete, den niemand kannte und der auch mit ihr an demselben Hotel abstieg; inzwischen war ihr manches wichtiger, doch behielt sie sein Gesicht in Gedanken. Die Leute in dem Hotel kamen ihr in seltsam neugieriger Art entgegen, sie schienen zu wissen, daß sie den König sehen wolle, und sagten ihr, daß er wegen Unwohlsein jetzt selten den Garten besuche. Sie beklagte mit Lebhaftigkeit seine Krankheit; die Leute lächelten und sagten, es habe keine Gefahr. Frau von Saverne fand den Ort reizend und ganz nach ihrem Geschmacke; sie sprach davon, sich da anzukaufen, besah Häuser in der Nähe des Schlosses, war aber verwundert, daß keiner der Besitzer mit ihr einen Handel eingehen wollte, obgleich sie ansehnlich über den wahren Wert bot. Ihre Lebensweise richtete sie sehr einfach ein; die Buchhandlungen lieferten ihr einen Reichtum an Büchern über die Geschichte Frankreichs und des letzten Krieges, die Wirtin sorgte für ihren Tisch, die Kammerjungfer blieb ihre einzige Gesellschaft, da sie bei ihrem verstorbenen Manne, der sehr einsam lebte, sich des Umgangs entwöhnt und am wenigsten Verlangen danach in der Fremde hegte, die ihr Beichtvater als höchst verderbt und betrügerisch schilderte; morgens waren es die Bücher, nachmittags der Schloßgarten, der sie anzog und beschäftigte.

Da im Garten eben eine neue Terrasse angelegt wurde, so waren stets viele Arbeiter versammelt, die einmal in den Ruhestunden miteinander über ihre Geschicke sprachen, als Frau von Saverne in der Nähe auf einer Bank saß. Sie hörte, wie der eine die Gefahren beschrieb, welche er als Gefangener im letzten Kriege unter den Wilden überstanden, und wie er nun für das alles keinen Lohn empfange. Das ergriff sie; sie trat zu dem Manne, drückte ihm ein Goldstück in die Hand und sagte: «Euer gerechter König wird für Euch sorgen, nehmt indessen die Kleinigkeit an!» – Der Mann dankte und sah ihr verwundert nach, und die nächsten Tage fand sie sich von manchen Arbeitern um Geld angesprochen, die alle ihre Taten im Kriege und ihr Unglück berichteten. Sie gab jedem etwas gegen die Erinnerungen ihrer Kammerjungfer, welche alle die Leute Lügner schalt. «Hätten sie auch gelogen», sagte Frau von Saverne, «wozu gab mir der Himmel Vermögen und einen genugsamen Sinn, wenn ich meinen Überfluß nicht verschenken dürfte?» Die Kammerjungfer klagte, daß sie auf diese Art ihr Vermögen verschwenden würde, doch Frau von Saverne verwies sie auf den Spruch der Bibel, daß jeder sich Freunde machen müsse mit dem ungerechten Mammon, damit er aufgenommen werde in den ewigen Hütten. – « Ich sehe Sie schon in einer Hütte, in einer recht armseligen Hütte noch hier auf Erden!» antwortete das vorwitzige Kammermädchen. Allmählich wurde der guten Frau das Einreden dieser Person unleidlich, sie sollte fort, behauptete aber, sie könne nicht fortgeschickt werden; auch brachte sie einen Polizei-Offizianten zu ihr, der versicherte, das dürfe nicht vor dem Ablauf einer gewissen Zeit geschehen, da sie keine gegründete Ursache zur Klage habe. Frau von Saverne kannte die Gesetze nicht, der Polizei-Offiziant war ein Musterbild aller grobdreisten Gemeinheit, die damals noch den meisten anklebte, die sich zu dieser widerlichen Beschäftigung hergaben; sie beschloß aus Furcht vor den Ungezogenheiten des Mannes, die Zeit geduldig abzuwarten, obgleich sie ihr sehr lang wurde.

Das Mädchen war noch in ihrem Dienste, als es hieß, der König werde an einem Abend zum ersten Male den Garten besuchen, um seine Herstellung zu feiern. Das war ein Tag der Freude; Frau von Saverne schmückte die Büste des Königs am Morgen und war nachmittags die erste in der Nähe der Türe, aus welcher der König heraustreten sollte. Bald sammelten sich Leute, und sie bemerkte in ihrer Nähe eben den Menschen, der sie von Paris nach Versailles begleitete, dessen hähernes Gesicht mit ungeheurem Munde ihn einem Nußknacker ähnlich machte; sie mußte ihn späterhin immer so nennen. Die Schweizer gaben das Zeichen, daß der König komme, Frau von Saverne beugt sich vor und wird von einigen weitergestoßen, in dem Augenblicke aber von dem Nußknacker zurückgerissen, mit dem Bedeuten, es sei einer Frau nicht anständig, sich dem Könige so in den Weg zu drängen. Sie antwortet, aber der Mann zieht sie unerbittlich fort, während die Menge ihr Vive le Roi! schreit und der lang ersehnte Anblick ihr auf diese Weise entzogen wird. Die Menge folgt jetzt unbändig dem Könige, der Augenblick ist versäumt, kaum kann sie ihre Tränen mäßigen, sie fühlt sich gekränkt und wird von mehreren Leuten, die sich zu jenem gesellten, noch verspottet. Als sie trostlos nach Hause kam, fand sie einen Unglücklichen, der ihr Mitleid ansprach, weil sie wegen ihrer Milde bekannt sei, er im Kriege ein Bein verloren habe und sich jetzt in seinem Handwerk niederlassen und heiraten wolle, sie möchte ihm ein Kapital leihen, er bringe ihr die besten Zeugnisse über seinen Fleiß und sein Geschick. Sie vergaß ihren Gram, meinte, daß sie zu dieser Wohltat von dem Feste in höherer Fügung entfernt worden sei, und gab dem Menschen tausend Livres mit der Erinnerung, es ihr ohne Interessen wieder zu zahlen, wenn er einmal sich reich gearbeitet hätte, heute aber dem Könige zu Ehren ein Glas zu trinken, da er dessen Herstellung die Wohltat danke. Der Mann wollte ihr zu Füßen fallen, aber sie sprang in ihr Schlafzimmer. Gleich darauf hörte sie ein heftiges Zanken im Vorsaale, die Kammerjungfer rang mit dem Stelzfuß und schrie immer, ihre Herrschaft habe nichts zu verschenken, sie sei unter Aufsicht; bald kam auch der Polizei-Offiziant und suchte das Geld zu nehmen. Frau von Saverne trat hinaus und sprach für den Stelzfuß; die Leute gaben auch nach, aber sie wurde so fremdartig angeblickt, daß sie bald betroffen auf ihr Zimmer ging und des Beichtvaters, sie wußte nicht warum, denken mußte. Sie betete an dem Tage sehr viel und mußte sich wieder über das Kammermädchen ärgern, die ihr auseinandersetzte, sie möchte lieber eine Komödie des Molière zu ihrer Zerstreuung lesen, lieber zweitausend Livres für ein gesticktes Kleid als eintausend an Arme ausgeben.

Am nächsten Tage trat der Nußknacker in einem gerichtlichen Kleide mit einem anderen Manne herein, der sie halb lächelnd, halb scheu ansah. Er sagte ihr, daß er vom Gerichte abgeschickt sei, Erkundigungen über ihr Vermögen einzuziehen, weil mehrere Anzeigen gegen sie eingelaufen wären; der andere tat, als ob er ihre Hand küssen wolle, befühlte ihr aber den Puls. Befangen und überrascht setzte sie keinen Zweifel in die Richtigkeit des Geschäfts, und da ihre Angelegenheiten sehr einfach waren, so konnte sie dem Antrage mit einer leichten Übersicht ihrer Papiere genügen. Nachher wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen, doch brachte der andre die Rede auf den König, und sie verhehlte nicht in ihrer südlichen Lebhaftigkeit, welche große Erwartungen sie noch für das Wohl ihres Vaterlandes von der Güte und Einsicht des Königs hege. Die beiden Leute sahen sich bedenklich an und nahmen dann Abschied mit der Versicherung, noch an dem Tage wiederkommen zu wollen. Nach Tische wollte Frau von Saverne den gewohnten Spaziergang nach dem Schloßgarten unternehmen, aber vor der Tür kam ihr der Nußknacker allein entgegen und versicherte, sie müsse sogleich in den Wagen steigen, den er eben habe kommen lassen, um dem Gerichte noch selbst Rede und Antwort zu geben.

Vergebens wandte sie ein, daß er keinen schriftlichen Befehl bringe, daß sie ihm ohne einen solchen und ohne Beratung mit einem Advokaten nicht folgen werde; er drohte, sie mit Gewalt fortzuschaffen, wenn sie die Güte nicht benutze. Bei dieser Drohung ergriff er ihre Hand, sie schrie um Hilfe, es eilten mehrere herbei, aber auch der Polizei-Offiziant trat hinzu. Einige der Umstehenden sprachen für sie, aber sobald der Nußknacker ihnen etwas zugeflüstert hatte, traten sie mit Achselzucken zurück; sie bat flehentlich alle, ihr nur zu sagen, was man mit ihr beginne. Als sie die Umstehenden so jammernd anredete, daß vielen die Tränen in die Augen traten, packte der Polizeimann sie um den Leib, um sie in den Wagen zu tragen, wobei ihm der Nußknacker sogleich beistand. Die Indignation aber gab der kleinen Frau eine seltene Kraft, sie rang, alles wurde ihr zur Waffe; unter dem Zujauchzen des Volks waren die beiden Feinde blutig gezeichnet zurückgeschlagen, und sie trat erschöpft, atemlos taumelnd in ihr Zimmer zurück. Aber fremde Männer sprangen bald in ihr Zimmer und blieben da, ohne ein Wort auf ihre Fragen zu antworten, verließen sie auch nicht, als es Nacht wurde. Jetzt bedauerte sie, keine Bekanntschaft gemacht zu haben, sie rief nach dem Wirte, niemand kam; sie wollte hinausgehen, wurde aber von den Männern mit Achselzucken zurückgewiesen. Sie zog sich nicht aus, sie schrieb einige Briefe an den Beichtvater und an väterliche Verwandte nach Lyon, die Briefe waren unverständlich, denn sie wollte ihre Lage nicht deutlich machen, nur ihre Freunde reizen, ihr zu Hilfe zu kommen; ja sie wußte eigentlich selbst nicht, in welcher Lage sie sei, und wessen man sie beschuldige. Ehe sie die Briefe beendete, fuhr ein Wagen vor, es stiegen Männer aus, kamen zu ihr und banden sie mit seltsamen Binden, während sie bemerkte, daß einer ihre Schatulle nahm, ein anderer ihre Schränke verschloß und ihre Briefe durchlas. Sie wollte schreien, aber im Augenblicke war ihr der Mund zugebunden. Nun gab sie allen Widerstand auf, ein Schleier deckte ihre Augen, sie wurde in einem Männermantel die Treppe hinuntergetragen und in einen Wagen gesetzt, der dann in gewaltiger Eile mit ihr fortrollte. Die Ermattung versenkte sie oft in Schlaf, aber das heftige Stoßen des Wagens erweckte sie wieder, doch konnte sie nicht berechnen, wie lange sie gefahren, als der Wagen stillehielt und sie mehrere Treppen hinauf in ein Zimmer getragen wurde, wo alle Binden ihr abgenommen und ihr ein Bett in der Nähe von zwei andern Bettlagern angewiesen wurde, aus denen seltsame, überkluge weibliche Gesichter hervorstierten. Sie fragte, wo sie wäre? Niemand antwortete; mit bedeutender Gebärde verwies man sie zur Ruhe. Darauf wurde sie mit den beiden andern allein gelassen, die nun anfingen zu reden und dreist behaupteten, sie sei am Hofe, wobei sie sich ihrer Anstellung freuten. Am Morgen faßte sie sich im Gebet, bezwang ihre Heftigkeit, suchte ihre Klugheit obenauf zu bringen und war sehr gefaßt, als derselbe fremde Herr eintrat, der damals mit dem Nußknacker sie besucht hatte. Von seinen Begleitern wurde er Doktor genannt, diese sahen aus wie Schüler, welche sich vor Kranken ein Ansehen von Erfahrenheit geben wollten. Der eine trat zu ihr und fragte: ob nicht der König der schönste Mann in ganz Frankreich sei? – Sie antwortete: «Nicht nur der schönste, sondern auch der beste, aber er hat viele schlechte Diener.» Als sie das gesagt hatte, winkte der Doktor; sie wurde von starken Männern in ein Rad gesetzt und schrecklich gedreht, daß sie zu sterben meinte. Kaum herausgebracht, fragte man sie wieder nach dem König, da antwortete die Erschöpfte: «Er kann seine vielen Kinder nicht schützen, Gott sei uns gnädig!» Es hat schon geholfen, sagte der Doktor, fahren Sie alle Tage so fort, der Wahnsinn ist durch die sitzende Lebensart, politische Schwärmerei und unbefriedigte Liebe entstanden. Nun stürzte die unglückliche Frau jammervoll zusammen, sie sah, daß sie des Wahnsinns beschuldigt worden, daß ihr darum Vermögen und Freiheit genommen. Wer hatte diese Gerüchte verbreitet? Sie dachte umsonst nach, doch fiel ihr die boshafte Kammerjungfer ein; oder strebte jemand nach ihrem Vermögen? Sie bemerkte bald aus dem Reden der läppischen Schüler des Doktors, daß ihre Verehrung für den König den Schein gegeben, daß ihre Freigebigkeit ihn vermehrt und ihre Einsamkeit jedermann darin bestärkt hatte. Aber war es denn nicht möglich, alles dem Doktor deutlich vorzustellen? Sie versuchte es oft, aber kaum hatte sie einige Worte gesprochen, so lächelte der Doktor selbstgefällig und schickte sie in das schreckliche Drehrad. Ihr Mut wuchs mit der Verzweiflung, kein Drehen vermochte mehr ihre laute Anklage zu ersticken; sie wurde in Wasser getaucht, nichts überwand ihre Klage über Grausamkeit; der Doktor erklärte den Schülern, die Frau sei unheilbar und sprach dabei recht herzliche Worte voll Mitleid über ihren Zustand aus. Sie konnte ihm nicht zürnen; er wäre vielleicht ein tüchtiger Vieharzt gewesen, das böse Geschick hatte ihn über Menschen gesetzt. Mit Schauder sah sie den Folgen dieser Erklärung entgegen; eine ewige Gefangenschaft schien ihr bevorzustehen, und schon jetzt entbehrte sie aller Bequemlichkeiten und wurde nur spärlich und schlecht genährt. Der Entschluß, ihrem Leben ein Ende zu machen, reifte in unsäglicher Seelenangst; sie stützte eben tiefsinnend ihren Kopf mit beiden Händen, als eine fremde und doch bekannte Stimme sie erschreckte. Sie fuhr auf; es war der Nußknacker, der, wie er sagte, dem Interesse nicht länger widerstehen konnte, sie zu sehen. Er bedauerte ihr Schicksal, sie faßte Vertrauen und bat ihn um ein Mittel zum Retten; er warf hin, daß es nur eines gebe, wenn sie ihn heiraten wolle; der Polizeichef und der Doktor wären seine Freunde und beide gute dumme Teufel, er könne sie zu allem bereden, ihre Schönheit habe ihn bei dem ersten Anblicke gerührt. – «Und mein Vermögen?» fragte, ihm Hoffnung gebend, die Schlaue, um nur zu wissen, wo es bliebe. – «Ihr Vermögen», fuhr er fort, «setzt mich in den Stand, mein unangenehmes Geschäft aufzugeben.» – «Ich kann nicht leben in Paris, mir ist hier zu Schreckliches begegnet», sagte die Frau von Saverne, «kommen Sie mit mir nach Avignon; haben Sie wohl von Petrarks Höhle gehört?» – Der Nußknacker schrie in Wonne auf, der Süden sei seine Sehnsucht, und Petrark sein Liebling. – Frau von Saverne war erfreut, sie schlug ihm vor, dort ihre Vermählung zu feiern, aber er müsse auch den Doktor bereden, sie dahin zu begleiten, da er eigentlich unwissend ihre Vereinigung bewirkt habe. Der Nußknacker erklärte sich zu allem bereit, er rechnete ihr vor, welch ein Haus sie machen könnten, denn er hatte ihr Vermögen genau untersucht; er war so eitel, daß er nicht glauben konnte, eine solche Frau wolle ihn täuschen. – Bald holte er Frau von Saverne als gänzlich unheilbar fort – aber nicht in das Haus für die Blödsinnigen führte er sie, wie er vor den Leuten sagte, sondern nach Versailles, daß sie ihre Sachen durchsehen und alles schnell zusammenpacken könnte.

Sie fand alles wieder, nur nicht ihre Schatulle; sie packte alles ein, nur nicht die Büste der Königs, die sie ohne ein inneres Schrecken nicht anblicken konnte. Ihr Vermögen, meistens sichere Papiere, hatte der Nußknacker zu sich genommen; dies verhinderte sie an der Ausführung ihres ersten Planes, gleich ohne ihn zu entfliehen, aber es machte auch ihre Rache vollständiger. Schon nach einer Woche kam der Nußknacker mit dem Äskulap und zeigte sich bereit zur Fahrt; der letztere eignete sich ihre Herstellung als eine Nachwirkung seiner Heilmethode und des herrlichen Drehrades zu, das er als seine Erfindung ihr anpries. Sie dankte und versprach ihm zum Lohne in Avignon das schönste Los aus dem Glücksrade: eine junge, reiche Schwägerin. Übrigens sah sie bei der Abreise genau zu, wohin ihre Schatulle gestellt wurde, und ließ sie selten aus den Augen. Unterweges unterhielt sie sich in größter Ruhe über die Polizei; der Nußknacker setzte ihr gleichgültig auseinander, daß diese Gewalt seit dem Sinken aller Verfassung als die einzige Macht im Staate anzusehen sei, daß selbst der Herrscher nur so lange bestehe, als sie es wolle, alle Wirte, alle Bediente und Kammermädchen wären in deren Solde. Die Eröffnungen beängstigten die arme Frau von neuem; wie ward ihr so wohl, als sie das päpstliche Wappen wieder erblickte, als sie in ihrem Hause wieder abgestiegen war. Ihre Begleiter mußten in ihrem Hause wohnen, sie versicherte verschämt, daß sie noch heute mit ihrem Beichtvater reden wolle, um ihre Hochzeit zugleich feiern zu können. Der Nußknacker sang die lieblichsten Arien in seliger Erwartung, er kam sich selbst wie ein Petrarka vor und sprach nur von seiner Laura; er kümmerte sich nicht mehr um die Schatulle, welche sogleich in Sicherheit gebracht wurde. Als der Beichtvater kam, weinte Frau von Saverne heftig und nannte ihn einen Propheten. Er zeigte ihr ein Geldstück mit König Ludwigs Bilde, sie mochte es nicht ansehen. «Unter der dreifachen Krone ist besser wohnen als unter der einfachen», sagte der Mönch, «ich weiß alles; ein Bruder, der Sie in Paris aufsuchte, aber zu spät kam, hat mir alles berichtet; führen Sie die Herren heute abend nach dem Kloster, sagen Sie ihnen, daß ich in meiner Kirche die Ehe nach hier gewöhnlichem Gebrauche noch heute einsegnen wolle; sagen Sie mir kein Wort dagegen, Sie können denken, daß ich Sie lieber dem Teufel als einem dieser Bösewichter vermählen würde; aber ich will nicht nur die guten Herren, ich will auch Sie überraschen.»

Wie war der Bräutigam so froh, als er die Nachricht von der nahen Vermählung erhielt, zugleich erzählte er, daß er Hoffnung habe, die Polizei in Avignon auf französischen Fuß einzurichten, er versprach dem Doktor schon die Medizinal-Aufsicht über das ganze Ländchen. Wie ging er so stattlich neben der schönen Frau in das Kloster und sprang zum Beichtstuhl, als ob es ein Unterbureau der Polizei sei. Wie wußte er so gar keine Sünde von sich dem Beichtvater zu beichten, die Geschichte mit der Frau von Saverne nannte er eine wohlgelungene Zärtlichkeit; ihm wurden dafür sechs Vaterunser an einem dunklen Orte zu beten aufgegeben. «Er meint, ich bin ein Kind», sagte er vor sich hin, «daß mich ein dunkler Ort schrecken könnte!» Er lachte fast, als er den Doktor noch zur Gesellschaft in der dunklen Kammer bekam. Sie traten in einen Verschlag, der nach Eseln roch, eine Tür wurde hinter ihnen zugeschlossen. «Hier mag schon mancher Esel gebetet haben», scherzte der Doktor, «ich singe den Marlborough sechsmal statt dessen. Aber was ist das», sagte der Doktor, «der Boden bewegt sich, Hilfe, Hilfe!» – «Ein Erdbeben», rief der Nußknacker. Aber unaufhaltsam schneller mit jedem ihrer Schritte bewegte sich der Boden fort, sie selbst trieben ihn zur Bewegung, denn sie standen im Tretrade der Ölmühle des Klosters, in der sonst mehrere Eselpaare sich in dem Geschäfte ablösten. Sie mußten laufen, um nicht überzufallen; die Mühle regte sich, und wie alles in schönster Bewegung war, die beiden atemlos keuchten, erhellte sich alles durch das Gitter der Mühlenseite. Der Beichtvater stand da mit Frau von Saverne und fragte, ob sie mit ihrem Gebete noch nicht fertig wären? Frau von Saverne sagte, wenn sie länger auf ihren Bräutigam warten sollte, da nähme sie lieber einen andern Mann, der sie gegen List, Gewalt und Langeweile schütze. Der Nußknacker wollte antworten, aber in dem schrecklichen Laufen brachte er nur wilde, lächerliche Töne zusammen; die Mönche in der Mühle tanzten lachend umher, sie sahen in der Sache nur den Scherz, nicht das Leiden der armen Saverne, das von dem Beichtvater so passend gerächt wurde. «Wenn das nicht hilft, so sind Sie unheilbar dumm», rief er zum Doktor; «wenn Sie das nicht bessert», sagte er zum Nußknacker, «so sind Sie unheilbar böse.» – Jetzt erschien ein junger Offizier, der Bruder des Beichtvaters, von welchem er der Frau von Saverne vorgestellt wurde. Sie verwunderte sich, errötete und sprach: «Wir kannten uns wohl, aber warum ließen Sie nichts von sich hören nach dem Tode meines Mannes? Solange er lebte, konnte ich freilich ihre Zudringlichkeit nicht dulden.» – «Ich glaubte, daß Sie mich haßten», sagte der Offizier, «und wagte nicht, mich ihnen wieder zu nahen.» – «Die Bescheidenheit war dumm», sagte der Beichtvater, «ihr wolltet beide mich nicht hören und habt beide viel darum gelitten, folgt mir jetzt und vermählt euch heute zur Buße, wenn der Herr da keine Einwendung macht.» – Der Mann im Tretrade schrie: «Nein! Nein!» – «Er will es noch nicht zugeben», sagte der Beichtvater, «er muß noch länger treten.» – «Ja, ja, geb's zu!» brachte der Nußknacker heraus. – «Wohlan», rief der Beichtvater, «die gnädige Frau ergibt sich in ihr gutes Schicksal, ihr beiden Sünder sollt Zeugen ihres Glückes sein und noch heute abend von unsern Landreitern über die Grenze gebracht werden, wenn Frau von Saverne sich von allen ihren Leiden ausruht. Als Dank für eure Bemühung erhaltet ihr die zu Versailles zurückgelassene Büste, wir wollen statt derselben das Bild des heiligen Petrus in das Zimmer der gnädigen Frau stellen.»

Wie kamen die beiden Zeugen aus dem Rade zum Vorschein! Wie war dem Nußknacker sein seidner Hochzeitstaat zerplatzt! Der Doktor gestand, daß er nun erst wisse, warum den Wahnsinnigen die Drehmaschine so unbequem sei, er wolle sie nie wieder brauchen.

Die Hochzeit der Frau von Saverne, die Fortschaffung der beiden Zwangzeugen über die päpstliche Grenze erfolgte, wie es der Beichtvater eingerichtet und angezeigt hatte. «Nun», sagte er am andern Morgen zur Schwägerin, «die Polizei eines Beichtvaters ist doch wohl noch erträglicher als die Polizei gewissenloser Staatsbeamten? Unsre Fasten sind doch noch erträglicher als die Mittelchen, die so ein Doktor für andre erfindet, ohne sie je an sich zu versuchen.» – Möchten doch alle Scharlatans, alle Gesetzgeber die Wirkung ihrer dummen Einfälle so an sich erst einmal versuchen, wie diese Herren, ehe sie damit alle Welt in Versuchung und Verzweiflung führen!

 


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