Marie-Joseph Chénier

* 11.12.1764 in Konstantinopel
† 10.01.1811 in Paris

In Deutschland praktisch unbekannt und auch in Frankreich heute nur noch ein Name im Schatten seines anderthalb Jahre älteren Bruders André, galt Chénier um 1795 als bedeutendster Dramatiker seiner Generation und auch mit seiner Lyrik als wichtiger Autor. Seine durchweg politisch motivierte und intendierte literarische Produktion spiegelt über mehr als 20 Jahre hinweg sehr direkt die Geschichte der Revolutionszeit.

Chénier wurde geboren im heutigen Istanbul als Sohn eines dort zum Geschäftsmann gewordenen französischen Adeligen und einer Angehörigen der damals noch starken griechischen Minderheit der Stadt. 1765 ging die Familie wegen schlechter Geschäfte des Vaters nach Frankreich, zunächst nach Paris, wo sie sich kurz danach vorübergehend auflöste. Denn während die Mutter mit den drei größeren Kindern in Paris blieb, entschwand der Vater für mehrere Jahre in die marokkanische Hafenstadt Salé, wo er den Posten des französischen Konsuls erhalten hatte. Marie-Joseph und André wurden zu einem Onkel in Carcassonne in Pflege gegeben. 1773 kamen beide wieder nach Paris, wo sie am Collège de Navarre eine solide humanistische Bildung erhielten und im Salon ihrer geistig interessierten Mutter Literaten, Künstler und Gelehrte kennen lernten.

1781, also eben fünfzehnjährig, begann Chénier eine militärische Karriere als Kadett in einem Dragoner-Regiment in Niort. Zwei Jahre später entschloss er sich um, ging wieder nach Paris zu seiner Familie und folgte seinen literarischen Neigungen, ganz wie sein Bruder André, der im selben Jahr einen noch kürzeren Versuch bei einem Regiment in Straßburg abgebrochen hatte.

Schon 1785 bekam Marie-Joseph Chénier, dank der Vermittlung des mit der Familie befreundeten Dramatikers Palissot, sein erstes Stück aufgeführt, die heroische Komödie »Edgar, roi d'Angleterre, ou Le Page supposé«. Es fiel aber durch, ebenso 1787 sein zweites Stück, die Voltaire imitierende Tragödie »Azémire«.

1788 stellte Chénier sein nächstes Stück fertig: die in der berüchtigten Bartholomäusnacht 1572 spielende historische Tragödie »Charles IX ou La Saint-Barthélemy« (1790 gedruckt und 1797 umgearbeitet zu »Charles IX ou L'École des rois«). Es wurde zwar von der Comédie Française angenommen, jedoch von der Zensur nicht freigegeben. Denn die Figuren (ein wankelmütiger König, eine ihn manipulierende Königin, ein machtgieriger hochadeliger Höfling, ein skrupellos die Interessen der Kirche verfolgender Kardinal, ein rechtschaffener, aber machtloser Kanzler bürgerlicher Herkunft und ein am Ende ermordeter Philosoph und Reformer) verkörperten gar zu offenkundig politische Akteure im Frankreich der Zeit, wo mit der Einberufung der Generalstände im August 1788 die Revolution eingesetzt hatte. Erst Ende 1789, nach langen in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen über die Freiheit des Theaters, in die Chénier selbst mit zwei Streitschriften eingriff, und in einer politischen Situation, die, nach dem Zusammentreten der Generalstände, dem Auszug des Dritten Standes im Juni 1789, der Etablierung der Assemblée nationale und dem Sturm auf die Bastille im Juli desselben Jahres, stark verändert war, konnte das Stück aufgeführt werden. Es erlebte nun, auch an Provinztheatern, einen triumphalen Erfolg und wurde zum meistgespielten, naturgemäß auch heftig angefeindeten französischen Drama der frühen 1790er Jahre. In der Titelrolle begründete der Schauspieler François Talma seinen Ruhm.

Ähnlich wie dem »Charles IX.« erging es Anfang 1789 einem weiteren Stück Chéniers, »Henri VIII. ou La Tyrannie«, das ebenfalls von der Comédie Française angenommen wurde, aber von der noch intakten Zensur nicht freigegeben wurde wegen der Darstellung eines (wenn auch englischen) Königs als autokratischer »Tyrann«.

1790 verfasste Chénier die ebenfalls politisch motivierte Tragödie »Brutus et Cassius ou les derniers Romains«, eine Bearbeitung von Shakespeares Julius Caesar. Das Stück um die Ermordung des angehenden Monarchen durch überzeugte Republikaner blieb jedoch unaufgeführt. Literarhistorisch ist es interessant als einer der vielen Versuche, Shakespeare nach den Regeln der klassischen französischen Tragödie zu glätten und so den Franzosen akzeptabel zu machen.

Im April 1791 wurde endlich der »Henri VIII.« aufgeführt, allerdings im Théâtre de la République, das kurz zuvor von Talma und radikal-revolutionären Kollegen aus der Comédie Française ausgegründet worden war.

Hier kam zwischen 1791 und 94, teils mehr, teils weniger erfolgreich, eine ganze Serie historischer Tragödien Chéniers zur Aufführung, die sämtlich politisch motiviert waren und sich kaum verschlüsselt auf jeweils aktuelle Ereignisse und Entwicklungen der bewegten Zeit bezogen: Es waren 1792 das die Willkürjustiz des Ancien Régime anprangernde »Jean Calas ou L’École des juges« und das den tragischen römischen Volkstribun verherrlichende »Caius Gracchus«, 1793 das die Auflösung der Klöster rechtfertigende »Fénelon ou Les Religieuses de Cambrai« und 1794 »Timoléon«.

Politisch intendiert wie seine Stücke war auch der größte Teil der umfangreichen Gelegenheits- bzw. Gebrauchslyrik, die Chénier Anfang der 1790er Jahre zu vielerlei Anlässen verfasste, insbessondere für die öffentlichen Feiern und Feste, an deren Organisation er mitwirkte. Hierzu gehören z.B. eine »Ode sur la mort de Mirabeau« (1791), die »Strophes qui seront chantées au Champ de la Fédération le 14 juillet 1792«, eine »Hymne sur la translation du corps de Voltaire«, eine »Hymne à l'Être suprême« (1793), ein »Chant des Sections de Paris« (1793), eine »Hymne à la liberté, pour l'inauguration de son temple dans la commune de Paris« (1793), die »Hymne du 10 août« (1794), usw.

Der bekannteste dieser Texte, die von verschiedene Komponisten vertont wurden, wurde der »Chant du départ«, den Chénier im Kriegsjahr 1793 anlässlich des Ausrückens von Revolutionsarmeen verfasste.

Spätestens 1791 wurde Chénier auch direkt politisch aktiv. Im Gegensatz zu Bruder André, der die Revolution mit der Etablierung der konstitutionellen Monarchie als erfolgreich beendet betrachtete, wurde er Mitglied im radikalrepublikanischen »Club« - einer Art Partei - der Jakobiner. 1792 wurde er als Abgeordneter in die Convention nationale gewählt (Nationalkonvent), wo er dem Ausschuss für Volksbildung angehörte. Auf seinen Antrag wurde die Einrichtung von Primarschulen beschlossen; 1793 war er maßgeblich beteiligt an der Auflösung der königlichen Akademien (u.a. der Académie Française). Naturgemäß gehörte er Ende 1792 auch zur Mehrheit der Abgeordneten, die das Todesurteil für König Louis XVI. befürworteten.

Während der anschließenden Radikalisierung der Revolution im diktatorischen Terrorregime Robespierres (1793/94) geriet Chénier ins politische Abseits. Sein Stück »Timoléon« wurde vom Diktator als gegen ihn gerichtet erachtet und verboten. Auch hatte er nicht mehr den nötigen Einfluss, um für seinen im März 1794 inhaftierten Bruder André eintreten und dessen Köpfung am 25.07.1794 verhindern zu können.

Als nach dem Sturz Robespierres Ende Juli 1794 sich das Regime des Directoire (1795) etablierte, wurde Chénier zum Mitglied des Conseil des cinq cents ernannt, einer der beiden Kammern des neugeschaffenen Parlaments. Eine bedeutendere politische Karriere blieb ihm allerdings versagt, weil er die restaurativen Tendenzen zu bekämpfen versuchte, die unter dem Directoire einsetzten und in den Folgejahren an Kraft gewannen.

Bei der Gründung der Nachfolgeorganisation für die aufgelösten ehemaligen Akademien, des Institut de France (1795) gelang es ihm, einen Platz in dessen dritter »Klasse« (Literatur und schöne Künste) zu erhalten.

Als 1795 der »Timoléon« wieder aufgenommen wurde, sahen Gegner Chéniers darin das verschlüsselte Eingeständnis einer Schuld am Tod seines Bruders Andrérobespierre03. Chénier wehrte sich mit den leidenschaftlichen Versen der »Épître sur la calomnie« (1796), die vielen als sein Meisterwerk gilt.

Unter dem Regime des Consulat, das 1799 auf das Directoire folgte, wurde er zum Mitglied des Tribunats berufen, einer der beiden Kammern des nächsten neuen Parlaments.

1801 machte er Front gegen das Wiedererstarken des Katholizismus unter dem neuen starken Mann Napoléon Bonaparte, der den Ausgleich mit der Kirche suchte. Er attackierte die Galionsfiguren dieser Entwicklung, insbesondere Chateaubriand, mit den satirischen Schriften »Le docteur Pancrace« und »Les nouveaux saints«. 1802 griff er mit der »Petite épître à Jacques Delille« den damals sehr bekannten Lyriker Delille an, der vom Revolutionär zum Konservativen mutiert war und sich in seinen Augen dem neuen Herrn opportunistisch andiente.

Trotz seiner wachsenden inneren Distanz zu Napoléon wurde Chénier 1803 zum Generalinspekteur der »Université« ernannt, d.h. des unter diesem Namen neu geschaffenen Gesamtsystems des französischen Bildungswesens.

Sein Drama »Cyrus«, das 1804 von Napoléon zu dessen Kaiserkrönung bestellt und in diesem Rahmen aufgeführt wurde, kam weder beim Publikum an, noch gefiel es dem neuen Kaiser selbst, der Chéniers verdecktes Plädoyer für eine republikanische Staatsform wenig goutierte. Es wurde nur einmal aufgeführt.

Nachdem Chénier sich 1805 in seiner »Elegie La Promenade« erneut als Republikaner geoutet und 1806 in einer »Épître à Voltaire« Napoléon indirekt vorgeworfen hatte, die Ideale der Revolution zu verraten, wurde er seines Amtes als Inspekteur enthoben. Immerhin wurde ihm eine auskömmliche Pension gewährt.

In den Folgejahren schrieb er weitere Stücke, die aber weder aufgeführt noch gedruckt wurden: die Tragödien »Philippe II, Œdipe roi« und »Œdipe à Colone«, nach Sophokles und das Drama »Nathan le Sage« nach Lessings Vorlage »Nathan der Weise« und die Komödie »Ninon«.

Daneben hielt er in den Jahren 1806/07 am Pariser Athéneé eine Vorlesungsreihe über die Literatur seiner Zeit, das »Tableau historique de l'état et du progrès de la littérature française depuis 1789 jusqu'à 1808«, in dem er die Ideale der Aufklärung verfocht und die beginnende Romantik kritisierte.

1811 wurde das historische Stück »Tibère«, wo er, in der Figur des römischen Kaisers Tiberius, Napoléon kritisierte, sein letztes Werk.

Sein freigewordener Sessel im Institut de France fiel an Chateaubriandchateaubriand, der ihn als Vergeltung für die Attacken von einst in seiner Laudatio praktisch unerwähnt ließ.

Da fast alle Texte Chéniers in einem bestimmten weltanschaulichen Sinne zweckbestimmt waren, d.h. die zeitgenössischen Zuschauer, Hörer und Leser gegen die Monarchie und für die Republik einzunehmen versuchten, wurden sie noch zu Lebzeiten des Autors durch den Gang der politischen Entwicklung obsolet. Auch die spätere Literaturgeschichtsschreibung, die eher am Idealbild einer zweckfreien, apolitischen Literatur orientiert war und ist, hat Chénier trotz dieses oder jenen Versuchs einer Ehrenrettung nicht den Platz in der Literaturgeschichte gewährt, den er aufgrund seiner großen Bedeutung zu einem gewissen Zeitpunkt verdient.

Lyrik:

  • Épître à mon père, 1787
  • La Mort du duc de Brunswick, (Ode), 1787
  • Poème sur l'assemblée des notables, 1787
  • Dialogue du public et de l'anonyme, 1788
  • Le Ministre et l'Homme de lettres, dialogue, 1788
  • Courtes réflexions sur l'état civil des comédiens, 1789
  • Dénonciation des inquisiteurs de la pensée, 1789
  • Idées pour un cahier du tiers-état de la ville de Paris, 1789
  • De la Liberté du Théâtre en France, 1789
  • Dithyrambe sur l'Assemblée nationale, 1789
  • Épître au Roi, 1789
  • Lettre à M. le comte de Mirabeau sur les dispositions naturelles, nécessaires et indubitables des officiers et des soldats français et étrangers, 1789
  • Hymne pour la fête de la Fédération, le 14 juillet 1790
  • Ode sur la mort de Mirabeau, 1791
  • Opinion sur le procès du Roi, 1792
  • Strophes qui seront chantées au Champ de la Fédération le 14 juillet 1792, musique de François-Joseph Gossec
  • Hymne sur la translation du corps de Voltaire, musique de François-Joseph Gossec, 1793
  • Hymne à l'Être suprême, 1793
  • Chant des Sections de Paris, 1793
  • Hymne à la liberté, pour l'inauguration de son temple dans la commune de Paris, 20 brumaire an II, musique de Gossec
  • L'Hymne du 10 août, musique de Charles Simon Catel
  • Le Triomphe de la République
  • Le Chant du Départ, musique d'Étienne Nicolas Méhul, 1794
  • Ode à la Calomnie, en réponse à la ╗Queue de Robespierre«, 1794
  • Hymne à la Raison, 1794
  • Chant des Victoires, 1794
  • Ode sur la situation de la République française durant l'oligarchie de Robespierre, 1794
  • Hymne du 9 thermidor, 1795
  • Le Docteur Pancrace, satire, 1796
  • Épître sur la calomnie, 1796
  • Le Vieillard d'Ancenis, poème sur la mort du général Hoche, 1797
  • Hymne pour la pompe funèbre du général Hoche, 1797
  • Le Chant du Retour, 1797
  • Pie VI et Louis XVIII., 1798
  • Discours sur les progrès des connaissances en Europe et de l'enseignement public en France, 1800
  • Les Nouveaux Saints, 1800
  • Les Miracles, conte dévot, 1802
  • Petite épître à Jacques Delille, 1802
  • Les Deux Missionnaires, 1803
  • Discours en vers sur les poèmes descriptifs, 1805
  • La Promenade, 1805
  • Epître à Voltaire, 1806
  • La Retraite, 1806
  • Hommage à une belle action, 1809
  • Tableau historique de l'état et des progrès de la littérature française depuis 1789, 1818
  • Épître à Eugénie
  • Épître d'un journaliste à l'Empereur

Theaterstücke:

  • Edgar, ou le Page supposé, drame en 2 actes, Paris, Comédie-Française, 1785
  • Azémire, tragédie représentée à Fontainebleau le 4 novembre 1786 et à la Comédie-Française le 6 novembre 1786
  • Charles IX, ou la Saint-Barthélemy, tragédie en 5 actes, Paris, Comédie-Française, 4 novembre 1789, rebaptisée ultérieurement Charles IX, ou l'école des rois.
  • Brutus et Cassius ou les derniers Romains, tragédie (1790, non représentée) : tentative d'adapter le Julius Caesar de Shakespeare aux canons de la dramaturgie classique.
  • Henri VIII, tragédie en 5 actes, Paris, théâtre de la République, 27 avril 1791 : c'était la tragédie préférée de son auteur ; elle pêche par les mêmes défauts que les autres – intrigue peu intéressante, caractères mal dessinés – mais offre davantage de pathétique, notamment dans le personnage d'Anne Boleyn.
  • Jean Calas, ou l'école des juges, tragédie en 5 actes, Paris, théâtre de la République, 6 juillet 1791 : du début à la fin, cette pièce assez ennuyeuse n'offre que le spectacle de la vertu opprimée par un fanatisme tout-puissant. Elle ne fut jouée que trois fois.
  • Caius Gracchus, tragédie en 3 actes, Paris, théâtre de la République, 9 février 1792 : le personnage principal est un peu plus fortement tracé qu'à l'accoutumé dans les pièces de Chénier et on relève quelques belles tirades, mais l'action est inexistante.
  • Le Camp de Grand-Pré, ou le triomphe de la République, divertissement lyrique en 1 acte, Paris, Académie de musique, 27 janvier 1793, musique de François-Joseph Gossec, chorégraphie de Pierre-Gabriel Gardel : Ce divertissement, composé à l'automne 1792, est destiné à célébrer la bataille de Valmy. Il fut représenté à l'Opéra avec un succès limité.
  • Fénelon, ou la Religieuse de Cambrai, tragédie en 5 actes, Paris, théâtre de la République, 9 février 1793 : la pièce connut le succès grâce à l'interprétation de Fénelon par Monvel.
  • Timoléon, tragédie en 3 actes avec des chœurs, musique d'Étienne Nicolas Méhul (1794)
  • Cyrus, tragédie (1804)
  • Tibère (1819), tragédie en cinq actes, représentée pour la première fois en 1844 : sans doute le chef d'œuvre dramatique de Marie-Joseph Chénier.
  • Philippe II, tragédie en 5 actes.
  • Œdipe roi, tragédie en 5 actes avec chœurs, imitée de Sophocle.
  • Œdipe à Colone
  • Nathan le Sage, drame en 3 actes, imité de Lessing.
  • Les Portraits de famille, comédie.
  • Ninon, comédie.

Letzte Änderung der Seite: 06. 08. 2023 - 17:08